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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Tragödie von Issyk Der "Schwarze Drache" – was ein Murgang anrichten kann

Ein Sommertag, ein voller Badesee – und dann kam der "Schwarze Drache": Wie am 7. Juli 1963 eine Naturkatastrophe das Issyk-Tal verwüstete.
Die Natur erschafft Orte von atemberaubender Schönheit – grünblaue Seen, majestätische Berge, stille Wälder. Doch sie ist gnadenlos. Jedes Jahr sterben weltweit Tausende Menschen durch Naturkatastrophen – durch Vulkanausbrüche, Stürme oder Überschwemmungen.
Am vergangenen Mittwoch begrub ein Gletscherabbruch das Schweizer Dorf Blatten. Die Bevölkerung war bereits vorsorglich evakuiert worden – bevor die Geröllmassen das Dorf unter sich begruben. Die nächste große Sorge gilt nun dem Fluss Lonza. Der ist durch das abgerutschte Gestein gestaut worden – und damit entsteht ein gefährlicher Druck. Sollte sich das Wasser Bahn brechen und den natürlichen Damm mitreißen, droht ein sogenannter Murgang, also eine Schlamm- und Gerölllawine, die sich über mehrere Kilometer ins Tal ergießen könnte.
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Was für eine Verwüstung ein Murgang anrichten kann, erzählt die tragische Geschichte des Issyk-Sees in Kasachstan.
Ein uraltes Naturwunder
Etwa 53 Kilometer östlich der ehemaligen Hauptstadt Almaty liegt die kleine Stadt Issyk – umrahmt vom Tien-Shan-Gebirge. Heute leben hier etwa 50.000 Menschen. In der Nähe liegt der Issyk-See, zwölf Kilometer bergauf.
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Er ist viel älter als die Stadt selbst. Der See entstand nach der Eiszeit durch eine tektonische Verwerfung. Immer wieder kam es im Tal zu Erdbeben, durch die sich die Ufer des Issyk-Flusses verschoben. Schließlich entstand ein natürlicher Damm – über Jahrtausende festigte er sich zu einer fast 300 Meter hohen Wand aus Fels und Erde.
Dieser natürliche Damm war mehrere Hundert Meter hoch. Hinter dieser Barriere sammelte sich Wasser und bildete einen 1.850 Meter langen, 500 Meter breiten und bis zu 80 Meter tiefen See.
Der Issyk-See galt als einer der schönsten Zentralasiens. Je nach Lichteinfall schimmerte er in Aquamarin, Silber oder Blei.
In der Sowjetzeit entwickelte sich das Tal zu einem Anziehungspunkt für Erholungssuchende. Ab 1939 eröffnete hier ein Touristenzentrum. In den Fünfzigerjahren wurde kräftig ausgebaut: Ein Restaurant, ein Hotel mit 100 Betten, Bootsstation, Tanzfläche, Busbahnhof – der Issyk-See wurde zum Vorzeigeziel der sowjetischen Freizeitpolitik.
1959 begann das "goldene Jahrzehnt" des Sees. Jeden Sommer strömten Tausende Menschen aus Almaty in die Schlucht. Ein Bus fuhr halbstündlich direkt an das Seeufer. An den Wochenenden verwandelte sich das Tal in ein buntes Wirrwarr aus Zelten, Picknicks und Tanzflächen.
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Der "Schwarze Drache"
So auch am Sonntag, dem 7. Juli 1963. Der Himmel war klar, die Sonne brannte, und Hunderte Familien aus Almaty genossen den Sommertag am Wasser. Es sollte ein besonderer Tag werden: Hoher Besuch war angekündigt. Alexei Kossygin, einer der ranghöchsten Politiker der Sowjetunion, und der kasachische Parteichef, Dinmukhamed Kunajew, wurden am See erwartet.
Doch hoch oben in den Bergen hatte sich eine tödliche Gefahr zusammengebaut. Schmelzwasser des Zharsai-Gletschers sammelte sich in dem Bergsee Zharsai. Als dieser überlief und die natürliche Granit-Landbrücke durchbrach, begann ein gewaltiger Abgang: Eine Lawine aus Gestein, Wasser, Baumstämmen und Geröll – der "Schwarze Drache", wie Überlebende das Monster später nannten – wälzte sich talwärts.
Mit voller Wucht traf der Murgang auf den Issyk-See. Der Aufprall ließ das Wasser über die Ufer schäumen, Boote flogen durch die Luft, Menschen wurden an Land geschleudert. Nach jedem neuen Schwall an Geröll und Schlamm brodelte der See wie ein kochender Kessel.
Der Damm bricht
Binnen Stunden begann ein massiver Erosionsprozess des natürlichen Damms. Der See verschwand. Beide Wasserflächen, der obere und der untere Issyk-See, lösten sich regelrecht auf. Dann brach der natürliche Damm.
Der Schlammstrom fraß sich weiter ins Tal. Häuser, Straßen und Infrastruktur wurden zerstört. Das Pionierlager konnte gerade noch rechtzeitig evakuiert werden, bevor die Lawine alles mit sich riss.
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Menschen rannten um ihr Leben. Aus einer nahe gelegenen Militäreinheit rückten Soldaten aus. 2.000 Urlauber konnten gerettet werden. Noch Tage nach der Tragödie wurden in den Bergen hungrige, erschöpfte Menschen gefunden. Es handelte sich hauptsächlich um Pilzsammler, die in die Berge flüchteten, als der Schlammstrom vorbeizog.
Doch nicht alle entkamen. Wie viele Menschen ums Leben kamen, blieb lange unklar. Offiziell sprach man von etwa 100 Todesopfern. Doch inoffizielle Quellen berichten von bis zu 3.000 Toten. Viele Leichen wurden nie geborgen, der Schutt begrub sie für immer.
Das Schweigen nach der Issyk-Katastrophe
Die Katastrophe wurde nie umfassend aufgearbeitet – lange Zeit schwieg die Sowjetunion. Die Tragödie verschwand aus den Nachrichten – und aus dem Gedächtnis der Republik. Wie der einst so prächtige See selbst.
Lange blieb der Ort des Unglücks sich selbst überlassen. Erst Mitte der Achtzigerjahre begann der Wiederaufbau. Schwere Maschinen entfernten Schlamm, ein neuer Damm wurde errichtet und ein Überlaufsystem kontrolliert heute den Wasserspiegel. Bis Ende der Achtzigerjahre füllte sich der See langsam wieder mit Wasser. Doch seine Größe, Tiefe und einstige Pracht erreichte er nie wieder.
Nur noch ein Zehntel seines ursprünglichen Wasservolumens ist heute erhalten. Von einst 20 Millionen Kubikmetern sind gerade einmal zwei Millionen geblieben.
Am Ufer des Issyk-Sees steht heute ein schlichtes Gedenkkreuz. Und jedes Jahr am 7. Juli zieht eine stille Prozession hinauf in die Schlucht – in Gedenken an jenen Tag, als die Natur zeigte, wie schmal der Grat zwischen Idylle und Inferno ist.
- youtube.com: "Засекреченная трагедия озера Иссык. Загадки времени" (Russisch)
- youtube.com: "Тайна озера Иссык" (Russisch)
- silkroadadventures.info: "Природа Казахстана. Чарынский каньон" (Russisch)
- forbes.kz: "Иссыкской трагедии — полвека" (Russisch)