Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Merz zeigt erstmals klare Kante

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die Woche hat mit zwei guten Nachrichten begonnen. Die erste betrifft die Situation in Gaza: Dort kommen wieder vermehrt Hilfslieferungen an, zudem soll in bestimmten Teilen des Küstenstreifens jetzt täglich eine zehnstündige Feuerpause gelten.
Zugegeben, das ist nur ein kleiner Schritt. Denn die Lage in Gaza bleibt weiterhin verheerend. Es gibt keine öffentliche Ordnung mehr, in Gaza herrscht Wildwest und die von den USA und Israel unterstützte Organisation Gaza Humanitarian Foundation schafft es nicht, die Hilfsgüter geordnet zu verteilen. Mehr als 1.000 Menschen kamen seit Mai in den viel zu wenigen Verteilzentren – und auf dem Weg dorthin – ums Leben. Chaotisch verlief auch die Verteilung der jetzt zusätzlich gelieferten Lebensmittel.
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Um die Hungersnot und die katastrophale Gesundheitslage im Gazastreifen tatsächlich zu bekämpfen, sind zudem weitaus größere Mengen an Hilfsgütern nötig als die 180 Lastwagen, die Israel gestern zusätzlich nach Gaza hereinließ. Nach Angaben der Vereinten Nationen müssten es mindestens 500 bis 600 Lastwagen sein. Täglich.
Doch das ist momentan nicht in Sicht. Und noch viel weniger in Sicht ist, was wirklich notwendig wäre: ein Ende des Krieges. Denn Israels Regierung nährt aktuell den Verdacht, dass es ihr längst nicht mehr nur um ein berechtigtes Ausschalten der Terrororganisation Hamas in Israel geht. Sondern um viel mehr: die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza und die Annexion des Westjordanlands, die das israelische Parlament gerade erst in einer Resolution befürwortet hat. Beides ist völkerrechtswidrig.
Die USA sind unter Donald Trump für eine effektive Friedenspolitik allerdings ein Totalausfall. Sie lassen den israelischen Premier und seine in Teilen rechtsextreme Regierung gewähren. Deshalb ist internationaler Druck notwendiger denn je. Nun sieht es so aus, als könnte es diesen endlich spürbar geben. Das ist die zweite gute Nachricht.
Bislang saß vor allem Emmanuel Macron auf dem Fahrersitz. Der französische Präsident drängte auf eine gemeinsame europäische Linie und ein Zusammenspiel im Rahmen der E3-Staaten (Frankreich, Großbritannien und Deutschland). In der vergangenen Woche kündigte er dann gar an, im September als erstes G7-Land einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Das ist zwar der letzte Schritt vor dem ersten. Und man kann es auch für Symbolpolitik halten, die nicht zuletzt auf die Muslime im eigenen Land abzielt. Dennoch hat Macron damit den Druck auf Israels Regierung enorm erhöht. Erst recht so kurz vor der gestern begonnenen UN-Konferenz zur Zweistaatenlösung in New York. Dass Israel nun mehr Hilfsgüter nach Gaza hereinlässt, dürfte auch eine Folge dessen sein.
Friedrich Merz dagegen bremste viel zu lange. Es schien, als fände er keinen Weg aus dem deutschen Dilemma: Wegen der besonderen Beziehung zu Israel und der Verantwortung für den Schutz des Landes im Rahmen der deutschen Staatsräson beließ er es bei Kritik und Telefonaten mit Premier Benjamin Netanjahu. Seine Kritik wurde zwar schärfer, doch was folgte daraus? Nichts.
Innenpolitisch drohte ihm deshalb der nächste Streit mit dem Koalitionspartner. Die SPD-Fraktion drängte längst auf einen Kurswechsel. Auch außenpolitisch wurde Deutschland zunehmend unglaubwürdig: Kann es der deutschen Regierung in anderen Konflikten wirklich ums Völkerrecht gehen, wenn sie sich weigert, in Gaza Menschenrechtsverletzungen anzuprangern? Doch jetzt hat Merz offenbar einen Weg aus dem Dilemma gefunden. Es wurde höchste Zeit.
Gestern tagte das Sicherheitskabinett. Das ist eine informelle Runde von Regierungsmitgliedern, die sich nur bei Bedarf und ohne feste Tagesordnung unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers trifft. Am Montag kamen der Außen-, der Innen- und der Verteidigungsminister, der Vizekanzler und die Leiter der Geheimdienste wegen der Lage in Gaza und im Westjordanland zusammen. Was der Kanzler anschließend vor der Presse verkündete, war nicht nur eine deutlich schärfere Kritik an der israelischen Kriegsführung, sondern wirkte erstmals so, als gebe es einen gemeinsamen Plan der E3. Und als sei Merz bereit, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Merz kündigte an, sich konkrete Maßnahmen vorzubehalten, sollte eine weitere Reise seines Außenministers am Donnerstag nach Israel keinen Erfolg bringen. Johann Wadephul solle auch möglichst nicht allein fliegen, sondern zusammen mit seinen Amtskollegen aus Großbritannien und Frankreich.
Bei den Maßnahmen, das wurde klar, geht es vor allem um ein mögliches Aussetzen des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel. Es regelt die gemeinsamen Handelsbeziehungen. Deutschland hatte sich bislang stets dagegen gewehrt. Ein solcher Schritt würde wirklich Druck auf Netanjahu ausüben, auch innenpolitisch. Einen ersten Testfall, ob Deutschland hierzu tatsächlich bereit ist, könnte es heute geben. Der Ausschuss der ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten will darüber beraten, die Teilnahme Israels am Forschungsförderungsprogramm Horizon Europe teilweise auszusetzen.
Außerdem will Deutschland gemeinsam mit Jordanien per Luftbrücke Hilfsgüter nach Gaza bringen. Das ist zwar auch Symbolpolitik, denn die wirklich benötigten Mengen können aus der Luft kaum abgeworfen werden. Doch auch hier will man sich mit Großbritannien und Frankreich abstimmen. Endlich ein Hauch von gemeinsamer Haltung!
Seit gestern tagt in New York nun zudem eine Konferenz der UN, die ebenfalls den Druck auf Israel erhöhen soll. Frankreich und Saudi-Arabien haben sie initiiert. Sie wollen der Zweistaatenlösung neuen Schwung geben, also der Idee zweier friedlich nebeneinander existierender Staaten: Palästina und Israel. In der aktuellen Lage mag das absurd klingen, zumal weder Israel noch die USA an der Konferenz teilnehmen.
Trotzdem könnte sie etwas bewirken. Dann nämlich, wenn die arabischen Staaten erstmalig die Hamas als Terrororganisation verurteilten und sich für ihre vollständige Entwaffnung aussprächen. Das hatte Frankreich im Vorfeld zu einem Ziel der Konferenz erklärt. Käme es tatsächlich dazu, wäre es ein wichtiges Signal an die Hamas, dass sie isoliert ist. Denn nur, wenn sie ihren Machtanspruch aufgibt, kann es überhaupt einen Frieden geben. Niemand sollte vergessen, dass es die Hamas war, die diesen Krieg begonnen hat und ihn wollte. Erst sie hat das, was in Gaza aktuell passiert, ermöglicht.
Ob es dazu wirklich kommt, ist allerdings offen. Die Konferenz wird morgen fortgesetzt. Nichtstun und dem Sterben in Gaza weiter zuschauen darf in jedem Fall keine Option mehr sein.
Historisches Bild
1943 griffen die Briten deutsche Talsperren mit besonderen Bomben an. Mehr lesen Sie hier.
Was steht an?
Staatsbesuch in Berlin: Friedrich Merz empfängt am Vormittag den jordanischen König Abdullah II. im Kanzleramt. Bei dem Treffen dürfte es auch um die soeben verkündete gemeinsame Luftbrücke für Gaza gehen. Anschließend treten beide vor die Presse.
Visite in Vilnius: Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) ist im Baltikum. In Vilnius trifft er seine Amtskollegen aus Litauen, Estland und Lettland. Außerdem besucht er die Bundeswehr-Panzerbrigade 45 "Litauen".
Buchpreis in Frankfurt: Um 10 Uhr wird bekannt gegeben, wer im Herbst den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro dotiert. Gewürdigt werden damit Persönlichkeiten, die sich in Literatur, Wissenschaft oder Kunst für den Friedensgedanken starkgemacht haben.
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Zu guter Letzt
Nicht nur die Preise ändern sich …
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Start in den Tag. Und uns allen viele gute Nachrichten. Morgen schreibt Ihnen mein Kollege Daniel Mützel.
Herzliche Grüße
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.
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