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DDR-Historiker Stefan Wolle: "Heutige Meckerstimmung ist ein DDR-Relikt"


Gründung der DDR 1949
"Diese heutige Meckerstimmung ist ein DDR-Relikt"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 06.10.2019Lesedauer: 9 Min.
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Hammer und Zirkel, Staatswappen der DDR: Etwas mehr als 40 Jahre existierte der Arbeiter- und Bauernstaat.Vergrößern des Bildes
Hammer und Zirkel, Staatswappen der DDR: Etwas mehr als 40 Jahre existierte der Arbeiter- und Bauernstaat. (Quelle: Werner Schulze/NBL Bildarchiv/Spiegl/imago-images-bilder)

Sie sperrte ihre Bürger ein, trotzdem war die DDR für viele Leute eine Art Idyll. Warum, erklärt Historiker Stefan Wolle. Und wieso ein Teil der DDR-Vergangenheit für ihn heute besonders problematisch ist.

"Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf", behauptete Erich Honecker. Er sollte sich irren. Am 7. Oktober 1949 war die Deutsche Demokratische Republik entstanden, sie sollte den Sozialismus verwirklichen. Und scheiterte. Weil sie ihre Bürger nur mit Gewalt in Form der Mauer und der Stasi bei sich halten konnte, so der Historiker und Zeitzeuge Stefan Wolle.

Zugleich war die DDR aber auch eine "Idylle", an die sich gerade heute viele Menschen gern zurückerinnern. Wie dieser Zwiespalt entstand, auch dies erklärt Wolle. Und nicht zuletzt, warum weniger die Ostalgie, sondern seiner Meinung nach AfD und Linkspartei für die schlechte Stimmung bei manchen Ostdeutschen verantwortlich sind.

t-online.de: Dr. Wolle, vermissen Sie etwas an der DDR?

Stefan Wolle: Nur die vielen schönen politischen Witze. Es tut mir leid, dass es die heute nicht mehr gibt. Andererseits bin ich natürlich froh, dass wir heute keine Flüsterwitze mehr brauchen.

Woher stammt Ihre Abneigung gegen die DDR? Ihre Eltern waren überzeugte Kommunisten, Sie selbst sind 1950 geboren – und damit Teil der ersten Generation, die mit dem Sozialismus aufwuchs.

Mein Vater war Redakteur beim "Neuen Deutschland", meine Mutter Übersetzerin. Beide glaubten fest an die DDR und so verliefen auch meine Erziehung und Sozialisation. Ich bin in der DDR zur Schule gegangen, habe 18 Monate bei der Nationalen Volksarmee gedient, später studiert und als Wissenschaftler gearbeitet. Die entscheidende Kluft hatte sich aber bereits am 21. August 1968 aufgetan.

Der Tag, an dem der Prager Frühling endete?

Genau. Truppen des Warschauer Pakts fielen in die Tschechoslowakei ein und beendeten mit Gewalt das dortige Projekt des demokratischen Sozialismus von Alexander Dubček. In diesem Moment tat sich die erwähnte Kluft zur DDR auf, die sich nie wieder hat schließen lassen. Und die ich auch gar nicht mehr schließen wollte.

Stefan Wolle, 1950 in Halle an der Saale geboren, ist promovierter Historiker. 1972 wurde er von der Humboldt-Universität in Ost-Berlin aus politischen Gründen verwiesen, später war er Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR. Wolle hat zahlreiche Bücher zur Geschichte der DDR publiziert, darunter "Die heile Welt der Diktatur". Seit 2005 ist er wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin.

Kommen wir noch einmal auf die Aufbau-Generation der DDR zurück, zu der auch ihre Eltern gehörten: Diese Menschen glaubten an die Verwirklichung des Sozialismus.

Zunächst war der sozialistische Staat angesichts der Anwesenheit der sowjetischen Besatzungstruppen natürlich in gewisser Weise ein erzwungenes Projekt. Aber es gab tatsächlich nach 1945 viele Menschen, für die die kapitalistische Gesellschaftsordnung Ursache von Faschismus und Krieg war. Und gemäß dieser Logik forderten diese Leute folgerichtig eine neue Gesellschaftsordnung, die auf dem gemeinsamen Eigentum an Produktionsmitteln basierte. Sprich: Sozialismus. Denn wenn allen Menschen alles gleichermaßen gehört, gibt es für niemanden eine Veranlassung, Gewinne machen zu wollen. Vor allem nicht mit Rüstungsgütern. So weit die Theorie.

In der Sowjetunion hatte der Aufbau des sozialistischen Systems zu Millionen Toten geführt.

