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Corona | "Freedom Days" in Skandinavien: Schuss kann nach hinten losgehen


Skandinavien hebt Corona-Einschränkungen auf
Dieser Schuss kann nach hinten losgehen


01.10.2021Lesedauer: 5 Min.
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Konzert in Dänemark: Das skandinavische Land hat seinen "Freedom Day" am 10. September gefeiert.Vergrößern des Bildes
Konzert in Dänemark: Das skandinavische Land hat seinen "Freedom Day" am 10. September gefeiert. (Quelle: Olafur Steinar Rye Gestsson/imago-images-bilder)

Die Corona-Infektionszahlen in Skandinavien sind ähnlich hoch wie bei uns. Dennoch feiern Schweden und Norweger

In einigen Staaten ist es ein Grund zum Feiern: Nach den düsteren Monaten der Corona-Einschränkungen und der Lockdowns kehren sie zur Normalität zurück. Den besonderen Tag, an dem alle Maßnahmen weitestgehend aufgehoben wurden, nannten die Briten "Freedom Day". Einige andere europäische Länder folgten dem Beispiel, darunter auch Dänemark, Norwegen und Schweden: Dort gibt es keine Abstandsregeln und Personenbeschränkungen mehr, es ist kein Impf- oder Testnachweis mehr erforderlich.

Die Bevölkerung in Deutschland schaut mit einem Gefühlsmix aus Verwunderung, Neid und Sorgen nach Skandinavien. Wann gibt es einen "Freedom Day" in der Bundesrepublik? Darüber wird auch hierzulande diskutiert, spätestens seitdem Kassenärzte-Chef Andreas Gassen einen deutschen Freiheitstag ins Gespräch gebracht hat. Dabei ist eines offenbar klar: Die komplette Aufhebung der Maßnahmen in den kommenden Herbst- und Wintermonaten ist schlicht nicht realistisch. Die Gefahr einer neuen Corona-Welle ist zu groß.

Für einen "Freedom Day" wie in anderen Ländern sei in Deutschland die Impfquote noch nicht hoch genug, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach mahnte auf Twitter: "Ein 'Freedom Day' macht noch keinen Sinn. (...) Wir werden auch in Deutschland in den nächsten Wochen wieder steigende Fallzahlen bekommen. Wir haben zu viele Ungeimpfte."

Wie rechtfertigen die Länder die Strategie?

Die Menschen in zwei skandinavischen Ländern feiern Freiheitstage, obwohl die aktuellen pandemischen Rahmenbedingungen ähnlich wie in Deutschland sind. In Schweden und Norwegen ist die Impfquote nur geringfügig höher als in in der Bundesrepublik. In Schweden sind 70 Prozent der Bevölkerung einmal geimpft, 64 Prozent haben den vollen Schutz. In Norwegen sind immerhin 76 Prozent mit einer ersten Dosis versorgt, vollständig geimpft jedoch auch erst 66 Prozent (Stand 30. September). Zum Vergleich: Deutschland verzeichnet derzeit 68 Prozent Erst- und 64,4 Prozent Zweitimpfungen.

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Und auch die Inzidenzen sind in den beiden nordeuropäischen Ländern nicht auffällig niedrig. In Norwegen (rund 88) ist sie sogar höher als in der Bundesrepublik (rund 60). In Schweden liegt sie bei etwa 41 (Stand 30. September) – Tendenz sinkend.

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Anders sieht es in Dänemark aus. Dort feierten die Bürger bereits am 10. September den "Freedom Day". Die Inzidenz beträgt ähnlich wie in Deutschland 66. Die dänische Regierung begründete das Ende der Corona-Regeln mit der sehr hohen Impfquote: Drei Viertel der Gesamtbevölkerung sind vollständig geimpft, bei den Bürgern ab 12 Jahren sind es sogar fast 85 Prozent. Damit gehört das Land zu den Spitzenreitern in Europa.

Großes Vertrauen in skandinavischen Ländern

Während Dänemark als Vorbild für eine gelungene Impfkampagne in Europa gilt, sind die Öffnungsstrategien in Schweden und Norwegen zumindest nicht unumstritten. Warum lockern sie dennoch?

"In Dänemark, Norwegen und Schweden haben die Regierungen die Corona-Maßnahmen aufgehoben, weil sie den Bürgern vertrauen. In gewisser Weise kann die Öffnung zum jetzigen Zeitpunkt auch als Dank der Regierungen an die Bürger verstanden werden", sagt Nordeuropa-Experte Tobias Etzold zu t-online. Vertrauen beruhe in den Ländern auf Gegenseitigkeit, das sei auch bei der Impfkampagne ersichtlich. Man habe konsequent auf Aufklärung gesetzt, über die Risiken, aber vor allem die Vorteile der Impfung. Corona-Leugner und Impfgegner seien in den Medien und in der Öffentlichkeit kaum präsent – anders als in Deutschland.

Tobias Etzold ist Politikwissenschaftler und Nordeuropa-Experte und arbeitet an der Norwegian University of Science and Technology (NTNU) im norwegischen Trondheim.

"Das große Vertrauen in die Regierung ist in den skandinavischen Ländern traditionell bedingt. Die Menschen vertrauen dem Staat, aber der Staat vertraut eben auch den Menschen und deswegen ist auch nicht alles, wie wir es in Deutschland kennen, ins Detail geregelt", meint Politikwissenschaftler Etzold. Es gebe in allen Lebensbereichen konkrete Regeln, aber man lasse den Bürgern auch eine gewisse Freiheit. "Das ganze System in Skandinavien ist relativ liberal."

Das habe zur Folge, dass viele Maßnahmen der Regierungen größtenteils kaum hinterfragt wurden. Das gilt sowohl für Norwegen und Dänemark, die auf sehr strenge Corona-Maßnahmen setzten, als auch für Schweden, wo die Maßnahmen wesentlich lockerer waren und von vornherein größtenteils auf Freiwilligkeit beruht haben. "In allen drei Ländern haben sich die Menschen weitgehend daran gehalten", so Etzold.

Hohes Risiko durch Lockerungen

Dennoch hat Experten der "Freedom Day" in Norwegen überrascht, weil die Inzidenzen im August noch einmal stark angestiegen sind. Die Bürger haben unterschiedlich darauf reagiert, weil das Ende der Maßnahmen nur einen Tag vorher angekündigt worden sei, sagt Etzold. Das hatten besonders Kneipen- und Klubbetreiber stark kritisiert, weil diese kaum Zeit hatten, sich auf den Ansturm richtig vorzubereiten. "Die sind wirklich an ihre Grenzen gekommen, das hat zu unschönen Szenen in den Innenstädten geführt", sagt der Politikwissenschaftler. Er verweist etwa auf Massenschlägereien. Die jetzige norwegische Regierung scheide bald aus dem Amt und hätte mit den Lockerungen wohl eigentlich noch einmal ein politisches Zeichen setzen wollen.

Unklar zu diesem Zeitpunkt ist, welche epidemiologischen Konsequenzen die Freiheitstage haben. Wurde zu früh gelockert? Aufgrund der hohen Impfquote rechnet die Regierung in Dänemark nicht mit vielen schweren Krankheitsverläufen. Aber Experte Etzold macht deutlich: "Der Schuss kann nach hinten losgehen." Nicht alle Risikopatienten seien vollständig geimpft. Zudem könnten nun alle Menschen ausnahmslos wieder feiern – ob geimpft oder nicht. Das stellt ein großes Risiko dar. Auch viele Migranten, die auf engem Raum zusammenleben, sind nicht geimpft, sagt Etzold. "Die hat die Regierung teilweise nicht erreicht, da gibt es Nachholbedarf."

In allen drei Ländern gilt jedoch auch die Prämisse: Sobald die Belegung der Kliniken und Intensivbetten in einen gefährlichen Bereich kommt, werden kurzfristig wieder Maßnahmen zur Eindämmung des Virus verhängt. "Die Einschränkungen haben die Regierungen unter einem gewissen Vorbehalt aufgehoben", sagt Etzold. "Sie wollen die Entwicklungen weiterhin wachsam verfolgen." Die Dänen, Norweger und Schweden haben demnach erst einmal vorläufig ihre Freiheit zurück.

Experte rät Deutschland weiterhin zu Schritt-für-Schritt-Lockerungen

Während die skandinavischen Länder feiern, tastet sich Deutschland weiter vorsichtig an Lockerungen heran. "Für Deutschland wäre eine schrittweise Aufhebung der Maßnahmen ein Weg und kein ultimativer 'Freedom Day'", so Etzold. "So ist es in den skandinavischen Ländern im Prinzip auch gelaufen." Deutschland könne dabei auch die differenzierte, regionale Strategie aus Skandinavien übernehmen: "Wo ergibt es Sinn und wo ist es tatsächlich notwendig, zu schließen und wo kann man ein Restrisiko in Kauf nehmen?".

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Die nordischen Länder haben laut dem Experten auch bezüglich der Schulen einen pragmatischen Ansatz gewählt, von dem Deutschland lernen könnte. In Schweden seien die Grundschulen die ganze Zeit geöffnet gewesen und in Dänemark und Norwegen habe man die Schulen im Mai letzten Jahres wieder geöffnet – und größtenteils in Betrieb gelassen, sagt Etzold. "Hinsichtlich der sozialen und psychischen Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche hat man versucht, denen so weit wie möglich Normalität zu erlauben." Das sei ein großer Unterschied zu Deutschland.

Der "Freedom Day" bedeutet nicht nur die Aufhebung der Corona-Maßnahmen, sondern auch ein Ende der Diskussionen über 2G- oder 3G-Regelungen. In Deutschland können die Menschen zwar teilweise wieder ohne Abstand und Maske feiern – aber von absoluter Normalität kann noch nicht die Rede sein. Experten sind sich weitestgehend einig: Dafür müsste die Impfquote vor den Herbstmonaten noch einmal deutlich ansteigen. Bis dahin müssen die Menschen in Deutschland wohl zuschauen, wie in anderen Ländern Freiheitstage gefeiert werden.

Verwendete Quellen
  • Impfstatistik der dänischen Regierung
  • Our World in Data
  • Nachrichtenagentur dpa
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