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Corona-Kollaps? "Eine harte Triage droht, wenn wir die Welle nicht brechen"


Intensivstationen vor dem Kollaps
"Wenn wir die Welle nicht brechen, droht eine harte Triage"

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel

01.12.2021Lesedauer: 6 Min.
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Ärzte verlegen einen Patienten in Sachsen: Experten befürchten einen Klinik-Kollaps.Vergrößern des Bildes
Ärzte verlegen einen Patienten in Sachsen: Experten befürchten einen Klinik-Kollaps. (Quelle: Bernd März/imago-images-bilder)

In Thüringen sterben bereits Patienten auf Wartelisten, angesichts voller Kliniken droht die Aussortierung von Menschen nach Überlebenschancen. Ein Ärztevertreter bringt sogar die Diskriminierung von Ungeimpften ins Spiel.

Erst wenige Wochen ist es her, als Politiker und Ärztefunktionäre laut über die Aufhebung der Corona-Beschränkungen nachdachten: Noch Ende Oktober proklamierte der Kassenärztechef Andreas Gassen den baldigen deutschen "Freedom Day". Auch Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, fand es "richtig", das Land wieder schrittweise zu öffnen.

Statt Lockerungen bahnt sich heute ein Kollaps deutscher Kliniken an. Die Luftwaffe flog am Wochenende Dutzende schwer kranke Corona-Patienten aus Sachsen, Thüringen und Bayern in andere Bundesländer. Und für den Fall, dass eine Verlegung bald nicht mehr möglich sein sollte, haben Medizinethiker die Richtlinien der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zur Triage aktualisiert. Diese sollen Ärzten bei der Entscheidung helfen, wen sie im Ernstfall retten sollen – und wer sterben muss.

Im Ernstfall, das heißt: Wenn absolute Ressourcenknappheit auf den Intensivstationen herrscht und auf zwei Patienten nur ein freies Bett kommt. Vom Flirt mit dem "Freedom Day" zur drohenden Triage in nur wenigen Wochen – auch das ist Deutschland im zweiten Corona-Winter.

Vom "Freedom Day" zur Triage in sechs Wochen

Dabei veranschaulicht kaum etwas die Brutalität der vierten Welle so wie das Dokument der Divi mit dem technischen Namen "Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie". Hier wird mit medizinischer Präzision beschrieben, wie Ärzte vorgehen sollen, wenn sie einem Patienten mitteilen müssen, dass seine adäquate Behandlung beendet werden muss, weil die Überlebenschance schlechter ist als bei einem anderen Patienten.

Gerald Gaß, der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), warnt im Gespräch mit t-online vor einer "harten Triage", die im schlimmsten Fall drohe: Zwar sehe es derzeit noch nicht danach aus, sie könne aber in einer extremen Notlage nicht ausgeschlossen werden. Deutschland sei auf dem Weg in eine Katastrophenmedizin, mit schlimmen Folgen.

In der Nähe von Bayern und Baden-Württemberg ist der Katastrophenfall bereits eingetreten – zumindest jenseits der Grenze: In Österreich komme es in den Krankenhäusern bereits zu Triagen, auch bei schwer Erkrankten wie Krebspatienten, so der österreichische Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein am Mittwoch. Auch in Thüringen spricht der Intensivkoordinator bereits von "milder Triage": Patienten, deren planbare Operationen verschoben wurden, seien teilweise schon gestorben. Tod auf der Warteliste.

"Wir sind nicht auf dem Schlachtfeld"

Triage kommt ursprünglich aus der französischen Kriegsmedizin Ende des 18. Jahrhunderts ("trier" heißt übersetzt "sortieren, auswählen"), als während der Napoleonischen Kriege Militärärzte ein Verfahren entwickelten, um schnell zu entscheiden, welche verletzten Soldaten sie retten – und wen sie mangels Überlebenschancen liegen lassen. Der Arzt Dominique Jean Larry konnte damit die Sterblichkeitsrate von Verwundeten merklich senken, Triage hatte damals also einen eher positiven Effekt.

"Wir sind nicht auf dem Schlachtfeld", sagt der Medizinethiker Gerald Neitzke, Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), und meint damit das plötzliche, massenhafte Auftreten von schwer Verletzten oder Kranken. Triage sei deshalb der falsche Begriff und finde in Deutschland derzeit nicht statt.

Was allerdings in einigen Regionen drohe, sei eine Priorisierung: "Bei der Priorisierung wähle ich einen von mehreren behandlungsbedürftigen Patienten aus und lasse die anderen sterben. Aber in dieser Lage sind wir in Deutschland glücklicherweise noch nicht." Patienten, die keine intensivmedizinische Behandlung mehr erhalten würden, würden auf Normalstation verlegt oder palliativ versorgt werden. "Wir lassen niemanden in der Warteschlange vor der Klinik sterben."

Ein deutsches "Bergamo" verhindern

Neitzke hat die Empfehlungen der Divi mitentwickelt, nach denen Ärzte solche schwierigen Entscheidungen treffen sollen. Das Papier spricht von einer "enormen moralischen und ethischen Herausforderung", die auf Ärzte zukomme, aber das ist ein gut gemeinter Euphemismus.

Es ist schwer vorstellbar, welchem Druck Menschen ausgesetzt werden, die einem Schwerkranken die notwendige Versorgung versagen müssen, weil die Verantwortlichen zu spät gehandelt haben und theoretisch verfügbare Mittel fehlen. Ganz zu schweigen von den Patienten, die das zu hören bekommen.

