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Russland, Deutschland und die Nato: ”Putin ist auf Revanche aus”


Konflikt um die Ostsee
"Das Risiko für Deutschland ist gewaltig"

InterviewVon Marc von Lüpke

03.07.2025 - 13:20 UhrLesedauer: 8 Min.
Russischer Kampfflieger im Kaliningrader Gebiet (Archivbild): Russland treibt seine Interessen in der Ostsee voran.Vergrößern des Bildes
Russischer Kampfflieger im Kaliningrader Gebiet (Archivbild): Russland treibt seine Interessen in der Ostsee voran. (Quelle: Vitaly Nevar/imago-images-bilder)
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In der Ukraine wird gekämpft, doch Russland verfolgt zudem aggressive Ambitionen in der Ostsee. Davon ist auch und gerade Deutschland betroffen. Der britische Journalist Oliver Moody erklärt, was nun dringend getan werden muss.

Russland will die Ukraine unterwerfen, doch auch im Ostseeraum ist die Kriegsgefahr durch Moskaus Aggressivität erheblich gestiegen. Damit befindet sich Deutschland in wachsender Gefahr, warnt der britische Journalist Oliver Moody.

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Was droht Deutschland bei einem russischen Angriff auf die Nato? Wie kann Deutschland von Frontstaaten wie Polen, Finnland und den baltischen Staaten lernen? Und warum kommt der Ostsee in der geopolitischen Auseinandersetzung mit Russland eine so wichtige Rolle zu? Diese Fragen beantwortet Oliver Moody, Autor des Buches "Konfliktzone Ostsee. Die Zukunft Europas", im Gespräch.

t-online: Herr Moody, im Falle eines militärischen Konflikts Russlands mit der Nato wäre Deutschland unmittelbar bedroht. Ist diese Gefahr in der deutschen Öffentlichkeit ausreichend bekannt?

Oliver Moody: Tatsächlich wiegt sich Deutschland in trügerischer Sicherheit, zumindest weite Teile der Öffentlichkeit. Deutschland ist eine zentrale logistische Drehscheibe der Nato in Europa, im Falle einer russischen Aggression wird das Land mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Zielscheibe. In den verteidigungspolitischen Richtlinien der jüngsten Zeit wird dieser Bedrohung auch Rechnung getragen. Allerdings müsste die Politik der deutschen Bevölkerung diese Gefahr eindringlicher vermitteln. Boris Pistorius etwa tut dies bereits, aber es braucht mehr.

Deutschland wähnt sich im Gegensatz zu Polen, Balten und Finnen weit weg von Russland. Besteht darin einer der Gründe für eine gewisse Sorglosigkeit?

Das ist tatsächlich so. In den verschiedenen Kriegsszenarien sind aber nicht nur eben Frontstaaten wie Polen, das Baltikum oder Finnland Hauptangriffsziele bei einer russischen Aggression, sondern eben auch Deutschland. Nicht allein Militärbasen, sondern die gesamte Infrastruktur hierzulande wäre in höchster Gefahr – es drohen in diesem Fall nicht nur Cyberattacken oder Sabotageakte, sondern konventionelle militärische Angriffe. Das Risiko für Deutschland ist also gewaltig. Was die Luftabwehr angeht, sind die exponierten baltischen Staaten aufgrund der geografischen Gegebenheiten sogar leichter zu verteidigen als die deutschen Großstädte. Über diese Bedrohung muss man sich im Klaren sein.

Zur Person

Oliver Moody, Jahrgang 1989, ist britischer Journalist. Seit 2018 arbeitet Moody als Korrespondent von "The Times" und "Sunday Times" mit Sitz in Berlin. Er berichtet über Deutschland, Skandinavien, Mitteleuropa und das Baltikum. Zusammen mit Katja Hoyer betreibt Moody den Podcast "The New Germany" für die Körber-Stiftung. Kürzlich erschien Moodys Buch "Konfliktzone Ostsee. Die Zukunft Europas".

In Ihrem neuen Buch "Konfliktzone Ostsee" weisen Sie auf die Bedeutung dieses Binnenmeeres innerhalb der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzung hin – und raten uns Deutschen, von den anderen Anrainerstaaten wie Polen, Finnen und Balten zu lernen. Was haben uns diese Gesellschaften voraus?

Tatsächlich lässt sich viel von diesen Gesellschaften lernen. Niemand in Europa ist besser auf diese neue Welt vorbereitet, in der wir uns nun befinden: Neue Gefahren bedrohen uns, alte Bündnisse erodieren oder zerfallen sogar. Trumps Rückkehr ist der Härtefall für Europa, das war schon vorher klar. Aber wie dramatisch es werden könnte, das war dann doch eine böse Überraschung. Seit Jahrzehnten sind Staaten wie Litauen, Estland, Lettland, Polen und Finnland hingegen damit beschäftigt, Resilienz, Sicherheit und ja, auch Überlebensinstinkte zu entwickeln und zu kultivieren.

Wie wurden Sie auf die Bedeutung des Ostseeraums aufmerksam?

