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Strategien in der Corona-Krise: "Das wird wie eine Bombe hochgehen"


Was heute wichtig ist
"Das wird wie eine Bombe hochgehen"

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.05.2020Lesedauer: 6 Min.
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Missbrauch und Gewalt gegen Kinder haben im Jahr 2019 zugenommen. Laut BKA könnte die Corona-Krise den Trend verschärfen.Vergrößern des Bildes
Missbrauch und Gewalt gegen Kinder haben im Jahr 2019 zugenommen. Laut BKA könnte die Corona-Krise den Trend verschärfen. (Quelle: imago images)

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WAS WAR?

Wenn ein Großer geht, steht die Welt einen Moment lang still. Heute vor einer Woche stand sie still, und wer es nicht bemerkt hat, der weiß es seit gestern: Michel Piccoli ist tot. Ach was, tot. So ein dummes, kleines Wort kann einen wie ihn doch nicht bezwingen. Gegangen ist er, an einen Ort, den wir nicht kennen. Deshalb darf sich in die Trauer aller Cineasten die dankbare Erinnerung an all die Geschenke mischen, die er uns gemacht hat. Den eifersüchtigen Schriftsteller in Godards "Die Verachtung". Den skrupellosen Erpresser in Buñuels "Belle de Jour". Den Chefspion in Hitchcocks "Topas". Die bezaubernden Szenen an der Seite Romy Schneiders. Den gealterten Maler in "Die schöne Querulantin". Ach, so viele Rollen, Szenen, Filme könnte man noch aufzählen. So viele Gesichter hat er angenommen und dennoch stets sein eigenes behalten. Offen und unergründlich zugleich. Wenig Mimik; oft reichte ihm schon eine winzige Kopfbewegung, um eine ganze Geschichte zu erzählen. Aber natürlich beherrschte er auch die großen Auftritte. Und erst recht die Abgänge. Wie sich der von Dauerflatulenzen gepeinigte Michel in Ferreris "Das große Fressen" entleibt, das gehört zu den unvergesslichen Szenen des Weltkinos. Französische Filme sind ja wie Austern: Man liebt sie oder man hasst sie. Aber immer steckt eine Überraschung darin. Dass der große Michel nun in keinem weiteren Film mehr stecken wird, macht die Liebe nicht kleiner, aber nimmt allen künftigen Überraschungen ein Scherflein ihrer Würze. Grund genug, den Lauf der Welt einen Moment lang anzuhalten.


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Seit zehn Wochen reden wir nun ununterbrochen über Corona – aber reden wir immer über das Richtige? Das Infektionsrisiko, die Kontaktsperreregeln und ihre Lockerung, die Klagen der Wirtschaft: Täglich werden unzählige Reden, Zeitungen und Talkshows damit gefüllt. Wenn ein Virologe oder der VW-Chef Piep sagt, springen alle auf und geben ihren Senf dazu, mal scharfen, mal faden. Bedeutende Dinge geschehen und große Räder werden gedreht. Frau Merkel und Herr Macron wollen mit einem 500-Milliarden-Programm die EU-Wirtschaft aufpäppeln, ein Lichtblick am verdunkelten europäischen Horizont. Herr Maas läutet die Strandsaison ein, und Herr Söder will Urlaubsgutscheine verteilen. Bevor wir nun auch noch über Hilfsmillionen für Freibadbesucher und Diskogänger diskutieren, sollten wir über ein paar andere Dinge reden: über drängende Themen, die unter den Tisch zu fallen drohen. Denn viele gesellschaftliche Gruppen leiden unter der Krise, werden aber kaum gehört – weil sie keine starke Lobby haben.

Beispiel eins: Viele Kinder und Jugendliche vereinsamen, weil sie ihre Freunde und Großeltern nicht treffen dürfen. Eine Studie zeigt: Ein Viertel von ihnen hat den Eindruck, dass ihre Sorgen nicht gehört werden. Längst haben noch nicht alle Schulen schlüssige Konzepte für einen halbwegs geregelten Unterricht erstellt; die Flickwerkbetreuung von zwei Tagen wöchentlich kann doch nicht ernsthaft bestehen bleiben, bis es irgendwann in zehn?, zwölf?, fünfzehn? Monaten einen Impfstoff gibt. Und was, sollte im Herbst eine zweite Infektionswelle auf uns zukommen – werden dann wieder wochenlang alle Schulen und Kitas zugesperrt, mit allen gravierenden Folgen? Schon jetzt sind seit Beginn der Corona-Krise in einem Fünftel aller Familien häufiger Konflikte aufgetreten. Gleichzeitig verzeichnen Jugendämter bis zu 40 Prozent weniger Meldungen. "Es ist verdächtig ruhig", hat mir eine Mitarbeiterin erzählt. Die Furcht ist groß, dass viele Misshandlungen nicht auffallen, weil die Kinder kaum Kontakt zu Lehrern, Ärzten, Freunden haben. "Das wird irgendwann wie eine Bombe hochgehen."

Beispiel zwei: Auch Menschen mit Erkrankungen, die nicht Covid-19 heißen, haben in dieser Krise keine Lobby. Ob akut oder chronisch: Wer an einer gravierenden Krankheit leidet, läuft in diesen Wochen Gefahr, dass seine Beschwerden zu spät behandelt werden. Manche Menschen trauen sich aus Angst, sich anzustecken, nicht mehr in die Arztpraxis oder ins Hospital. Andere würden gern, können aber nicht. Viele Krankenhäuser fahren den Betrieb jetzt erst wieder hoch, nachdem sie wochenlang voll auf Corona umgestellt hatten – selbst wenn die Betten mangels Patienten leer blieben. Die Diagnose von Schlaganfällen ist vielerorts um ein Viertel zurückgegangen. Natürlich bedeutet das nicht, dass es plötzlich weniger Fälle gibt – sondern dass weniger erkannt werden. Die Folgen für die Betroffenen können ähnlich gravierend sein wie für Krebs-, Diabetes- oder andere Patienten.

Nur zwei Beispiele von mehreren. Auch die Nöte von Behinderten, Obdachlosen, Geflüchteten und anderen gesellschaftlichen Gruppen werden zu wenig gehört. Ja, wir dürfen das Coronavirus nicht unterschätzen. Unbedingte Vorsicht lautet weiter das Gebot der Stunde. Aber zugleich müssen wir die Verhältnismäßigkeit wahren und uns um jene Menschen kümmern, die keine laute Stimme haben. Wenn der Verdacht aufkommt, dass die gegenwärtige Krisenstrategie mehr Verlierer als Gewinner produziert, dann läuft etwas falsch.


WAS STEHT AN?

Unter dem Vorsitz seines scheidenden Präsidenten Andreas Voßkuhle hat das Bundesverfassungsgericht einen Paukenschlag gesetzt: Das Urteil gegen die Anleihenkäufe der EZB hat den Euroraum erschüttert. Heute kann das Gericht gleich noch einmal auf die Trommel hauen: Es muss entscheiden, ob der Bundesnachrichtendienst weiterhin großflächig das Ausland abhorchen und dabei auch Journalisten überwachen darf. Die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen sieht das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit verletzt. Als Journalist ist man geneigt, Sympathie für die Kläger zu hegen. Weiß man zugleich aber, dass der BND rund ein Fünftel seiner bisherigen Quellen verlieren und die Aufklärung von Terroristen, Hackern und Spionen erschwert würde, weicht die Sympathie dem Zwiespalt.

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In Berlin beginnt der Prozess gegen einen 57-Jährigen, der im November den Chefarzt Fritz von Weizsäcker, Sohn des früheren Bundespräsidenten, nach einem Vortrag erstochen haben soll. Der Prozess muss klären, ob der Angeklagte trotz seiner psychischen Erkrankung schuldfähig ist.

Wenn man eine knallharte Kindheit überlebt, als junger Bursche Gitarren zertrümmert, zwei seiner engsten Freunde verloren, sich mit dem dritten erst verkracht, dann wieder zusammengerauft und nebenher zahlreiche zeitlose Songs geschrieben und eine Weltkarriere hingelegt hat, ja, dann kann man sich an seinem 75. Geburtstag wohl einfach mal sagen lassen, dass man eine ziemlich coole Socke ist. In diesem Sinne: Happy birthday, Mister Townshend!


WAS LESEN UND HÖREN?

Der Mensch ist böse, dreist und egoistisch: Beim Blick in die Nachrichten fällt es nicht schwer, diese Behauptung zu glauben. Überhaupt nicht wahr, sagt dagegen Rutger Bregman. Der Mensch sei "im Grunde gut", meint der niederländische Erfolgsautor, der vor einem Jahr den Regierungschefs und Superreichen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos die Leviten gelesen hat. Wieso kommt es dann trotzdem immer wieder zu Krieg, Völkermord, Verfolgung? Und warum gibt es im Internet so viel Hetze und Beleidigungen? Mein Kollege Marc von Lüpke wollte es ganz genau wissen. Hier ist sein lesenswertes Interview mit einem der originellsten Denker unserer Zeit.


Der AfD-Vorstand hat sich entschlossen, Andreas Kalbitz die Mitgliedschaft zu entziehen – in seiner Brandenburger Landtagsfraktion darf der Rechtsextremist aber bleiben. Wer glaubt, die Partei sei nun befriedet, täuscht sich: Der Machtkampf geht erst richtig los, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl.


Dass Mautminister Andreas Scheuer und sein Vorgänger Alexander Dobrindt ein seltsames Verhältnis zum Steuergeld haben, wussten wir bereits: 700 Millionen Euro könnte das von den CSU-Leuten eingebrockte Pkw-Mautdebakel die Bürger kosten. Was genau in Scheuers geheimem Mautvertrag steht, wissen wir nun dank den Rechercheuren von "Frag den Staat".


Die Corona-Pandemie hat auch die Art verändert, wie wir uns fortbewegen. Das wird nach der Krise so bleiben, prophezeit der Verkehrsexperte Andreas Knie in unserem Podcast "Tonspur Wissen". Es werden zum Beispiel weniger Menschen zur Arbeit pendeln. Welche Verkehrsmittel wir nutzen und wie wir künftig reisen werden, erklärt er hier.


WAS AMÜSIERT MICH?

Wahnsinn, was auf den Straßen so los ist.

Ich wünsche Ihnen einen quicklebendigen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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