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Messerangriff in Berlin: Jugendkriminalität beunruhigt Experten


Wenn Jugendliche zustechen
"Das Recht des Stärkeren spielt wieder eine Rolle"

InterviewVon Leon Pollok

23.05.2025 - 13:32 UhrLesedauer: 4 Min.
Die Polizei steht vor einer Grundschule im Berliner Bezirk Spandau: Hier hatte ein 13-Jähriger einen Zwölfjährigen mit einem Messer schwer verletzt.Vergrößern des Bildes
Die Polizei steht vor einer Grundschule im Berliner Bezirk Spandau: Hier hatte ein 13-Jähriger einen Zwölfjährigen mit einem Messer schwer verletzt. (Quelle: Julius-Christian Schreiner/dpa-bilder)
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Erst Menden, dann Berlin, schließlich Remscheid: Messer-Gewalt von Kindern erschüttert Deutschland. Was ist da los? Und was tut die Politik dagegen? Ein Kriminologe sagt: meistens das Falsche.

In Berlin wird am Donnerstagvormittag ein Grundschüler durch einen 13-jährigen Mitschüler mit einem Messer angegriffen. Später am Nachmittag attackiert in Remscheid ein Elfjähriger einen 13-Jährigen ebenfalls mit einem Messer. Erst Anfang Mai sorgt eine tödliche Gewalttat unter Jugendlichen im Sauerland für Entsetzen. Die Taten veranschaulichen eine beunruhigende Entwicklung: Jugendgewalt nimmt in Deutschland seit Jahren wieder zu, wie Daten des Bundeskriminalamts belegen.

Dirk Baier ist Professor für Kriminologie an der Universität Zürich und erklärt, was die Gewaltexzesse junger Menschen mit Werten in sozialen Medien und dem "Recht des Stärkeren" zu tun haben. Warum die Diskussion über eine Herabsetzung der Strafmündigkeit aus seiner Sicht der falsche Ansatz ist, erklärt er im Interview mit t-online.

t-online: Herr Professor Baier, zwei Messerattacken von Jugendlichen an nur einem einzigen Tag schockieren Deutschland. Dabei ging die Jugendkriminalität Mitte der 2000er-Jahre lange Zeit zurück. Was wurde damals richtig gemacht?

Prof. Dr. Dirk Baier: Die Zahlen sind zwischen 2007 und 2015 rasant gefallen. Die Jugendgewalt hat sich innerhalb von zehn Jahren nahezu halbiert. Während dieser Zeit hat sich das Umfeld junger Menschen zum Positiven entwickelt. Häusliche Gewalt ist zurückgegangen, in der Erziehung wurden Werte wie emotionale Nähe wichtiger. Auch in den Schulen ist viel passiert: Die Schulsozialarbeit wurde verankert, Streitschlichtungsprogramme ins Leben gerufen. Durch all diese Maßnahmen ist es aus Sicht junger Menschen uncool geworden, Gewalt zu verüben. Das "Recht des Stärkeren" spielte kaum noch eine Rolle.

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Und das ist jetzt anders? Denn seit Corona steigen die Fallzahlen von Jugendkriminalität massiv an.

Nicht erst seit Corona. Wir sehen schon seit 2015 und 2016 einen leichten Anstieg. Durch Corona kam dann erst einmal ein Knick nach unten. Jugendkriminalität ist Gelegenheitskriminalität. Heißt: Wer zu Hause bleibt wie während der Corona-Zeit, der begeht auch weniger Straftaten im öffentlichen Raum. Nach 2021 gehen die Zahlen allerdings stark nach oben, sie liegen jetzt über dem Vor-Corona-Niveau.

(Quelle: Dirk Baier )

Zur Person

Dirk Baier ist Professor für Kriminologie an der Universität Zürich. Von 2005 bis 2015 hat er am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später als stellvertretender Direktor gearbeitet und zahlreiche Studien zur Jugendkriminalität sowie zur Kriminalitätsentwicklung und -wahrnehmung betreut.

Und was sind die Gründe dafür?

Zum einen spielt das Recht des Stärkeren wieder eine größere Rolle, das Gefühl, sich durchsetzen zu müssen. Das hat auch mit Vorbildern in sozialen Medien zu tun. Dort wird Gewalt inszeniert, dort wird sich über Gewalt Anerkennung verschafft. Auch der Punkt, dass sich die Jugendlichen heute wieder öfter vor Ort treffen, Gruppen, Cliquen bilden, spielt eine Rolle. Denn mit dieser Cliquenbildung ist unweigerlich auch die Gefahr von Auseinandersetzungen verbunden. Und nicht zuletzt war die Corona-Pandemie ein Treiber für Jugendgewalt. Denn durch die Schulschließungen sind auch wichtige zwischenmenschliche Fähigkeiten wie Empathie verloren gegangen. Fundamentale Sozialkompetenzen sind heute bei jungen Menschen weniger stark ausgeprägt als vor der Pandemie.