Ich lebe seit 2018 in Berlin, zu meinem journalistischen Verantwortungsbereich gehört hauptsächlich Deutschland, aber auch dessen nord- und osteuropäische Nachbarländer. Mit letzteren konnte ich mich in meinen ersten Jahren hier kaum beschäftigen, aber im Vorfeld der russischen Vollinvasion der Ukraine 2022 ist mir eine Tatsache bewusst geworden: Die Sicherheitslage hat sich nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Ostflanke der Nato enorm verschlechtert. Damit ist die Situation wiederum für Westeuropa viel bedrohlicher geworden, als wir es wahrgenommen haben. Da kam mir die Idee, mich eingehender mit dem Ostseeraum zu beschäftigen.

Was ist Ihr Kernanliegen?

Es wird höchste Zeit, dass wir die Bedrohung als solche wahrnehmen und uns ihr stellen. Alles andere wäre ein großer Fehler. Von den nördlich und östlich gelegenen Ostseestaaten lässt sich hervorragend lernen, wie man sich auf unsichere Zeiten vorbereitet und trotzdem den Optimismus nicht verlernt. Wenn man erst das Ausmaß der Bedrohung unserer Gesellschaften erkannt und akzeptiert hat, lässt sich das Beste daraus machen und die Zukunft positiver gestalten. Mit einer großen Kraftanstrengung, die politisch und gesellschaftlich gewollt ist, lässt sich vieles bewegen.

Haben Sie ein Beispiel?

Die Entwicklung der drei baltischen Staaten ist bemerkenswert. Erst 1991 haben Litauen, Estland und Lettland ihre nationale Unabhängigkeit nach jahrzehntelanger sowjetischer Herrschaft zurückerlangt – damals war ich gerade zwei Jahre alt. Binnen kurzer Zeit sind aus ihnen dann demokratische und moderne Staaten geworden. Finnland ist ein anderes Beispiel für einen Staat, der geradezu bei null anfangen musste und entsprechende Lehren aus seiner Geschichte gezogen hat.

Welche Lehren?

Als Finnland 1917 seine Unabhängigkeit von Russland gewonnen hatte, musste es – wie 1991 dann die baltischen Staaten – sich nicht nur staatliche Strukturen schaffen. Nein, es brauchte die Erfindung eines fundamentalen Gesellschaftsvertrages. Das haben die Bürger Finnlands auch getan – und zwar unter der Prämisse, dass die Herstellung von Sicherheit die oberste Aufgabe des Staates ist. Das ist ein grundlegend anderes Verständnis der Beziehungen zwischen Staat und Bürger, als es in vielen anderen Staaten im Westen Europas der Fall ist.

Finnlands Bedürfnis nach Sicherheit ist verständlich, mit dem aggressiven Moskau als Nachbar. 1939 etwa ließ Josef Stalin die Rote Armee in Finnland einmarschieren und eröffnete den Winterkrieg.

Für Moskau erwies es sich als Desaster. Zwar verloren die Finnen den Winterkrieg am Ende und mussten Gebiete abtreten, doch hatten sie der Roten Armee gewaltige Verluste zugefügt und die Existenz ihres Landes bewahrt. Für die finnische Öffentlichkeit war die Niederlage so Schock und moralischer Sieg zugleich. An dieser Stelle kommt ein zweiter Faktor zum Ausdruck: die Anpassungsfähigkeit, mit deren Hilfe man viele Krisen und Zerwürfnisse in mehr als 100 Jahren überstanden hat. Die Nachbarschaft zu Russland und eine mehr oder weniger konstante Bedrohung von dort hat in vielen Ostseestaaten zu einer ganz anderen Weltanschauung geführt als in westlicher gelegenen Staaten Europas.

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Finnland und Schweden sind die jüngsten Mitglieder der Nato, sie traten dem Verteidigungsbündnis nicht lange vor der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus bei. Der US-Präsident hat nun wiederholt Zweifel an seiner Bündnistreue geweckt.

Für Europa ist das gefährlich, aber ganz besonders für die Frontstaaten an der Ostsee. Polen und Balten haben ihre gesamte Sicherheitspolitik auf Nato und Europäische Union gestützt, Schweden und Finnland haben ihre lange praktizierte Neutralität aufgegeben.

Wird die Unberechenbarkeit der USA nun Impuls für die Europäer und insbesondere die Anrainer der Ostsee sein, sich sicherheitspolitisch schlagkräftiger aufzustellen?

Da bietet sich eine historische Chance, ja. Die Ostsee ist wichtiger denn je, die Herausforderung ist gewaltig. Also besteht reichlich Anlass für die Ostseestaaten, sich in der Außen- und Sicherheitspolitik besser zu vernetzen. Es ist ja immer wieder von einer Koalition der Willigen unter den europäischen Staaten die Rede. Das betrifft insbesondere Deutschland. Wie wichtig die Ostsee ist, zeigt sich nicht nur an dem Anschlag auf die Pipelines von Nord Stream.

Björn Engholm, früherer Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, wollte in den Neunzigerjahren die historische Hanse in gewisser Weise wiederbeleben. Ist das ein Modell, auf dem sich bauen lässt?

