Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Frust unter russischen Soldaten "Es wurde erlaubt, dass wir alle geschlachtet werden"
Russische Kämpfer kritisieren den Kremlchef scharf: An der Front fehlten Nahrung und gute Ausrüstung. Telefonmitschnitte offenbaren die unwürdigen Bedingungen.
Es sind Tonaufnahmen, die einmal mehr enthüllen, in welch bittere Realität Russlands Präsident Wladimir Putin seine Soldaten im Kampf gegen die Ukraine schickt – Mitschnitte, die von Wut zeugen über die Ausweglosigkeit an der Front: Das ukrainische Militär hat zahlreiche Telefonate zwischen russischen Soldaten und ihren Angehörigen abgehört. Der britischen Zeitung "Guardian" liegen die Mitschnitte vor, drei von ihnen hat sie nun veröffentlicht.
Einer stammt vom 8. November, es ist ein Telefonat zwischen einem russischen Soldaten namens Andrei und seiner Mutter: "Wo sind die Raketen, mit denen Putin geprahlt hat?", fragt Andrei seine Mutter. Die Ausrüstung der russischen Streitkräfte sei zu schlecht, um vorgesehene Ziele anzugreifen. Von Munition, die die Schlacht entscheiden könnte, sei die Rede gewesen – doch diese sei nie eingetroffen.
Auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser sei katastrophal: "Niemand gibt uns etwas zu essen, Mama", sagt Andrei. "Wir schöpfen Wasser aus Pfützen, dann gießen wir es durch ein Sieb und trinken es."
"Es wurde erlaubt, dass wir alle geschlachtet werden"
Eine weiteres Telefonat führte ein Soldat mit seinem Vater am 6. November: Keine Verstärkung, keine Kommunikation – das sei die aktuelle Lage, sagt er. Die Truppe habe gerade erst einen ukrainischen Angriff überlebt. "Sie sagten, wir dürften uns nicht zurückziehen. Sonst könnten wir erschossen werden."
In einem weiteren Mitschnitt spricht ein Kämpfer mit seiner Frau, das Telefonat fand am 26. Oktober statt. Er sei vor dem Blutvergießen geflohen und denke darüber nach, zu desertieren. "Ich liege in einem Schlafsack, bin ganz nass, huste und bin völlig fertig", sagt er. "Es wurde erlaubt, dass wir alle geschlachtet werden."
Mit der Teilmobilmachung sank die Moral
Die Tonaufnahmen sind eine kleine Sensation. Denn eigentlich ist Russland sehr darauf bedacht, jegliche Veröffentlichung zu verhindern, die Einblicke in die verheerende Lage der eigenen Soldaten an der Front liefern. Doch es gebe immer noch viele russische Soldaten, die Mobiltelefone mit an die Front nehmen, um mit ihren Familien sprechen zu können, sagte der Cyber-Sicherheitsexperte Dmitri Alperovitch dem "Guardian".
Die Gespräche könnten mittels Spionagetechnik abgefangen werden – oder sobald sie über einen ukrainischen Telekommunikationsanbieter laufen. Vor allem unter den 300.000 Russen, die Putin im Zuge seiner Teilmobilmachung in den Krieg schickte, sei der Wille begrenzt, das Verbot zu befolgen, kritische Informationen weiterzugeben.
USA: Russlands Führung uneins über Winteroffensive
Auch die russische Führung zweifelt offenbar daran, inwiefern russische Soldaten zu einer möglichen Winteroffensive gegen die Ukraine in der Lage sind. "Ich denke, wir sehen widersprüchliche Dinge", sagte ein US-Regierungsvertreter am Dienstag. In der russischen Führung wollten einige weitere Offensiven gegen die Ukraine führen. Andere haben echte Fragen über die Fähigkeit Russlands, das tatsächlich zu tun."
Die Ukraine dagegen habe trotz des Winterwetters "keine Absicht", bei der Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete nachzulassen, sagte der Regierungsvertreter, der nicht namentlich genannt werden wollte, weiter.
"Ich denke, die Russen müssen das einkalkulieren." Die USA würden die Ukraine so gut es gehe mit Mitteln ausrüsten, um "sich effektiv gegen die russische Aggression zu verteidigen".
Putin will neue Ziele festlegen
Die Ukraine warnt, dass Russland eine Winteroffensive vorbereiten könnte – einschließlich eines erneuten Vorrückens auf die Hauptstadt Kiew, wenn die Böden gefroren sind. Der russische Präsident Wladimir Putin trifft sich nach Angaben des Kremls am Mittwoch mit hochrangigen Militärvertretern, um knapp zehn Monate nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine die Ziele seiner Armee für das kommende Jahr festzulegen.
Russland hatte in den vergangenen Monaten erhebliche militärische Rückschläge erlitten. Unter anderem musste die russische Armee sich aus der nordostukrainischen Region Charkiw und aus der Stadt Cherson im Süden des Landes zurückziehen.
- theguardian.com: "'We were allowed to be slaughtered': calls by Russian forces intercepted" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP