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25 Jahre Mauerfall: Burkhart Veigel schleuste 650 Menschen in den Westen


Der mutige Held
König der Fluchthelfer, Schrecken der Stasi

t-online, Von Lukas Martin

Aktualisiert am 28.10.2014Lesedauer: 7 Min.
Burkhart Veigel im Jahr 1965 - damals arbeitete er fast rund um die Uhr, um DDR-Bürgern die Flucht in den Westen zu ermöglichenVergrößern des BildesBurkhart Veigel im Jahr 1965 - damals arbeitete er fast rund um die Uhr, um DDR-Bürgern die Flucht in den Westen zu ermöglichen (Quelle: Privat/Imago)
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Burkhart Veigel hat hunderte DDR-Bürger über die am besten gesicherte Grenze der Welt geschleust: Hinter dem Armaturenbrett eines Cadillacs, durch Tunnel und mit falschen Identitäten direkt unter den Nasen der Grenzer hindurch. Die Stasi versuchte ihn zu entführen, die DDR-Justizministerin wollte seinen Tod. Es ist die Geschichte eines schwäbischen Medizinstudenten, der zu einem der erfolgreichsten deutsch-deutschen Fluchthelfer wurde.

Er sei einfach kein ängstlicher Typ, sagt der heute 73-Jährige Burkhart Veigel und gerät ins Nachdenken. "Doch, es gab eine Situation, da muss ich Angst gehabt haben“, erzählt er. "Ich lag am Grenzzaun auf der DDR-Seite, als ich zwei Volkspolizisten in 20 Meter Entfernung bemerkte. Ich konnte mich gerade noch in eine vielleicht zehn Zentimeter tiefe Mulde hineinschieben und hoffte, dass mich meine grüne Hose und Jacke tarnten. Auf der anderen Seite war ein drei Meter hoher Bahndamm, den wäre ich niemals hochgekommen, ohne dass sie mich mit ihren Kalaschnikows erwischen - ich konnte mich aber auch nicht ergeben: Ich wusste, dass sie mich dann zum Tod verurteilen.“

Veigel hörte, wie sich die Grenzer näherten und mit einer Stange gegen den Zaun schlugen. "Dann spürte ich die Vibration ihrer Stiefel - und wie sie sich quälend langsam wieder entfernten. Als ich endlich aufstand, schoss mir ein Liter Schweiß vom Rücken in die Hose. Ich habe das in dem Moment ganz nüchtern registriert: Aha, das passiert also, wenn man Todesangst hat.“

900 Seiten Stasi-Akten über Veigel

Ohne seine Abgebrühtheit hätte er es vermutlich auch nicht geschafft, den riesigen DDR-Sicherheitsapparat, die Staatssicherheit (Stasi), hunderte von Male aufs Kreuz zu legen. "Die Stasi hatte 15.000 Seiten Akten angelegt, die mit mir zu tun haben. 900 Seiten handeln nur von mir.“ Veigel ist allerdings auch nicht der Typ, der sich dafür auf die Schulter klopft: "Ich wollte den Menschen helfen, ich fühlte aber auch die Pflicht dazu. Und wenn man ständig in Gefahr lebt, kann man sich auch an die Gefahr gewöhnen.“

Seine Karriere als DDR-Staatsfeind begann am 30. Oktober 1961: Ein Studienkollege an der Freien Universität in Berlin sprach Veigel an, ob er nicht auch dabei helfen wolle, Kommilitonen in den Westen zu bringen. "Sie konnten im Osten nicht weiterstudieren, sie sollten sich zuerst einige Jahre in der Produktion bewähren“, erklärt Veigel.

"Unglaubliche Stimmung“ nach dem Mauerbau

Am 13. August 1961 gab es über 50.000 Grenzgänger, die im Westen gearbeitet oder eine Ausbildung gemacht hatten, aber im Osten wohnten – davon über 1000 Studenten und 1500 Schüler. Veigel sagte sofort zu: "Wir hatten eine unglaubliche Wut auf diese Mauerbauer, die ihre Bevölkerung einkerkern. Alle haben nur darauf gewartet, dass die Russen kommen und Westberlin einnehmen, dann die Bundesrepublik. Deshalb gab es in Berlin eine unglaubliche Stimmung. Eine Solidarität zwischen Bevölkerung, Politik und Presse, die ich später nie wieder erlebt habe.“

Die 50.000 getrennten Berliner Familien konnten nicht einmal offen miteinander korrespondieren, denn die Stasi untersuchte 90.000 Briefe pro Tag. "Ich hatte den Eindruck, dass jeder Westberliner die Mauer sofort eingerissen hätte, hätte er die Chance dazu gehabt.“ Am Abend des 30. Oktober schaffte er seinen ersten Flüchtigen über die Grenze – dieses Erlebnis zog ihn in einen Strudel: Bald sollte er nur noch zwei Stunden am Tag schlafen, die restlichen 22 arbeitete er daran, möglichst viele DDR-Bürger in den Westen zu bringen.

