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Regierung in der Krise: Leben Olaf Scholz und Ampel in Paralleluniversum?


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Tagesanbruch
Lebt die Ampel in einem Paralleluniversum?

  • Daniel Mützel
MeinungVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 18.01.2024Lesedauer: 7 Min.
Ampel-Chefs Habeck, Scholz, Lindner.Vergrößern des Bildes
Ampel-Chefs Habeck, Scholz, Lindner. (Quelle: dpa/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie auch manchmal das Gefühl, dass die Ampelregierung in einer Art Simulation lebt?

Anders scheinen gewisse Phänomene nicht mehr erklärbar, etwa die Videobotschaft von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Wochenende.

Da ist die Rede vom neuen Jahr, das wegen der Bauernproteste schon "laut losgeht" (eine slapstickhafte Untertreibung), wir erfahren von der Kanzlererkenntnis, dass Krise und Konflikte offenbar für Verunsicherung sorgen, bevor Scholz die Zuhörer mit dem Versprechen besänftigen will: dass "wir in diesem Jahr besser werden müssen".

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Das ist eine durchaus eigenwillige Lesart der Lage im Land. Sie bedeutet entweder, dass Scholz bewusst an der Strategie des Einlullens festhält und gar nicht daran denkt, seinen Kommunikationskurs zu ändern. Oder dass der Kanzler den Schuss noch immer nicht gehört hat.

Eine andere Lesart lässt sich statistisch relativ präzise beschreiben: Umfragen zeigen, dass die Stimmung im Land derzeit so am Boden ist, dass die drei Ampelparteien zusammen gerade mal auf 31 Prozent kommen – und damit gleichauf mit der Union liegen. In der Einzelbewertung nehmen sich die drei Koalitionspartner wenig: Die SPD krebst bei 14 Prozent herum, die FDP würde es gar nicht mehr in den Bundestag schaffen, und auch die Grünen sinken in den Umfragen langsam gen 10-Prozent-Marke.

Auch bei den persönlichen Sympathiewerten erreicht Scholz Negativrekorde wie kaum ein Kanzler vor ihm: Nur noch 19 Prozent sind demnach mit der Arbeit des Kanzlers zufrieden – ein neuer Tiefpunkt.

Ein weiterer besorgniserregender Trend: Den Ampelparteien laufen die Mitglieder davon. Die Kanzlerpartei verlor allein dieses Jahr 15.000 Parteimitglieder (Austritte und Sterbefälle), im Jahr davor waren es rund 14.000. Auch die FDP ist 2023 um rund fünf Prozent beziehungsweise 4.200 Mitglieder geschrumpft.

Aus demokratietheoretischer Sicht sind das alles andere als hoffnungsvolle Entwicklungen: Verlieren die Parteien ihren Charakter als Transmissionsriemen zwischen Öffentlichkeit und politischem Betrieb, weil sich immer weniger Leute dort engagieren, leidet die Glaubwürdigkeit des gesamten parlamentarischen Systems.

Sehr zum Gefallen der Demokratiefeinde in diesem Land, die gerade vor Kraft kaum laufen können und bei den Ost-Wahlen im Herbst eine politische Schockwelle durchs Land senden könnten. Sowohl in Brandenburg (Wahl am 22. September) als auch in Sachsen und Thüringen (beide am 1. September) ist die AfD derzeit stärkste Kraft. In allen drei Bundesländern droht ein politisches Szenario, das sich bisher noch keiner ausmalen kann.

Vor diesem Hintergrund wäre es nicht schlecht, wenn wir eine funktionsfähige Regierung hätten. Doch die Ampel ist dermaßen mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht in der Lage ist, die Gesellschaft für den drohenden politischen Erdrutsch zu wappnen.

Um die Dauermisere der Regierung und die wachsende Wut in der Bevölkerung zu entschärfen, müsste die Ampel nichts weniger als einen Neustart wagen: eine neue Verabredung über den Kurs der Regierung, der das Wohl dieser Republik in den Vordergrund stellt und nicht Parteiidentitäten oder Partikularinteressen irgendwelcher Gruppen.

Ein neuer Koalitionsvertrag, eine Ruckrede des Kanzlers, eine gemeinsame Vision von Fortschritt und Zukunft, die den veränderten Vorzeichen in der Zeitenwende Rechnung trägt. Zum Beispiel.

