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Holocaust — Historiker über Belzec-Lager: "Mehr Juden in kürzerer Zeit töten"


"Mehr Juden in noch kürzerer Zeit töten"

t-online, Marc von Lüpke

Aktualisiert am 27.01.2021Lesedauer: 5 Min.
Juden im Warschauer Ghetto: Auch von dort gingen Transporte ins Vernichtungslager Treblinka.Vergrößern des BildesJuden im Warschauer Ghetto: Auch von dort gingen Transporte ins Vernichtungslager Treblinka. (Quelle: dpa)
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Hunderttausende Menschen starben im Vernichtungslager Belzec, trotzdem ist es fast unbekannt. Warum, erklärt Historiker Nikolaus Wachsmann im Gespräch.

Ein Interview von Marc von Lüpke

t-online.de: Professor Wachsmann, Auschwitz ist ein weltweites Symbol für den Holocaust. Das Vernichtungslager Belzec ist hingegen fast unbekannt, obwohl dort fast eine halbe Million Menschen ermordet wurden. Woran liegt das?

Nikolaus Wachsmann: In jeder Geschichte über den Holocaust muss Auschwitz eine zentrale Rolle spielen: Es gab keinen anderen Ort im vom Deutschland besetzten Europa, an dem mehr Juden ermordet wurden als dort. Dennoch wurde die Mehrheit der ermordeten Juden anderswo in Osteuropa umgebracht – erschossen auf Feldern, in Wäldern und Gruben, und vergast in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibór, Treblinka und Chelmno. Es gibt verschiedene Gründe dafür, dass diese Lager in der Nachkriegserinnerung oft vergessen worden sind: Zum einen ist Belzec im Gegensatz zu Auschwitz bereits im Krieg von den Nationalsozialisten selbst abgebaut worden. Zum anderen haben weit mehr Gefangene Auschwitz überlebt.

Woran lag das?

Ein Lager wie Belzec diente nur einem einzigen Zweck: Die ankommenden Juden so schnell wie möglich zu ermorden. In Auschwitz hingegen gab es bei den meisten Transporten von jüdischen Opfern Selektionen: in diejenigen Menschen, die als arbeitsfähig eingestuft wurden, und diejenigen, die sofort zu ermorden waren. Von denen, die zur Vernichtung durch Sklavenarbeit ausgewählt wurden, haben einige das Lager und den Krieg überlebt und dann über das erlebte Grauen berichtet. Daher haben wir zahlreiche Berichte von jüdischen Auschwitz-Überlebenden, während es kaum Zeugnisse von Überlebenden aus Belzec gibt.

Random House: Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager
(Quelle: Random House)

Nikolaus Wachsmann, geboren 1971 in München, lehrt Geschichte am Birkbeck College der Universität London. Sein preisgekröntes Buch "KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager" von 2016 ist ein Standardwerk.

Sie sagten, dass die Deutschen ihre Vernichtungslager wie Belzec selbst abgebaut haben?

Richtig. Bereits im Krieg gingen die Täter daran, ihre Spuren systematisch zu verwischen. In Belzec führt dies dazu, dass die Ermordeten 1943 aus Massengräbern geholt und verbrannt wurden. Das Lager selbst wurde abgerissen, Teile abtransportiert, der Rest dem Erdboden gleichgemacht. Belzec war das erste Vernichtungslager, das auf diese Weise von den Deutschen selbst zerstört wurde. In den Vernichtungslagern Sobibór und Treblinka ging das Morden durch Gas 1943 noch weiter. Beide Lager sind in der Nachkriegserinnerung auch deswegen etwas bekannter als Belzec, weil es dort 1943 noch zu Aufständen gegen die Täter gekommen ist.

Wie kam es zur Errichtung reiner Vernichtungslager durch die SS?

Das nationalsozialistische Deutschland war ein Land der Lager. Es gab eine riesige Anzahl verschiedenster Typen: Lager, die die deutsche "Volksgemeinschaft" zusammenschweißen sollten. Und Lager, in die tatsächliche und vermeintliche Gegner ebenso wie aus rassistischen Gründen aus der "Volksgemeinschaft" ausgegrenzte Menschen eingesperrt wurden. Vernichtungslager errichteten die Deutschen dann ab Ende 1941 im besetzen Polen, in einer Phase in der das NS-Regime die Ermordung der europäischen Juden während des Krieges zur Staatspolitk machte. Belzec was das erste dieser Lager im sogenannten Generalgouvernement, also dem Teil des besetzten Polens, der unter deutscher Zivilverwaltung stand und in dem ungefähr zwei Millionen Juden lebten.

Ab wann begannen die Deportationen nach Belzec?