Läufer im Unternehmen Reisebüro

Der 23-jährige Veigel agierte zunächst als "Läufer“ der sogenannten Girrmann-Gruppe, auch bekannt unter dem Namen "Unternehmen Reisebüro“, rund um Detlef Girrmann, Dieter Thieme und Bodo Köhler, die im Studentenwerk der Freien Universität Berlin entstand. Seine Aufgabe war es, westdeutsche Ausweise (zehn Tage nach dem Mauerbau verbot die DDR Westberlinern die Einreise nach Ostberlin) in den Osten zu schmuggeln, mit denen ähnlich aussehende Ostberliner dann ausreisen konnten. Mit der Zeit wurden die Fluchthelfer immer geschickter im Fälschen der Pässe und es gelang ihnen, Bilder in den Ausweisen auszutauschen und mit einem Stempel zu versehen. In ihren Akten zeigt sich die Stasi beeindruckt und nennt die Ergebnisse "professionell“.

Mit der Zeit verlegten sich die Fluchthelfer dann auf ausländische Pässe, weil für Deutsche inzwischen ein Passierschein eingeführt worden war. Die waren zur Überraschung aller für die Gruppe leichter zu beschaffen als westdeutsche. "Die Deutschen haben oft gefragt: ‚Was mache ich, wenn die Russen kommen, dann lande ich ja im Gulag‘ und haben deshalb ihre Mitarbeit verweigert. Die Ausländer haben mich nie gefragt, ob sie dafür in Schwierigkeiten kommen können“.

Hilfe aus dem Untergrund

Die meisten Ausweise sammelten befreundete ausländische Studenten bei Verwandten und Bekannten, große Hilfe sei aber von völlig unerwarteter Seite gekommen, erzählt Veigel: "Wir sind auf Gruppen gestoßen, die in ihren Heimatländern Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben und jetzt tatsächlich bereit waren, ihren ehemaligen Todfeinden Hilfe zu leisten. Sie sind sogar in ihrem Urlaub nach Berlin gekommen, haben eine Woche mitgeholfen und uns einen Stapel Pässe gebracht.“

Veigels Alltag folgte zunächst dem gleichen Muster: Er fuhr mit der S-Bahn nach Ost-Berlin und traf sich mit den Fluchtwilligen. Er "impfte“ sie mit einer Geschichte, die dem Verhör der DDR-Grenzer meist am Übergang Friedrichstraße standhalten musste. Er paukte mit ihnen den Inhalt des Theaterstücks, das sie angeblich gesehen hatten, ließ sich die Freundin im Osten beschreiben, mit der sie sich angeblich trafen, informierte sie über die einzelnen Kontrollen am Grenzübergang. Er ließ sie die Unterschrift üben und prüfte derweil ihre Kleidung auf Ost-Etiketten – das Ganze mit bis zu zehn Personen am Tag.

Von den ausländischen Gruppen kamen auch die meisten Hilfsmittel, mit denen die Flüchtlinge ihre Lügengeschichten illustrieren konnten: Zigaretten, Stadtpläne, Bahnfahrkarten, Geld und Streichhölzer aus dem angeblichen Herkunftsland, zusammen mit Antworten auf Fragen, die die Grenzer gerne stellten – etwa, wie weit die Heimatstadt von der Hauptstadt entfernt ist und wie viele Gleise dort der Bahnhof hat. So gelang es den Fluchthelfern, immer ausgefeiltere Identitäten für die Flüchtigen maßzuschneidern – die Fluchthelfer nannten sie "Stories“

Mit Stasi-Methoden gegen die Stasi

Zunächst waren die Flüchtlinge Kommilitonen, dann deren Freunde und Verwandte. Die Fluchthelfer mussten die Fluchtwilligen sehr genau durchleuchten, sie könnten ja von der Stasi sein und sie auffliegen lassen. Dabei verwendeten sie selbst Stasi-ähnliche Methoden: "Irgendwann im Gespräch habe ich plötzlich gesagt: ‚Nach allem, was ich gehört habe ist mir völlig klar, dass Sie ein Spitzel der Stasi sind.‘ Wenn die Leute dann ausgeflippt sind, war ich sicher, dass sie ‚echt‘ sind. Das war hart, hat aber funktioniert.“

Rund 2000 Menschen holte die Gruppe mit ausländischen Pässen über die Grenze – bis die Russen schließlich auch einen Passierschein für die Ausländer einführten. "Wir konnten uns das nicht erklären. Erst später kam heraus, dass uns ein Spitzel verraten hatte“, erklärt Veigel.

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Veigel grub auch einen Fluchttunnel – dabei wurde ein Mithelfer erschossen, sie waren am Tunnelausgang im Osten entdeckt worden. Überhaupt gelang es der Stasi mit der Zeit, immer mehr Fluchtkanäle zu schließen. Entsprechend aufwändiger mussten die Fluchten orchestriert werden.