Das jedoch wird wohl kaum passieren. Die Realität ist: Die Ampel nähert sich dem Ende ihrer Kräfte. Zu der gehören nicht nur die miserablen Umfragen und der Mitgliederschwund der drei Parteien, sondern auch, dass viele in Hintergrundgesprächen übereinander lästern.

Man findet nicht mehr näher zusammen, das wissen die Beteiligten. Für die meisten scheint es nur noch darum zu gehen, die zweite Hälfte der Legislatur über die Bühne zu bringen.

Große Vorhaben sind daher von dieser Regierung kaum mehr zu erwarten. Das Klimageld? Hat Linder gerade kassiert. 400.000 neue Wohnungen pro Jahr? Das Ziel wurde schon die Jahre zuvor nicht erreicht. Das Prestigeprojekt Cannabis-Legalisierung? Droht auf den letzten Metern zu scheitern. Die Sanierung der Bahn? Wir dürfen gespannt sein.

Dabei ist es ja nicht so, dass die Beteiligten per se unfähig sind oder in böser Absicht scheitern. In der Binnenlogik jeder Partei handeln die Akteure sogar einigermaßen rational und der jeweiligen Wählerschaft verpflichtet. Viele Politikerinnen und Politiker versuchen, nach bestem Wissen und Gewissen sinnvolle Projekte anzuschieben.

Auch hätte die Ausgangslage der Ampel kaum schwieriger sein können: 16 Jahre Merkel haben im Land einen riesigen Reformstau hinterlassen. Unmöglich, das in zwei Jahren zu reparieren. Obendrein kam der größte Krieg in Europa seit 1945, der Inflation, Energiekrise und wirtschaftliche Verwerfungen nach sich zog und Deutschland noch auf Jahre in die Pflicht nehmen wird.

Solch mildernden Umstände reichen aber nicht mehr aus. Es scheint nichts mehr zu geben, was diese Regierung im Innersten zusammenhält: keine endlosen Schattenhaushalte mehr, die aufkeimenden Streit mit Geld entschärfen könnten, keine Geduld mehr mit dem jeweiligen Koalitionsgegner, schon gar keine gemeinsame Erzählung mehr.

Die einstige "Fortschrittskoalition" befindet sich im fortschreitenden Verfall. Ihr einziges Ziel scheint nur noch darin zu bestehen, die Reihen so lange zu halten, bis es wirklich nicht mehr geht.

Der drohende politische Fallout nach den Landtagswahlen im Herbst könnte so ein Anlass sein.


Demokratiefeinde unter sich

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Womit wir bei der wohl größten Herausforderung für das laufende Jahr wären. Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass wir uns mal Sorgen machen müssen, dass rechtsextreme Vereine, die unter Beobachtung unserer Nachrichtendienste stehen, ein deutsches Bundesland regieren könnten?

Die AfD Thüringen ist so ein Verein. Deren Landeschef Björn Höcke hat einen ausgeprägten Hang zu nationalsozialistischem Vokabular und hat aus seinem Laden laut einhelliger Lehrmeinung eine "gesichert rechtsextreme Bestrebung" geformt. Die jetzt von der Machtübernahme im Freistaat träumt: Laut Umfragen kommt Höckes rechtsradikale Truppe aktuell auf 31 Prozent – und damit weit mehr als die regierenden Linken (15 Prozent) und die CDU (20 Prozent).

Daraus erwächst eine Besonderheit, die bei der Wahl im Herbst in ein politisches Erdbeben münden könnte. Da die CDU eine Regierung sowohl mit der Linkspartei als auch mit der AfD per Parteitagsbeschluss ausgeschlossen hat, stünde der AfD der Weg zur Macht frei.

Laut Thüringer Landesverfassung wird der Ministerpräsident vom Thüringer Landtag im ersten und zweiten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt. Sollten beide Wahlgänge scheitern, wird im dritten Wahlgang derjenige "gewählt, wer die meisten Stimmen erhält". Wie der Passus genau zu verstehen ist, ist juristisch umstritten. Die AfD leitet daraus ab, dass eine einfache Mehrheit – die Stimmen der AfD-Fraktion – reiche, um den Ministerpräsidenten im dritten Wahlgang zu küren. Dann wäre Björn Höcke Thüringens neuer Regierungschef.

