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Landtagswahl Baden-Württemberg 2021: So war Winfried Kretschmann als Lehrer


So war Kretschmann als Lehrer
Der Sokrates mit Bürstenschnitt

Von Tilman Baur, Stuttgart

Aktualisiert am 16.03.2021Lesedauer: 3 Min.
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Winfried Kretschmann: Als er noch für die Grünen im Landtag in der Opposition saß, unterrichtete Kretschmann als Lehrer. Auch unseren Autor.Vergrößern des Bildes
Winfried Kretschmann: Als er noch für die Grünen im Landtag in der Opposition saß, unterrichtete Kretschmann als Lehrer. Auch unseren Autor. (Quelle: xEibner-Pressefoto/RogerxBuerkex/imago-images-bilder)

Offensiv uneitel, manchmal ungelenk, aber immer echt: Der Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich seit seiner Zeit als Studienrat in der schwäbischen Provinz kaum verändert. Unser Autor hat ihn damals erlebt.

Hohenzollern-Gymnasium Sigmaringen, ein beliebiger Montag im Schuljahr 1999/2000. Es ist 7.45 Uhr, der Schulgong läutet die erste Stunde ein. Einer der unwahrscheinlichsten Spitzenpolitiker der jüngeren Geschichte schlürft über den Flur: Mit Stoffhose, Kurzarmhemd, schwarzer Aktentasche und dem mittlerweile Kult gewordenen Bürstenschnitt auf dem Kopf nickt Winfried Kretschmann den müden Schülern zu und schließt die Tür zum Klassenzimmer auf. Der Ethikunterricht beginnt.

Lange Jahre geht der spätere Ministerpräsident seinem Brotberuf als Studienrat nach, während er für die Grünen die Oppositionsbank im Landtag drückt. Neben Ethik unterrichtet er Biologie und Chemie an dem Gymnasium, das er selbst als Schüler besucht und an dem er nach einer "Extrarunde" in der elften Klasse 1968 das Abitur abgelegt hat.

Vom Studienrat zum präsidialen Übervater

Dass dieser Mann zwanzig Jahre später Millionen Bürger im ganzen Land von riesigen Plakaten aus als präsidialer Übervater anblicken würde, das ahnt damals niemand. Gleichwohl hatte er immer eine Sonderrolle inne.

Video | Eisenmann will Kretschmann in Baden-Württemberg ablösen
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Quelle: Reuters

Ein Lehrer, der gleichzeitig Politiker ist, und das auch noch im Landtag, das war in der schwäbischen Provinz etwas Besonderes. Man wusste, dass Kretschmann nur montags unterrichtete und den Rest der Woche im Parlament verbrachte.

"Der hockt im Landtag", hieß es hier und da. Trotzdem hielt sich das Interesse in Grenzen, eine große politische Karriere sagte dem damals 51-Jährigen niemand voraus. Warum auch? Die Grünen schlummerten im Ländle als obskure Nischenpartei vor sich hin. Bei den Landtagswahlen 1996 kamen sie auf 12,1 Prozent.

Im tiefschwarzen Oberschwaben betrachtete man sie mit Befremden, vielleicht auch mit etwas Mitleid, weil eigentlich jeder glaubte, dass Landesvater Erwin Teufel, der legendäre CDU-Ministerpräsident von 1991 bis 2005, für immer regieren würde.

Kretschmann war für uns der Ethiklehrer mit der Igelfrisur, der versuchte, uns mit seiner bekannten, weitgehend humorlosen Art Sokrates‘ Hebammentechnik und John Rawls‘ politische Philosophie nahezubringen.

Dabei bleibt mir vor allem in Erinnerung, wie Kretschmann es schaffte, die Namen der größten Philosophen der Geschichte so auszusprechen, dass man unweigerlich dachte, man spreche nicht von Griechen, Briten oder Franzosen, sondern von Ureinwohnern der Schwäbischen Alb. Platon wurde dabei zum breit gequakten "Plaaaton", Aristoteles zu "Arischtoteles" eingeschwäbelt.

Kretschmanns Dialekt hatte und hat etwas Karikaturhaftes, seine extreme Aussprache sorgte auch im stark dialektlastigen Sigmaringen für Stirnrunzeln und Belustigung. Eine mögliche Begründung für den Hang zum Extrem-Dialekt liefert der Ministerpräsident auf seiner Website selbst. Seine Eltern waren aus Ostpreußen ins Schwabenland geflüchtet. "Die Sprache ist etwas ganz Wichtiges in einem Integrationsprozess, und ich war das erste Kind in der Familie, das schwäbisch gesprochen hat: zuhause hochdeutsch, außerhalb schwäbisch", schreibt Kretschmann da.

Prädikat: etwas bräsig – aber humorvoll

Ein ehemaliger Klassenkamerad, den Kretschmann in Biologie unterrichtet hatte, sagte mir vor Kurzem, den Unterricht habe er vor allem wegen seiner "Bräsigkeit" in Erinnerung. Tatsächlich nahm Kretschmann den Stoff bitterernst, der Unterricht gestaltete sich stets zäh und etwas schwerfällig.

Den Originaltexten der Philosophen Sinnhaftes abzuringen, war eine Aufgabe, die Kretschmann nie auf die leichte Schulter nahm. Im Gegensatz zu anderen Lehrern schien es ihm fremd, einfach ein Standardprogramm abzuspulen.

Man täte Kretschmann trotzdem Unrecht, wenn man ihn als humorlos bezeichnen würde. Er konnte derb sein und Sprüche klopfen. Angesprochen auf die deutsche Philosophie in der Zeit der alten Griechen entgegnete unser Lehrer, gleichzeitig entrüstet und amüsiert: "Als die Griechen philosophiert haben, sind die Germanen doch noch auf den Bäumen gehockt und haben Met gesoffen!"

Das konnte einen notorisch gelangweilten Haufen pubertierender Provinzler zum Lachen bringen, wenn auch nur deshalb, weil es einen Farbtupfer in die graue Monotonie des Unterrichts brachte.

Tatsächlich authentisch

Als spektakulär kann ich meine Zeit im Unterricht des heute unangefochtenen Landesvaters auch im Rückblick nicht bezeichnen. Bemerkenswert ist trotzdem, dass ihn sein später Aufstieg ins höchste politische Amt des Landes anscheinend kaum verändert hat.

Umfragen führen seine Beliebtheit oft auf seine angebliche Authentizität zurück. Die ist unbestreitbar, denn der bundesweit bekannte Ministerpräsident Kretschmann unterscheidet sich nicht im Geringsten vom damals kaum bekannten Gymnasiallehrer.

Kretschmann ist geradezu offensiv uneitel, manchmal etwas ungelenk, aber immer echt. Mit diesem politischen Kapital können die wenigsten Politiker wuchern.

Wenn Kretschmann am Sonntag die Wahl gewinnt, liegt es auch daran, dass er der Mann geblieben ist, der er schon immer war. Und dass er trotz erheblich gestiegener Machtfülle offenbar nicht anders kann, als er selbst zu sein.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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