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Corona | Kritik an der Stiko: Arbeiten die wichtigsten Impfexperten zu langsam?


Kritik an der Stiko
Arbeiten die wichtigsten Impfexperten zu langsam?


Aktualisiert am 06.11.2021Lesedauer: 5 Min.
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Stiko-Chef Thomas Mertens (von links) auf einer Pressekonferenz mit RKI-Chef Lothar Wieler und Gesundheitsminister Jens Spahn: Politiker warfen dem Gremium schon häufiger vor, es sei zu gemächlich.Vergrößern des Bildes
Stiko-Chef Thomas Mertens (von links) auf einer Pressekonferenz mit RKI-Chef Lothar Wieler und Gesundheitsminister Jens Spahn: Politiker warfen dem Gremium schon häufiger vor, es sei zu gemächlich. (Quelle: Ipon/imago-images-bilder)

Bund und Länder sind sich einig: Die Booster-Impfung wird für alle empfohlen. Doch die Ständige Impfkommission zögert noch mit einem Urteil. Kritiker beschweren sich über ein Tempo-Problem – mal wieder.

Die wachsende Zahl der Corona-Neuinfektionen heizt die Debatte um die dritte Impfung an. Während Bund, Länder und die Ärzteverbände bereits für den Booster für alle werben, zögert das wichtigste Impfgremium, die Ständige Impfkommission (Stiko), noch. In wenigen Wochen, sagte Stiko-Chef Thomas Mertens, werde das Gremium entscheiden, ob es den Booster für alle Altersgruppen empfiehlt. Bislang gilt die Empfehlung nur für Menschen ab 70 Jahren, für Bewohner sowie Personal in Pflege- und Altenheimen und für alle, die mit Johnson & Johnson geimpft wurden.

Die Gesundheitsministerkonferenz war schon Anfang August über die Empfehlung der Stiko hinausgeprescht: Alle Menschen ab 60 Jahren sollen eine Booster-Impfung erhalten, hieß es damals. Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verteidigte das Vorgehen vehement. Er wolle "nicht warten, bis in den Pflegeheimen wieder Menschen sterben", sagte er dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" (RND).

Das könnte man auch als Vorwurf gegen das Expertengremium deuten. Arbeitet die Stiko zu langsam? Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass Politiker dem Gremium vorwerfen, es sei zu gemächlich und unflexibel. Jenem Gremium, an dem sich alle deutschen Ärzte orientieren und dessen Empfehlungen viel mehr sind als das. Allein, dass ein Impfstoff zugelassen ist, also verimpft werden darf, hatte in Deutschland bislang wenig Gewicht. Auf die Empfehlung der Stiko kam es an.

Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche

Doch schon als es um die Corona-Impfung für 12- bis 17-Jährige ging, ließ das Urteil der Stiko aus Sicht der Politik lange auf sich warten. Die Experten begründeten das mit einer zu dünnen Datenlage. Auch vereinzelte Fälle von Herzmuskelentzündungen, die zum Beispiel in den USA beobachtet worden waren, bereiteten dem Gremium Sorge. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (Ema) hatte schon Ende Mai den Impfstoff von Biontech/Pfizer für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren zugelassen, Ende Juli folgte die Zulassung des Moderna-Impfstoffes.

Einige andere Länder begannen daraufhin fleißig, diese Altersgruppe gegen das Coronavirus zu impfen. Die Stiko aber zögerte mit einer Empfehlung und riet dazu zunächst nur Jüngeren mit Vorerkrankungen oder besonderem Corona-Risiko.

Politiker machten Druck und forderten das Gremium auf, seine vorsichtige Haltung zu überdenken. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagte beispielsweise, er wünsche sich, die Stiko würde wie die Europäische Zulassungsbehörde (Ema) arbeiten. Das seien "die Profis". Grünen-Parteichef Robert Habeck sagte: "Die sollen mal ein bisschen in die Gänge kommen."

Zum Vergleich: In Frankreich lief schon seit Mitte Juni die Impfkampagne für Jüngere, in den USA seit Anfang Mai. Die Gesundheitsministerkonferenz sprach schließlich Anfang August ein Impfangebot aus – und war mit ihrer Geduld am Ende. Gesundheitsminister Spahn betonte: "Es geht ausdrücklich nicht darum, Druck zu machen, den machen wir auch nicht." Wenn Eltern und Kinder sagten, dass sie noch auf mehr Daten warten wollten, sei das kein Problem.

Die aktualisierte Stiko-Empfehlung für alle Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren folgte schließlich am 19. August – mit einer ausführlichen Erklärung des Stiko-Chefs. Erwachsene erkrankten schwerer an Covid-19 und der Nutzen der Impfung für den Einzelnen sei damit klar. Bei Kindern sei das jedoch nicht so eindeutig, argumentierte Mertens. Er bekräftigte, dass es zur Pandemiebekämpfung wichtig sei, die Impfquote bei den 18-bis 59-Jährigen noch deutlich zu steigern. "Da liegt das Problem, nicht bei den Kindern."