Was Deutschland bei einer Regierungsbeteiligung der AfD drohen könnte, hat in den vergangenen Tagen erhöhte Aufmerksamkeit erfahren. Auslöser waren die Recherchen von "Correctiv" über ein geheimes Treffen von Rechtsextremisten, AfD-Politikern und reichen Finanziers. In einer Villa in Potsdam wurde unter anderem über einen "Masterplan Remigration" diskutiert, der im Kern die millionenfache Vertreibung von Deutschen mit Migrationshintergrund vorsieht.

Die "Correctiv"-Recherche hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst: Die SPD-Spitzenkandidatin bei der Europawahl, Katarina Barley, warf der AfD "Deportationsfantasien" vor, immer mehr Politiker fordern jetzt, ein AfD-Verbot zu prüfen.

Am Mittwochabend legte das Recherchekollektiv nach: Mit Kay Voges, dem Intendanten des Volkstheaters Wien, brachte die "Correctiv"-Redaktion ihre Erkenntnisse in Form einer szenischen Lesung auf die Bühne des Berliner Ensembles.

Wirklich Neues brachte die Darbietung allerdings nicht – abgesehen von einem AfD-Mitarbeiter, der Schlägertrupps auf einen linken Aktivisten gesetzt haben soll (hier lesen Sie mehr dazu). Hingegen ist die gewählte Form einer dramaturgischen Inszenierung durchaus fragwürdig: Auf der einen Seite eine aufwendige journalistische Recherche, die höchsten Standards genügen muss, auf der anderen eine Theaterperformance, bei der die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion verschwimmen. Meine Kollegin Annika Leister nennt das Vorgehen gar "potenziell schädlich" und kommt zu dem Schluss: "Noch mehr Drama braucht es in dieser aufgeheizten Stimmung wirklich nicht."



Was steht an?

Kommt jetzt die große (Be-)Reinigung? Der Haushaltsausschuss im Bundestag steht vor einer großen Aufgabe: Er soll am Donnerstag den Haushalt für das laufende Jahr final beraten und beschließen. Sie erinnern sich: Das wurde Ende des vergangenen Jahres schon mal versucht, doch dann stellte sich der alte Haushaltsentwurf als verfassungswidrig heraus. So was passiert ja schon mal im hektischen Regierungsalltag, und da kann man den Ampel-Abgeordneten nur wünschen, dass es beim zweiten Versuch nun besser klappt.


Abschiebeoffensive: Die Regierung will das Rückführungsgesetz durch den Bundestag bringen. Das Maßnahmenbündel soll Abschiebungen erleichtern und Polizeibehörden mehr Zugriffsrechte geben, etwa wenn Ausreisepflichtige nicht auffindbar sind. Das Gesetz hat vor allem bei den Grünen und Teilen der SPD für Kritik gesorgt, doch wird erwartet, dass die Fraktionsdisziplin gewahrt bleibt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warb im Vorfeld für die Neuregelung: Die restriktiven Maßnahmen seien notwendig, "damit wir die gesellschaftliche Akzeptanz für den Schutz von Geflüchteten erhalten".

Allerdings geht die Ampel selbst nur von einer beschränkten Wirkung aus: Rund 600 Abschiebungen mehr als im Jahr zuvor erwartet sie infolge des Gesetzes. Ob das die viel beschworene Migrationswende ist?


Lesetipps

Kein amtierender Präsident in der Geschichte der USA war so alt wie Joe Biden. Unser US-Korrespondent Bastian Brauns hat ein Porträt eines Mannes geschrieben, der die Demokratie um jeden Preis retten will.


Anlässlich der Bauernblockaden diskutiert die Ampel jetzt über eine Tierwohl-Abgabe. Ein richtiger Schritt – oder helfen teurere Fleischpreise weder den Tieren noch den Bauern? Meine Kolleginnen Frederike Holewik und Laura Mielke haben dazu unterschiedliche Auffassungen.


Zum Schluss

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Ich wünsche Ihnen einen ereignisreichen Donnerstag. Morgen kommt der Tagesanbruch wieder von t-online-Chefredakteur Florian Harms.

Herzliche Grüße

Daniel Mützel
Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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