Tatsächlich ist Engholms Vision teilweise Realität geworden. Der Blick auf eine Landkarte aus dem Jahr 1989 zeigt, wie sich der Eiserne Vorhang mitten durch die Ostsee zog. Ein Teil gehörte dem Westen an, ein anderer dem Ostblock, dazu kam das neutrale Schweden. Finnland war zwar ebenfalls neutral, in seiner Außen- und Sicherheitspolitik aber doch von Moskau abhängig. Heute ist die Situation ganz anders, für Russland sieht es dort schlecht aus.

Acht der neun Anrainer der Ostsee sind Mitglieder der Nato.

Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung, es besteht also Hoffnung. Wenn diese Länder Vereinbarungen miteinander treffen können, die den unsicherer gewordenen Artikel 5 des Nato-Vertrags flankieren, dann wäre das ein Gewinn. Die USA erheben nun ja Schutzgeld: Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir besorgt sein, ob die Vereinigten Staaten zu Hilfe kommen.

Ein vollumfänglicher konventioneller Angriff Russlands auf die Nato ist ein denkbares Szenario für die Zukunft. Ein anderes besteht in einer begrenzten Attacke Russlands auf Nato-Territorium, um die Stabilität des Verteidigungsbündnisses zu testen. Was könnte dann geschehen?

Für das letzte Szenario kommen einige Ziele in Betracht, unter anderem die exponierte estnische Stadt Narva, wie es der Politikwissenschaftler Carlo Masala in einem Buch skizziert hat. An diesem Punkt wird es gefährlich: Was würden Amerikaner, aber auch Deutsche, Briten, Italiener oder Franzosen sagen, wenn sie wegen dieser weit entfernten Stadt in einen größeren militärischen Konflikt – bis hin zu der Möglichkeit eines Atomkriegs – mit Russland geraten würden? Alles, um wirklich jeden Quadratmeter des Nato-Territoriums zu verteidigen?

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Man fühlt sich an das Jahr 1939 erinnert, als in Frankreich die Frage "Sterben für Danzig?" diskutiert wurde, angesichts der zunehmenden Aggressivität Deutschlands gegen Polen.

Das ist ein gutes Beispiel. Viele französische Soldaten hätten Danzig damals auf einer Landkarte lange suchen müssen. Aber die Geschichte zeigt ebenso, dass ein frühes, entschlossenes Auftreten wohl Schlimmeres hätte verhindern können.

Nun hat Deutschland seit einigen Monaten mit der schwarz-roten Koalition eine neue Regierung. Wie schlägt Sie sich?

Deutschland hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. 2022 habe ich zum Beispiel noch gestaunt, wie wenig Aufmerksamkeit Berlin dem Schutz der kritischen Infrastruktur in der Ostsee gewidmet hat. Man schien sich des Problems damals kaum bewusst zu sein. Jetzt hat Deutschland viel mehr Verantwortung übernommen, es gibt zahlreiche Übungen zum Schutz der Seeinfrastruktur im Ostseeraum.

Die Bundeswehr stand und steht infolge einer jahrzehntelangen Unterfinanzierung stark in der Kritik. Wie ist das Bild der deutschen Streitkräfte außerhalb Deutschlands?

Die Bundeswehr hat in Deutschland einen herausragend schlechten Ruf. Das liegt allerdings vor allem daran, dass sie – unter anderem von Journalisten – so intensiv überprüft wird. Deswegen ist nahezu alles über Probleme und Fähigkeitslücken bei den deutschen Streitkräften bekannt. Die britischen und die französischen Streitkräfte kommen da weit glimpflicher davon, weil weniger über die Zustände bei ihnen bekannt wird. Tatsächlich ist die Bundeswehr auf einem guten Weg, gerade durch die Reform der Schuldenbremse.

Premier Keir Starmer will die britischen Streitkräfte nun mit Milliarden stärken und modernisieren.

Den meisten meiner Landsleute ist wahrscheinlich gar nicht bekannt, wie geschrumpft und geschwächt unsere Armee ist. Die Lage ist ziemlich katastrophal, vor allem, was die Landstreitkräfte angeht, aber auch die Marine ist betroffen. Wir haben gerade eine neue verteidigungs- und sicherheitspolitische Strategie bekommen, dieses Dokument hat alle Schwächen benannt. Aber das Geld zu ihrer Behebung ist einfach nicht da, erst recht nicht bei den neuen Vereinbarungen innerhalb der Nato. Es wird Großbritannien schwerfallen, seine Verantwortung wahrzunehmen. Als Brite ist mir das ziemlich peinlich. Umso mehr freue ich mich, dass Friedrich Merz es für Deutschland gewagt hat, Spielräume zu nutzen, um in die Infrastruktur zu investieren und die Verteidigungsausgaben zu erhöhen.

Geld, das auch in den Ausbau der militärischen Fähigkeiten zur Verteidigung des Ostseeraums fließen muss?

Unbedingt! Die Ostsee muss verteidigt werden, Russland hätte sonst gewaltige Vorteile. Wladimir Putin ist auf Expansion und Revanche aus, da müssen wir uns schützen.

Herr Moody, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Oliver Moody via Videokonferenz
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