Die Nummer mit dem Caddy

Unter diesem Druck wurden die Fluchthelfer immer gerissener und kreativer: Veigel entwickelte eine Finte, die die Stasi bis zum Schluss nicht durchschaute: "Normalerweise wurden Personen in Autos zwischen Rücksitz und Kofferraum geschmuggelt. Das hat der Osten aber sehr schnell durchschaut. Ich habe einen Cadillac Coupe de Ville aus dem Jahr 1957 gefunden und umbauen lassen. In dem konnte man die Leute zwischen Armaturenbrett und Motor schmuggeln, die Beine baumelten im ausgehöhlten Radkasten. Das Versteck haben wir zur Panzerzelle ausgebaut, das selbst bei einem Unfall sicher gewesen wäre.“

Veigel bezahlte für den Cadillac 5000 Mark - mit Umbau und Reparaturen verschlang er dann allerdings 60.000 Mark, alles Geld, das er selbst aufbringen musste. Das Ungetüm war nur schwer zu beherrschen und verbrauchte riesige Mengen Benzin – es stellte sich aber als voller Erfolg heraus. Auf den Touren, die meistens über Ungarn und die Tschechoslowakei liefen, transportierte der "Caddy“ 120 Menschen in den Westen; darunter auch ein Frau, die im neunten Monat schwanger war. "Die Grenzer hatten das Auto einmal eineinhalb Stunden auf der Hebebühne und haben es mit Hunden untersucht – zum Glück war der Ölgeruch dicht am Motor zu stark“, erinnert sich Veigel.

Doch Ende der 60er Jahre wurde Burkhart Veigel die Geschichte zu heiß: "Die Stasi hat versucht, mich einmal in Berlin und einmal in Wien zu entführen. Die haben mich nur nicht bekommen, weil ich penibel die Sicherheitsvorkehrungen einhielt: Ich bin immer auf der linken Straßenseite gegangen, weil ich dann sehen konnte, wer im entgegenkommenden Auto sitzt. Ich bin auch nie aus dem Haus gegangen, ohne mich genau umzuschauen." 1969 hat Veigel dann aufgehört, weil seine Frau ihm ins Gewissen geredet hat. sie hatte gerade eine Tochter zur Welt gebracht. Er zog nach Hannover und ließ sich später als Orthopäde in Stuttgart nieder. Erst im Ruhestand kehrte er nach Berlin zurück.

Die "Rote Hilde“ will seinen Kopf

Wie nah ihm die Stasi wirklich war, hat Veigel erst später erfahren. Die Girrmann-Gruppe hatte zwei Spitzel, wegen einem von ihnen wurden über 50, wegen einem anderen 89 Ostdeutsche auf der Flucht gefasst. Das Leben der gefassten Flüchtlinge war erst einmal zerstört: Nach dem Gesetz lag die Höchststrafe für Republikflucht bei drei Jahren, die Richter stockten die Strafe aber oft mit Vorwürfen wie "Rädelsführerschaft“ und "Menschenhandel“ auf. Insgesamt wurden rund 72.000 DDR-Bürger auf der Flucht verhaftet.

Darunter wäre um ein Haar auch Veigel gewesen – als die Grenzer ihn fast am Zaun erwischten, war er in eine Stasi-Falle gelaufen. Das hätte Veigel mit dem Leben bezahlt: "Wie ich vorher erfahren hatte, wollte mich Justizministerin Hilde Benjamin zum Tod verurteilen lassen, das stand auch später in meinen Stasi-Akten.“ Noch Jahre später sollte er entführt, vor Gericht gestellt und dann zum Tod verurteilt werden. Aber auch weniger prominente Fluchthelfer riskierten viel: "Wenn Sie in Ostberlin mit sechs Pässen in der Tasche erwischt werden, haben Sie keine Chance, dann sind sie lebenslänglich drin.“

Wer waren die Menschen, die für Wildfremde so viel riskierten? "Aus meiner Erfahrung waren 50 Prozent Studenten, von denen wiederum sicherlich 60 Prozent Mediziner waren. Außerdem sehr viele Techniker und Handwerker. Es hat fast keine Geisteswissenschaftler gegeben. Die haben alle darauf gewartet, wie das wundersame sozialistische Experiment im Osten ausgeht.“

Im "Neuen Deutschland“ wurden die Fluchthelfer als vom Westen gesteuerte Menschenhändler bezeichnet – Veigel bestätigt zwar lose Kontakte zu Parteien und sogar dem Bundesnachrichtendienst, betont aber, dass die Fluchthelfer völlig unabhängig arbeiteten. Sie hätten auch nie einen Pfennig vom Staat für ihre Auslagen gesehen, die in die Zehntausende gingen. "Wir waren ein spontan zusammengewürfelter Haufen aus Idealisten.“ Alles, was sie bekamen, war die Hochachtung der Bevölkerung. Und die Gewissheit, dass sie da weitermachen konnten, wo dem Staat die Hände gebunden waren.

Burkhart Veigel hat die Geschichte der Fluchthilfe aufgeschrieben: Wege durch die Mauer: Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West, Edition Berliner Unterwelten, 431 Seiten, 19,90 Euro.

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