Ab Frühjahr 1942. Dem ging eine längere Aufbauphase voraus, was auch damit zu tun hat, dass die NS-Machthaber noch nicht genau bestimmt hatten, wie und wo der Genozid an den Juden durchgeführt werden sollte. Es begannen an verschiedenen Stellen im deutsch besetzten Osteuropa grausamste Massenmord-Experimente: mit Zyklon B wie in Auschwitz, mit Gaswagen wie in Chelmno, und mit Motorabgasen, die in eine Baracke geleitet wurden, wie in Belzec. Der Aufbau von Belzec fand vor allem durch Männer statt, die zuvor Erfahrungen mit der massenhaften Tötung von Insassen von Heilanstalten, der sogenannten Euthanasie-Aktion, gesammelt hatten.

Wie haben wir uns Belzec vorzustellen? Anders als in Auschwitz ist kaum etwas davon übrig geblieben.

Belzec sah ganz anders aus als ein riesiges Konzentrationslager wie Auschwitz. Die reinen Vernichtungslager dienten allein dem Massenmord und waren daher sehr viel kleiner. Es gab nur eine kleine Zahl von Gefangenen, die dazu gezwungen wurden, den Lagerbetrieb aufrecht zu erhalten, und auch nur eine vergleichsweise geringe Zahl an Tätern. Es gab also nicht die riesigen Barackenlandschaften, die wir aus Fotos von Auschwitz kennen. Gleichzeitig waren alle Lager dynamische Räume. Es war nicht so, dass ein Ort wie Belzec einmal aufgebaut und dann nicht mehr verändert wurde. Es gab immer wieder Umbauten. Vor allem im Sommer 1942, als dort neue Gaskammern eingerichtet wurden; auch Teile des Lagers wurden neu gestaltet. Alles, um den Massenmord noch wirkungsvoller zu machen: also mehr Juden in noch kürzerer Zeit zu töten.

Wie haben wir uns den mörderischen Ablauf in Belzec vorzustellen?

Wenn die Opfer in Belzec an der Rampe ankamen, wurden sie aus den Waggons getrieben. Sie mussten sich ausziehen und ihre Wertsachen herausgeben. Dann hetzte man die Opfer in Richtung der Gaskammern. Dort wurden sie mittels Abgasen aus einem Motor umgebracht. Anschließend verscharrte man sie in riesigen Massengräbern.

Handelt es sich also um eine Art "industriellen Massenmords"?

Man muss mit dieser Begrifflichkeit aufpassen. Selbstverständlich war es ein durchorganisierter Prozess. Aber der Terminus "industrielle Tötung" suggeriert, dass diese Morde glatt und automatisch abliefen. Für die Opfer waren es aber unvorstellbar grauenhafte Stunden, die sie in diesen Vernichtungsanstalten zu durchleiden hatten.

Letztendlich wollten die Täter die Mordaktion für sich selbst erleichtern.

Richtig. Die Täter haben den Massenmord so gestaltet, dass er für sie selbst leichter durchzuführen war. Vor allem psychologisch gesehen. Massenerschießungen von Alten, Frauen und Kindern waren schwieriger zu verarbeiten, als die NS-Täter gedacht hatten. Deshalb die Einführung der Massenvergasungen in Auschwitz und den reinen Vernichtungslagern wie Belzec. Für die jüdischen Opfer hingegen ist hier nichts "industriell" abgelaufen. Familien wurden brutal getrennt, die Menschen angeschrien, geschlagen, gepeitscht. Tagtäglich wiederholten sich vor den Gaskammern und in den Gaskammern entsetzliche Szenen, voller Angst, Panik und schrecklicher Schmerzen.

Wussten die Opfer, was sie in den Vernichtungslagern erwartete?

Die NS-Täter versuchten, eine gewisse Tarnung aufrecht zu erhalten. Manchmal spielte an der Rampe ein Lagerorchester, manchmal versuchte ein SS-Mann die Opfer mit einer kurzen Rede über den angeblich bevorstehenden Arbeitseinsatz zu täuschen. Gleichzeitig kursierten im besetzten Polen aber zunehmend Gerüchte über den Massenmord. Die Täter setzten daraufhin umso mehr Gewalt ein, um einen möglichen Widerstand der Opfer zu unterdrücken.

Tatsächlich zwang die SS auch Gefangene, sie bei ihren Verbrechen zu unterstützen.

Die SS hatte bereits in Konzentrationslagern einzelne Gefangene dazu gezwungen, sie zu unterstützen. In Belzec wie auch in Treblinka und Sobibór gab es dann eine kleine Zahl von jüdischen Gefangenen, die im Lager arbeiten mussten. Sie hatten beispielsweise die Toten zu verscharren. Diese Menschen wollten einfach überleben. Letzten Endes wurde aber auch fast jeder von ihnen ermordet.

Die in Belzec und anderen Lagern begangenen Verbrechen blieben nach dem Krieg zum Großteil ungesühnt.

Leider wuchs der Wille der deutschen Justiz, sich mit diesem Kapitel ernsthaft auseinanderzusetzen, erst zu einem Zeitpunkt, als die meisten Täter nicht mehr belangt werden konnten.

Professor Wachsmann, wir danken für das Gespräch.

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Zum Weiterlesen:

Nikolaus Wachsmann: "KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager", München 2016


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