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Anschlag in Halle: ein Prozess, der viele Dimensionen sprengt


Anschlag in Halle
Ein Prozess, der viele Dimensionen sprengt

Von dpa, ds

Aktualisiert am 21.07.2020Lesedauer: 6 Min.
Der Angreifer Stephan Balliet feuerte mit selbst gebauten Waffen auf Passanten und die Polizei.Vergrößern des BildesDer Angreifer Stephan Balliet feuerte mit selbst gebauten Waffen auf Passanten und die Polizei. (Quelle: Montage: t-online.de/dpa)
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Der mutmaßliche Rechtsterrorist Stephan Balliet steht vor Gericht. Er soll für einen der schlimmsten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte verantwortlich sein. Ein Überblick.

Es war einer der schlimmsten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte – ab diesem Dienstag muss sich der mutmaßliche Täter Stephan Balliet vor Gericht verantworten. Der 28-Jährige hatte am höchsten jüdischen Feiertag im vergangenen Oktober versucht, in eine Synagoge in Halle (Saale) einzudringen, um dort ein Massaker zu verüben. Weil sein Plan scheiterte, schoss er wahllos zwei Passanten nieder und floh. Erst Stunden später konnte er von der Polizei gestoppt werden.

Balliet hielt alles mit seinem Smartphone fest und veröffentlichte die Aufnahmen live im Internet. Dort tauchte später auch ein Manifest des Täters auf. Neun Monate nach der furchtbaren Tat schaut nun die Weltöffentlichkeit auf einen Prozess, der viele Dimensionen sprengt.

1. Der Prozess: Medien aus aller Welt – strengste Sicherheitsvorkehrung

Bislang sind 18 Verhandlungstermine für den Prozess vorgesehen. Der bislang letzte Termin soll am 14. Oktober stattfinden. Die Anklage führt die Bundesanwaltschaft, die immer dann federführend ist, wenn es um terroristische Gewalttaten geht. Stephan Balliet wird in Magdeburg der Prozess gemacht, weil am dortigen Landgericht die Sicherheitsbedingungen erfüllt werden können. Der Prozess findet in einem mit rund 400 Quadratmetern verhältnismäßig großen Verhandlungssaal statt.

Gut 40 regionale, nationale und internationale Medien haben in einem Auslosungsverfahren einen Platz im Sitzungssaal erhalten, darunter auch die "New York Times". Dazu gibt es rund 50 Plätze für Zuschauer. Vor dem ersten Verhandlungstag standen bereits in den frühen Morgenstunden zahlreiche Menschen vor dem Magdeburger Gericht und hofften auf einen Platz. Sowohl vor dem Gerichtsgebäude als auch vor dem Gerichtssaal werden Besucher und Medienvertreter gründlich durchsucht. Wegen der Corona-Pandemie gelten zudem die allgemeinen Hygieneregeln.

2. Die Tat: Am Mittag beginnt der Ausnahmezustand

Am 9. Oktober 2019 versucht der schwer bewaffnete Balliet, in die Synagoge in Halle einzudringen, in der Gläubige den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, begehen. Balliet streamt seine Tat live im Internet. Es ist um die Mittagszeit, als er in seinen VW-Kombi steigt, stolz seine selbst gebauten Waffen und Sprengsätze präsentiert. Vor dem jüdischen Gotteshaus bleibt er abrupt mit dem Auto stehen, steigt aus und versucht, ins Gebäude zu gelangen.

Er gibt mehrere Schüsse auf die massive Holztür ab, wirft Molotowcocktails und Handgranaten, doch die Tür gibt nicht nach. Balliet wendet sich wütend ab, als eine 40 Jahre alte Frau seinen Weg kreuzt. Sie beschwert sich über das auf der Straße stehende Auto von Balliet. Die ahnungslose Frau sieht seine Waffen nicht. Balliet schießt ihr in den Rücken, sie bricht leblos auf dem Boden zusammen.

Balliets Wahn hört nicht auf. Er rast zu einem nahen Döner-Imbiss. Noch immer hält seine Handykamera alles fest. Balliet geht hinein, schießt mehrfach auf die wehrlosen Opfer, tötet einen 20-jährigen Handwerker, der im Lokal seine Mittagspause macht. Auf der Straße vor dem Imbiss trifft die Polizei ein. Balliet leistet sich einen Schusswechsel, wird verletzt. Dann stürmt er zurück zum Auto und braust los. Auf der Flucht entsorgt er sein Handy, verletzt zwei weitere Menschen schwer, bevor er nahe Zeitz, rund 60 Kilometer von Halle entfernt, endlich von zwei Polizisten festgenommen wird.

Später gibt es Kritik an der Arbeit der Polizei: Diese habe zu spät und nicht entschlossen genug reagiert. Mehrere Minuten lang war lediglich ein Streifenwagen auf den Schützen Balliet angesetzt gewesen. Der Leiter des Polizeieinsatzes erklärte in einem Untersuchungsausschuss des Landtages in Magdeburg, er habe erst spät von einem Schusswechsel zwischen dem Täter und Polizisten erfahren. Die Sicherheitskräfte vor Ort hätten auf die Frage, ob sie geschossen hätten, nicht geantwortet. Er vermute, sie hätten so unter dem Eindruck des Einsatzgeschehens gestanden, dass sie die Frage nicht gehört hätten.

Der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt sieht in der Tat auch einen "erschreckenden Beleg" für einen seit Längerem gestiegenen Antisemitismus, "der sich sodann als Motivation für rechtsextremistische Straf- und auch Gewalttaten widerspiegelt". Der Inlandsgeheimdienst sieht auch Parallelen zu einem rechtsextremen Anschlag im neuseeländischen Christchurch. Im März 2019 wurde dort in zwei Moscheen auf muslimische Gläubige geschossen, mehr als 50 Menschen starben.

3. Ein Stück Holz: der Lebensretter der jüdischen Gemeinde

20 Löcher im massiven Holz, allesamt zeigefingergroß, zeugen auch Tage nach der Tat in Halle von der rasenden Wut, mit der Balliet die Eingangstür zum Synagogen-Gelände hat öffnen wollen. Dahinter feierten zur Tatzeit 51 Gemeindemitglieder den höchsten jüdischen Feiertag. Balliets selbst gebaute Waffen und Sprengsätze waren für ein Massaker gemacht. Doch die Tür hielt ihn davon ab. Sie besteht aus 6 Zentimeter dickem Eichenholz, wurde erst 2010 gefertigt, obwohl sie viel älter aussieht. Gemacht hat sie ein Tischler aus der Region, der die historische Pforte der Synagoge wieder nachbauen sollte. Davor stand an der Stelle ein schlichtes Eisentor.

In einem Ermittlungsbericht, so schreibt die "Zeit" später, schwärmten die Polizeibeamten, wie massiv die Tür sei. Sie wollten ein Projektil aus der Rückseite der Tür freizubohren, das noch im Holz steckte. "Die Beamten stellen jedoch fest, dass die Tür dicker und robuster als gedacht ist", heißt es im Bericht.

4. Die Verteidigung: Kein Wort mehr über den Angeklagten

Bislang hat sich Rechtsanwalt Hans-Dieter Weber mit öffentlichen Äußerungen weitgehend zurückgehalten. Kurz nach dem Anschlag hatte er dem Südwestrundfunk (SWR) gesagt, sein Mandant Stephan Balliet sei intelligent, wortgewandt, aber sozial isoliert. "In seinem Weltbild ist es halt so, dass er andere verantwortlich macht für seine eigene Misere, und das ist letztendlich der Auslöser für dieses Handeln." Er sehe Kräfte am Werk, die im Verborgenen wirkten, aber sehr einflussreich seien und auf die Politik einwirken könnten, so Weber.

Webers Kanzlei teilte der Deutschen Presse-Agentur mit, dass sie in Absprache mit dem Mandanten vor dem Prozess keine Stellungnahme mehr abgeben werde.

5. Der Angeklagte: das elfseitige Manifest des Grauens

Stephan Balliet, geboren im Januar 1992 in der Nähe der Lutherstadt Eisleben, gilt als sogenannter einsamer Wolf. Ein Chemiestudium brach er ab. In einem elf Seiten langen "Manifest", das er vor der Tat veröffentlichte, wimmelt es vor antisemitischen Begriffen. Balliet spricht etwa von einer "zionistisch besetzten Regierung" – ein klassisches judenfeindliches Narrativ aus der rechtsextremen Szene.

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Noch bevor die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, hatte er eine Grundausbildung bei der Bundeswehr absolviert und wurde laut Verteidigungsministerium auch an der Waffe ausgebildet.

Bei den Sicherheitsbehörden war er zuvor nicht in Erscheinung getreten, wie der Verfassungsschutz mitteilte. Die von ihm veröffentlichten Schriften und das live übertragene Video belegten eine antisemitische und fremdenfeindliche Grundeinstellung. Diese stehe augenscheinlich im Zusammenhang mit einer frauenfeindlichen Haltung, die zur Radikalisierung des Angeklagten führte. Diese habe in "einschlägigen Internetforen" stattgefunden. Für Kontakt zu Rechtsextremisten in der analogen Welt hat der Verfassungsschutz eigenen Angaben zufolge keine Belege gefunden.

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6. Die Nebenkläger: "Ich würde gerne verstehen"

Rund 50 Nebenkläger sind mittlerweile laut Gericht zugelassen worden. Viele von ihnen sind bislang nicht an die Öffentlichkeit getreten. Grundsätzlich können sich Menschen einer Nebenklage anschließen, die unter anderem von einer Tat "gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit" betroffen sind, wie das Gericht mitteilte. Weitere Details zu den Nebenklägern nannte das Gericht nicht.

  • Neben Vertretern der Jüdischen Gemeinde Halle wie dem Vorsitzenden Max Privorozki hat auch der Amerikaner Ezra Waxman vor dem Prozess mit Journalisten geredet. Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur sagte der 32-Jährige: "Ich bin ein bisschen nervös." Vor der Verhandlung hatte der Forscher der TU Dresden in Österreich Kraft getankt – die Ruhe vor dem Sturm, wie er sagte. Gemeinsam mit Freundinnen und Freunden habe er 2019 an Jom Kippur kleinere und ältere jüdische Gemeinden beleben wollen und sei deswegen nach Halle gekommen. "Ich weiß nicht genau, was ich von dem Prozess erwarten soll", sagte er. Natürlich hoffe er, dass Stephan Balliet so lange hinter Gitter komme, wie er eine Gefahr für die Gesellschaft sei. Zudem wolle er mehr über ihn erfahren, verstehen, wie er denke und was ihn antreibe, weil er sich dann sicherer fühle. "Ich kenne niemanden wie ihn, deswegen würde ich gerne verstehen, wie er Hass auf Menschen entwickeln konnte, die er nicht mal kennt."
  • Auch der Taxifahrer Daniel Waclawczyk gehört zu den Nebenklägern. Am 9. Oktober war sein Wagen ihm zufolge in einer Werkstatt – die Reifen sollten gewechselt werden –, als das Taxi mit Waffengewalt geraubt wurde, um die Flucht fortzusetzen. Zum Prozess sagte er: "Der Täter soll seine gerechte Strafe bekommen. Zudem hoffe ich, dass ich die wirtschaftlichen Schäden ersetzt bekomme." Er beziffert den Schaden mit rund 12.000 bis 14.000 Euro auch wegen Umsatzverlusten. Erst am 9. Dezember sei das gestohlene Taxi wieder einsatzbereit gewesen.
  • Die Doktorandin der Philosophie Christina Feist sagte vor dem Prozess der Zeitung "taz", sie wolle wissen, ob sich der Attentäter wirklich unbemerkt radikalisiert habe. Zudem habe sie noch einen Rest Hoffnung, dass der Prozess Menschen aufrütteln werde. Sie war bei dem Anschlag ebenfalls in der Synagoge.

Am Donnerstag wurde zudem ein Betreiber des vom Anschlag betroffenen Döner-Imbisses als Nebenkläger zugelassen. Das bestätigte ein Gerichtssprecher der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage. In dem Geschäft war der 20-jährige Handwerker erschossen worden.

7. Die Richterin: jahrelange Erfahrung, auch mit Rechtsterroristen

Ursula Mertens ist in Sachsen-Anhalt seit vielen Jahren tätig, am Oberlandesgericht Naumburg (OLG) und am Landgericht Halle. Sie leitete bisher eine Vielzahl an Prozessen – unter anderem gegen den selbst ernannten "König von Deutschland" aus Wittenberg, Peter Fitzek. Der Verfassungsschutz rechnete den gelernten Koch der sogenannten Reichsbürgerszene zu, was er vehement bestritt.

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
  • Eigene Recherche
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