Das heißt, diese Jugendlichen sehen Gewalt gar nicht mehr als etwas Schlimmes?

99 Prozent der Jugendlichen sind auf einem guten Weg. Aber wir sehen den Trend, dass die Täter immer jünger werden. Was früher ein 16-Jähriger gemacht hat, macht heute ein Zwölf- oder 13-Jähriger. Wir müssen uns klar sein: Auch Menschen, von denen wir das niemals vermuten würden, können schwere Gewalttaten verüben. Dass viele Taten – wie jetzt in Remscheid oder Berlin – mit einem Messer begangen werden, hängt damit zusammen, dass es eine Jedermannswaffe ist. Jeder hat Zugriff, eben auch ein Elf- oder Zwölfjähriger.

Der Tatverdächtige, der in Berlin auf einen Mitschüler eingestochen haben soll, ist erst 13 Jahre alt. Er ist also strafunmündig. Geht der Junge in zwei, drei Wochen einfach wieder ganz normal auf die Schule?

Nein, das ist ein Mythos, mit dem wir aufräumen müssen. Nur weil jemand nicht strafmündig ist, heißt das nicht, dass es keine Sanktionen gibt. Bei so einer schweren Tat, egal welches Alter, gibt es immer Konsequenzen. Jetzt wird sehr genau in die Familie hineingeschaut, was falsch gelaufen ist. Möglicherweise wird der Junge aus der Familie herausgenommen, kommt in ein Heim mit enger Betreuung. Da gibt es intensive Kontrollen, Gespräche, Therapien. Der geht nicht einfach so wieder in die Schule. Das Leben des Tatverdächtigen verändert sich ab sofort komplett.

In der Schweiz beginnt die Strafmündigkeit allerdings schon mit zehn Jahren …

Aber auch da ist ein Freiheitsentzug erst ab 15 Jahren möglich, und dann auch nur maximal für ein Jahr. Ein elf- oder zwölfjähriger Gewalttäter wird auch in der Schweiz nicht einfach ins Gefängnis gesteckt, sondern kommt eher in ein geschlossenes Heim, ähnlich wie in Deutschland. Strafmündigkeit ist lediglich eine willkürliche Gesetzesgrenze, die gesetzt wird.

Das heißt, Sie sind dagegen, dass das Alter für die Strafmündigkeit in Deutschland gesenkt wird?

Absolut, die Frage ist doch: Was wollen wir als Gesellschaft? Wollen wir einfach nur Vergeltung? Oder wollen wir solche Taten in Zukunft verhindern? Zwei Drittel der inhaftierten jungen Menschen werden später wieder straffällig, zeigen Studien. Das kann doch niemand wollen. Deshalb müssen wir auf Alternativen setzen, viel Prävention betreiben. Dafür brauchen wir keine Absenkung des Strafmündigkeitsalters. Wenn Jugendliche hinter Gitter kommen, macht es das meist noch schlimmer. In Haft lernen sie falsche Freunde kennen, sind leicht beeinflussbar.

Was wünschen Sie sich jetzt von der Politik?

Dass endlich einmal nicht aktionistisch gehandelt wird. Härtere Strafen, neue Gesetze, Messerverbotszonen: Das ist die typische Reaktion. Aber ich würde mir wünschen, dass sich die Politik die Situation nüchtern anschaut, das Phänomen mithilfe der Wissenschaft gründlich analysiert und dann ihre Schlüsse zieht.

Und was raten sie Eltern, die sich Sorgen machen, dass das eigene Kind vielleicht selbst zum Straftäter werden könnte?

Ganz wichtig ist: Offen sein, zugänglich sein. Viel mit den eigenen Kindern reden, bei Problemen hartnäckig bleiben. Unbedingt Grenzen setzen, Regeln aufstellen. Wenn Probleme entstehen, sollte man sich Hilfe holen, etwa bei der Schulsozialarbeit. Da darf man keine falsche Scham haben. Nichts tun ist die schlimmste Option.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Prof. Dr. Dirk Baier am 23. Mai 2025
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