Doch nach welchen Faktoren sollen die Ärzte über das Leben der einen und den Tod der anderen Person entscheiden? Alleiniges Kriterium soll die "klinische Erfolgsaussicht" sein, empfehlen die Divi-Experten: die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch seine Erkrankung durch die Intensivtherapie überlebt.

Damit wolle man "dramatische Zustände wie in Bergamo oder im Elsass" verhindern, wo zu Beginn der Pandemie eine Altersdiskriminierung auf den Intensivstationen stattfand, sagt Neitzke. "Dort wurden Menschen strikt nach kalendarischem Alter aussortiert, und je mehr sich die Lage verschärfte, desto jünger wurden die Patienten." In Deutschland wolle man nach Überlebenschancen auswählen und nicht nach bestimmten Merkmalen wie Alter, Behinderung, Vorerkrankung – oder Impfstatus.

Aussortierung von Ungeimpften?

So steht es auch in den aktualisierten Empfehlungen der Divi: Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgebots in Deutschland "nicht zulässig […], auch nicht aufgrund des SARS-CoV-2-Impfstatus." Der zentrale Satz auf Seite fünf ist farblich hervorgehoben, um das Update, so scheint es, auch dem flüchtigen Leser deutlich zu machen. Aber spielt der Impfstatus wirklich keine Rolle?

Burkhardt Ruppert sieht das anders. Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin prophezeite vor wenigen Tagen auf deutschen Intensivstationen einen Konflikt zwischen der "Solidargemeinschaft und den sich unsolidarisch Verhaltenden". "Wir werden an den Punkt kommen, an dem man überlegen muss, gebe ich das letzte Bett jetzt dem 75-Jährigen, der dreimal oder zweimal geimpft wurde und trotzdem noch mal erkrankt ist. Oder gebe ich es dem 25-Jährigen, der sich um nichts gekümmert hat", so Ruppert gegenüber dem "Neuen Deutschland".

Der Ärztefunktionär widerspricht damit nicht nur den Richtlinien der Divi, sondern legt zugleich nahe, dass Ärzte bald zwischen Geimpften und Ungeimpften auf den Intensivstationen unterscheiden könnten – und dass das irgendwie verständlich wäre.

Warum der Impfstatus doch eine Rolle spielen könnte

Aus medizinethischer Sicht sind Rupperts Forderungen ein Dammbruch. Doch der Ärztevertreter greift damit eine recht verbreitete Stimmung in der Bevölkerung auf, in der hauptsächlich Ungeimpften die Schuld an der vierten Welle gegeben wird.

"Die Medizin agiert nicht nach einem Strafprinzip", wehrt sich Medizinethiker Neitzke gegen solche populistischen Grenzüberschreitungen. Auch spiele keine Rolle, ob eigenes Verschulden beim Patienten vorliege. "Das ist der völlig falsche Ansatz, ich glaube auch nicht, dass Ärzte dem folgen werden."

Das heißt allerdings nicht, dass der Impfstatus überhaupt keine Rolle spielen wird, sollte es tatsächlich zu einer Notlage kommen. Denn die Berücksichtigung des Impfstatus ist bereits in den Divi-Kriterien angelegt, nur anders, als es zunächst scheint – und zwar dann, wenn ein fehlender Immunschutz sich auf die Überlebenschance eines Patienten auswirkt.

Laut Gerald Gaß von der DKG gebe es Daten, die diesen Schluss zulassen: "Laut Studienlage haben geimpfte Intensivpatienten bessere Genesungschancen, weil ihr Immunsystem durch die Impfung so gestärkt wurde, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren."

Heißt übersetzt: Ärzte könnten bald – mit Verweis auf die Studienlage, eine bessere Überlebensperspektive und unter Berücksichtigung aller medizinischer Faktoren – dem Geimpften eher eine Beatmungsplatz zuteilen als einem Ungeimpften.

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Bald bis zu 6.000 Corona-Intensivpatienten – mindestens

Sollte dieser Extremfall eintreffen, würde sich der Konflikt zwischen Geimpften und Ungeimpften zweifellos verschärfen, das Vertrauen in den Staat und sein Pandemiemanagement weiter sinken. Eine Situation, die laut dem Medizinethiker Neitzke hätte vermieden werden können: "Die Politik hat sich vor der Verantwortung gedrückt und bisher immer behauptet: Wir haben genug Ressourcen für alle, wir müssen die Verteilung nicht regeln." Das habe sich als fatale Fehleinschätzung erwiesen.

Auch Gerald Gaß sieht derzeit kaum Anzeichen für eine Entwarnung. Im Gegenteil: Der DKG-Chef rechnet damit, dass sich die schon stattfindende Priorisierung von Patienten verschärft: "Wir gehen von 5.500 bis 6000 Intensivpatienten demnächst aus, ein absoluter Spitzenwert in der Pandemie bisher. Aber auch nur, wenn wir es schaffen, die Welle zu brechen. Wenn nicht, werden es noch mehr."

Dass in einer solchen Extremsituation Intensivmediziner auch emotionale Faktoren in ihre Entscheidung miteinbeziehen und den vollständig Geimpften gegenüber dem Impfgegner bevorzugen, hält Gaß grundsätzlich für möglich. "Ich kann nicht in den Kopf jedes einzelnen Arztes vor Ort hineinschauen."

Er betont jedoch: "Ob jemand geimpft oder ungeimpft ist, darf keine Rolle spielen dabei, wer medizinische Versorgung im Ernstfall erhält. Ich bin fest überzeugt davon, dass die Ärzte vor Ort verantwortungsbewusst handeln."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräch mit Gerald Gaß
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