Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Mehr Rentner sollen arbeiten – was dabei vergessen wird

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
liegen Sie an diesem Brückenfreitag noch faul im Bett? Dann genießen Sie den freien Tag. Oder arbeiten Sie schon wieder? Dann sehen Sie es positiv: Das Wochenende ist nah. Vielleicht aber sind für Sie Feier- und Arbeitstage ohnehin längst einerlei, weil Sie zu den mehr als 21 Millionen Rentnerinnen und Rentnern im Land gehören?
Dann Achtung: Auf Sie hat es seit dieser Woche die Union abgesehen. Sie arbeiten nämlich zu wenig. Findet zumindest CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der am Sonntagabend bei Caren Miosga auf die Frage antwortete, wer denn gemeint sei mit dem Vorwurf, die Deutschen arbeiteten zu wenig: "Die Rentner zum Beispiel." Das findet auch Kanzleramtschef Thorsten Frei, der die Aussage seines Parteifreundes am Dienstagabend bei Maischberger verteidigen musste.
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Moment mal, Rentner, die zu wenig arbeiten? Qua Definition bedeutet das Rentnerdasein zwar eigentlich, keiner Erwerbsarbeit mehr nachzugehen. Weil Mann und Frau nach vielen Jahren der Arbeit und eingezahlter Rentenbeiträge sich in den letzten Jahren des Lebens verdientermaßen ausruhen sollen. Doch Deutschland fehlen Arbeits- und Fachkräfte. Da muss jetzt halt jeder ran, scheinen Linnemann und Co. zu denken. Nicht mehr nur die Jungen, die angeblich ohnehin zu faul sind, weil sie nur Work-Life-Balance und Viertagewoche im Kopf haben. Auch die Alten.
Sie merken es vielleicht, ich habe mich in dieser Woche geärgert. Über die Art, wie gerade mal wieder über ein ernsthaftes Problem diskutiert wird: Der älter werdenden Gesellschaft fehlen Arbeitskräfte. Bis zu sieben Millionen könnten es Schätzungen zufolge in zehn Jahren sein. Und ja, das Potenzial unter den fitten Alten ist beachtlich: 1,36 Millionen Vollzeitbeschäftigte könnte allein die Gruppe der 55- bis 70-Jährigen bis zum Jahr 2035 zusätzlich beisteuern, wie eine Studie der Bertelsmannstiftung unlängst ergab. Denn zu viele von ihnen gehen vorzeitig in Rente, arbeiten Teilzeit oder eben nicht über das Rentenalter hinaus, obwohl sie es könnten.
Doch die Union vermittelt momentan einen Eindruck, der, gelinde gesagt, irreführend ist: Die Alten wollten nicht mehr arbeiten, obwohl das dringend notwendig sei. Deshalb müsse man es ihnen nun mit Zuckerbrot und irgendwann vielleicht auch mit Peitsche schmackhaft machen. Diese Annahme blendet einen entscheidenden Faktor aus: die Unternehmen.
Regelmäßig wird von verschiedenen Seiten gefordert: Die Lebensarbeitszeit müsse verlängert, das Renteneintrittsalter daher höher werden. Für einige Beschäftigungsgruppen mag da was dran sein. Für all jene nämlich, die ohnehin besser verdienen und in weniger stressigen oder körperlich anstrengenden Jobs arbeiten. Denn es sind vor allem sie, die länger leben, im Schnitt bis zu sechs Jahre, wie Studien zeigen. Beamte zum Beispiel. Sie haben mit 21,5 Jahren die größte durchschnittliche Restlebenserwartung ab 65. Für die anderen aber würde eine pauschale Anhebung des Renteneintrittsalters schlicht eine Kürzung der Rente bedeuten. Denn wer aus gesundheitlichen Gründen nicht bis 68, 69 oder gar 70 arbeiten kann, der muss dann eben mit hohen Abschlägen vorzeitig in Rente gehen.
Nun scheint sich Schwarz-Rot ohnehin nicht an eine dringend notwendige große Rentenreform heranzutrauen. Weshalb die Regierung es also zunächst mit Zuckerbrot versucht: der Aktivrente. Diese den älteren Arbeitnehmern schmackhaft zu machen, war wohl Linnemanns eigentliches Ansinnen, als er bei Caren Miosga sagte, die Rentner arbeiteten zu wenig. 2.000 Euro steuerfrei soll deshalb bekommen, wer jenseits des Rentenalters (aktuell 66 Jahre) weiterarbeitet. Dummerweise gehen die meisten Menschen aber im Moment bereits mit 64 Jahren in Rente, also vorzeitig.
Nun will ich die Aktivrente nicht schlecht schreiben. Sollte der Steueranreiz nicht genutzt werden, entsteht dadurch kein Schaden. Einfach mal machen (Linnemanns Credo) ist ja ein guter Ansatz. Was mich ärgert, ist, dass bei alldem die Realität in vielen Unternehmen ausgeblendet wird.
- Lesen hier mehr zu den Vor- und Nachteilen der Aktivrente
- So bewerten t-online-Leser die Aktivrente
Kürzlich erzählte mir eine ältere Freundin, wie frustrierend es sei, sich jenseits der 60 auf ausgeschriebene Stellen zu bewerben. Sie ist Kommunikationsexpertin mit extrem viel Erfahrung. Trotzdem bekam sie nur Absagen. Ein Personalchef habe ihr, als sie nachfragte, mal ehrlich erklärt, woran das liegt: Ja, sagte er, fachlich gesehen sei sie die Beste unter allen Bewerbern gewesen. Aber das Team, das sie leiten sollte, sei nun mal sehr viel jünger als sie – da passe das mit ihrem Alter einfach nicht so.
Das ist nicht nur die Erfahrung einer Einzelnen. In einer umfangreichen Studie des Jobportals Stepstone gab die Hälfte der befragten Personaler an, dass sie Bewerber über 55 Jahre für zu alt hielten. 29 Prozent der über 50-Jährigen und 40 Prozent der über 60-Jährigen wurden ausdrücklich aufgrund ihres Alters abgelehnt. Und jeder Zehnte hat schon mal sein Alter vertuscht, um überhaupt zu einem Gespräch eingeladen zu werden.
Dabei ist das Arbeitskraftpotenzial der über 60-Jährigen wirklich groß: 81 Prozent gaben an, über das 67. Lebensjahr hinaus arbeiten zu wollen. Was gebraucht wird, sind daher Strategien, ältere Mitarbeiter im Job zu halten, weiterzuqualifizieren oder gezielt anzuwerben. Tatsächlich fehlt so etwas bei 81 Prozent der Unternehmen, wie dieselbe Stepstone-Studie ergab.
Es ist daher wohlfeil, wenn Politiker an die Älteren appellieren, sie müssten mehr und länger arbeiten, zugleich aber nicht auch die Unternehmen dazu aufrufen, diese zu beschäftigen. Es liegt nämlich vor allem an ihnen, den Arbeitgebern, wenn das Potenzial der Älteren nicht ausgeschöpft wird. Und nicht an deren Faulheit.
Ohrenschmaus
Ein Song für alle jenseits der 60, wenn die Absage kommt – trotz Top-Qualifikation.
Siegt das Recht vor der Willkür?
Für einen kurzen Moment dürften viele Länder am Himmelfahrtstag aufgeatmet haben: Das US-Gericht für Internationalen Handel hatte Trumps sogenannten Befreiungstags-Zölle für unzulässig erklärt und sie dauerhaft untersagt. Die Einfuhrabgaben, die Donald Trump mit einem nationalen Notstand begründet hatte, seien unrechtmäßig, so das Gericht – also auch die am 2. April gegen die EU verhängten und aktuell bis Anfang Juli ausgesetzten.
Das Urteil ist zwar eine Niederlage nicht nur für Trumps Wirtschaftspolitik, sondern seine gesamte Agenda, kommentiert unser US-Korrespondent Bastian Brauns. Allerdings hat Trumps Team es sogleich angefochten – und von einem Bundesberufungsgericht auch umgehend recht bekommen. Nun wird es also zum Showdown vor dem Supreme Court kommen. Ob am Ende das Recht über die Willkür siegt, bleibt weiterhin offen.
Was steht sonst noch an?
Das nächste Alpendrama droht: Ein gigantischer Gletscherabbruch im schweizerischen Lötschental hat am Mittwoch das Bergdorf Blatten überrollt und weitgehend zerstört. Nun droht die nächste Katastrophe. Weil die Geröllmassen das Flussbett der Lonza verstopfen, wird am Morgen wohl der See überlaufen, der sich dahinter gebildet hat. Geologen befürchten, das Wasser könnte eine riesige Flutwelle auslösen. Möglich ist auch, dass die Wassermassen Schutt mitreißen und sich ein Murgang, also eine Gerölllawine, ins Tal ergießt. Was das bedeuten würde, hat Panorama-Chefin Ellen Ivits hier am Beispiel des Issyk-Sees in Kasachstan aufgeschrieben, wo 1963 ein Murgang den See zerstörte.
Endlich mal etwas Positives: Das Statistische Bundesamt veröffentlicht die neuesten Inflationsdaten für Deutschland. Es wird erwartet, dass die Teuerungsrate weiter gefallen ist. Billigere Energie hatte sie im April bereits auf 2,1 Prozent und damit den niedrigsten Stand seit einem halben Jahr gedrückt.
Heute ist Weltnichtrauchertag. Falls Sie das zum Anlass nehmen wollen, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, ist das hier vielleicht noch ein zusätzlicher Anreiz: Wer das Geld statt für Zigaretten clever investiert, kann innerhalb einiger Jahre ein stattliches Vermögen aufbauen. Alles Wichtige zum Sparen mit ETFs finden Sie übrigens hier.
Lesetipps
Gute Worte: Wolodymyr Selenskyj hat Friedrich Merz in Berlin besucht. Es gab viele gute Worte. Doch wie zufrieden der ukrainische Präsident angesichts der drohenden russischen Offensive wirklich nach Hause ging, blieb ungewiss, berichtet mein Kollege Johannes Bebermeier.
Altkanzlerin: Angela Merkel lässt keine Gelegenheit aus, die Migrationswende von Friedrich Merz zu kritisieren. Dabei räumen er und Innenminister Dobrindt ihr schweres Erbe auf. Sie sollte ihren einstigen Lehrmeister Genscher beherzigen, meint Politikchef Christoph Schwennicke.
Kurswechsel: Horst Steffen ist der neue Cheftrainer von Werder Bremen. Der Wechsel an der Seitenlinie könnte auch einen neuen Kurs an der Weser bedeuten, schreibt unser stellvertretender Sportchef Benjamin Zurmühl.
Abgang: Elon Musk hört als Berater von Donald Trump auf. Er selbst sagt, seine Arbeit sei erfolgreich beendet. Doch nicht nur das ist umstritten. Sein geplanter Abgang dürfte ihm auch aus egoistischen Gründen gelegen kommen, kommentiert Wirtschaftsreporterin Frederike Holewik.
Zu guter Letzt
Mal sehen, ob ihm wenigstens das gelingt.
Egal, ob Sie arbeiten oder freihaben: Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Freitag. Morgen schreibt Ihnen Florian Harms.
Herzlich
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.
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