International ist die Stiko mit diesen Überlegungen zu Impfungen ab 12 Jahren nicht allein: Die britische Impfkommission hat sich anfangs sogar gegen eine flächendeckende Empfehlung der Impfung für Jugendliche entschieden, denn die gesundheitlichen Vorteile seien für diese Altersgruppe nur gering, so die Experten. Erst im September revidierten sie ihre Meinung.

Wirrwarr um Astrazeneca

Nicht das Tempo, sondern die fehlende Kommunikation der Stiko wurde im Chaos um den Astrazeneca-Impfstoff bemängelt. Mehrere Male passte das Gremium seine Empfehlung an. Anfangs riet die Stiko, Astrazeneca an alle Altersgruppen zu verimpfen. Zwei Impfdosen seien in einem Abstand von zwölf Wochen Abstand nötig. Als vereinzelte Fälle von Blutgerinnseln auftraten, sollten nach einem vorübergehenden Impfstopp nur noch Personen ab 60 Jahren das Vakzin erhalten.

Als dann auch die Delta-Variante grassierte, sollten bereits Geimpfte für die zweite Dosis einen mRNA-Impfstoff – wie Biontech oder Moderna – erhalten. Das erhöhe die Wirksamkeit der Impfung. Und eine weitere Änderung: Der Abstand zur Zweitimpfung könne von zwölf auf vier Wochen verändert werden.

Die Verkündung sorgte bei vielen Arztpraxen und Impfzentren für Chaos und Wut. Das lag nicht am Inhalt der Empfehlung, sondern an der fehlenden Kommunikation. "Die Stiko versteht nicht, dass sie mit ihren Aktionen die Arztpraxen in Deutschland komplett lahmlegt", sagte Christian Kröner, Hausarzt im bayerischen Neu-Ulm, der "Welt".

Kröner und Ärzte in ganz Deutschland traf die Empfehlung völlig ohne Vorbereitung. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn soll vorab nicht informiert worden sein.

Die Folge: Patienten waren durch die Empfehlung verunsichert. Der in Folge des Impfstopps ohnehin vorbelastete Astrazeneca-Impfstoff stand nun auch noch in Verdacht, allein wenig wirksam zu sein. Dosen blieben massenhaft liegen. Termine für die Zweitimpfung mussten aufgrund der veränderten Empfehlung verschoben werden – zum Leidwesen anderer Impflinge. Und: Die Kapazitäten der mRNA-Impfstoffe reichten für die neue Empfehlung vorerst gar nicht aus.

Auf der anderen Seite stellt sich, bei aller Kritik an der Kommunikation, die Frage: Hätten die Experten eine aus ihrer Sicht verbesserungswürdige Empfehlung aus bürokratischen Gründen aufrecht erhalten sollen? In diesem Fall wäre der Aufschrei wohl auch groß.

Was erklärt die Arbeitsweise der Stiko?

An Kritik an der Stiko mangelte es in den vergangenen Monaten jedenfalls nicht. Das liegt auch an der besonderen Position, die das Gremium in Deutschland innehat. Einen Fehler kann die Kommission sich nicht erlauben.

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Zum Hintergrund: Der Stiko gehören 18 Mitglieder aus verschiedenen Disziplinen an, die ehrenamtlich in dem unabhängigen Gremium tätig sind. Wenn die Stiko eine Impfung empfiehlt, hat das für Ärzte mehr Gewicht, als der Begriff "Empfehlung" vermuten lässt: Es ist nicht nur ein gut gemeinter Ratschlag, sondern gilt vielmehr als maßgebliche Richtschnur. Manche Ärzte halten sich strikt daran. Formal sei das Impfen ohne Stiko-Empfehlung möglich, es widerspreche aber der "seit jeher etablierten Praxis", erklärte die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin.

Normalerweise ist das Stiko-Urteil auch bedeutsam für Fragen der Haftung und der Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen – bei der Corona-Impfkampagne ist dies jedoch über den Bund geregelt. Wirklich bindend ist in dieser Pandemie also nur, dass die Ema den jeweiligen Impfstoff zugelassen hat. Die Behörde belegt die Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutische Qualität. Die Stiko hingegen arbeitet anders, sie muss für eine ganze Gesellschaft abwägen, ob der Nutzen das mögliche Risiko überwiegt.

Die Empfehlungen sind dabei nicht in Stein gemeißelt, sondern werden je nach Erkenntnislage angepasst. Mertens betonte im August: "Wir arbeiten sowieso unter größtem Druck. Die Politiker-Aufforderungen der vergangenen Wochen, dass wir unsere Empfehlung überdenken mögen, waren unnötig wie ein Kropf."

Das Warten auf die Stiko hat die Politik auf jeden Fall aufgegeben. Am Freitag sprach sich die Gesundheitsministerkonferenz für Booster-Impfungen für alle, sechs Monate nach dem Erhalt des vollständigen Impfschutzes, aus.

Verwendete Quellen
  • Die Zeit: "Die Unbeugsamen"
  • Ärzte Zeitung: "Ärzte kritisieren: Politik ist in Arbeit der STIKO 'hineingegrätscht'"
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