Die negativen Seiten der Sowjetunion konnte natürlich keiner übersehen: den Stalin-Kult, den unglaublichen Terror im Lande. Aber die sogenannte Aufbau-Generation der DDR glaubte, damit erst einmal leben zu können. Um dann eben eines Tages den "wahren" Sozialismus errichten zu können. Diese Illusion teilte anfangs übrigens ein durchaus großer Teil der Bevölkerung.

Allerdings erlebte die Aufbau-Generation bald bittere Niederlagen.

Und das schon rund vier Jahre nach der Gründung der DDR. Beim Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 hatten sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass ausgerechnet die Arbeiterklasse in ihrer großen Mehrheit gegen den Arbeiter- und Bauernstaat war. Dann mussten sie hinnehmen, dass Jahr für Jahr zigtausende Menschen das Paradies der Werktätigen in Richtung Westen verließen. Das Ergebnis war der Bau der Mauer 1961. Und dann fiel der Sowjetunion als Antwort auf den Versuch, einen demokratischen Sozialismus in der Tschechoslowakei aufzubauen, nichts anderes ein, als die Panzer rollen zu lassen. Das alles hatte die Aufbau-Generation zu schlucken. Viele sind daran verzweifelt, zogen sich in unpolitische Sphären zurück. Mein Vater etwa, ein kluger, gebildeter Mann, flüchtete sich in eine kritisch-ironische Distanz. Andere wurden immer härter und sagten, wir müssen diesen Weg weitergehen. Und dann gab es die Opportunisten, die sich arrangierten. Wobei ich das nicht negativ verstehe. Diese Menschen hatten ihren Beruf, ihre Familie und die Aussicht auf eine schöne Wohnung, alles Dinge, die sie verständlicherweise nicht gefährdet sehen wollten.

Also hat man den Sieg des Sozialismus einfach immer weiter in die Zukunft verschoben?

Richtig. Irgendwie hegte man die Illusion, dass eines Tages auf der ganzen Welt der Sozialismus herrschen würde. Wenn diese Vorstellung auch inzwischen von der Geschichte widerlegt worden ist. Selbst die verbissensten Mitglieder der Linkspartei glauben ja inzwischen nicht mehr an die Thesen von der kommunistischen Weltrevolution. Die erhoffen sich nur noch ganz kleine Sekten, die kann man aber getrost unter Artenschutz stellen.

Eines Ihrer Bücher über die DDR trägt den Titel "Die heile Welt der Diktatur". Bitte erklären Sie diesen Gegensatz.

Auf der einen Seite war die DDR natürlich ein Unrechtsstaat, eine Diktatur. Auf der anderen Seite war sie für viele Leute unter den gegebenen Umständen eben auch eine Art Idylle, in der sie sich eingerichtet hatten. Die DDR war ein Land der sozialen Sicherheit, ein Staat ohne Arbeitslosigkeit, wo jeder seinen Platz hatte, wo jeder einen Krippenplatz bekam, wenn auch manchmal unter Schwierigkeiten. Nach diesen Verhältnissen begannen sich ja schon 1990 viele Menschen wieder zurückzusehnen.

Der Preis für diese "idyllischen" Verhältnisse war unter anderem die politische Freiheit.

Natürlich. Auch deswegen war die Anziehungskraft der westlichen Gesellschaft mit ihrem Wohlstand und ihren Freiheitsrechten so groß. Die DDR konnte ohne Gewalt nicht existieren. Etwa indem sie ab dem 13. August 1961 den Stacheldraht auspackte und Minenfelder anlegte. Sonst wäre der Staat regelrecht ausgeblutet. Danach war es ruhig und friedlich, die Leute haben sich irgendwie mit den Verhältnissen abgefunden. Aber wirklich akzeptiert hat die Bevölkerung die DDR nie. Das begann dann erst ab 1990: Im Rückblick wird der Sozialismus mit jedem Jahr schöner.

Besonders unbeliebt waren die vielen Massenveranstaltungen.

Ich habe gefühlt mein halbes Studium damit verbracht, zu irgendwelchen angeordneten Veranstaltungen zu gehen: Jubeleinsätze, Demonstrationen, Ernteeinsätze, was auch immer anstand. Es gab ständig irgendwelche Versammlungen, eine schwachsinniger als die andere. Aber die DDR war eben eine Mobilisierungsgesellschaft. Die SED war wie eine eifersüchtige Geliebte – ständig mussten ihr die Menschen zeigen, wie sehr sie Sozialismus und Partei liebten.

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Allerdings erlahmte selbst bei den Kommunisten allmählich der Eifer.

Einerseits wehrten sich die Leute mit Ausreden, zu den Veranstaltungen zu gehen. Andererseits akzeptierte die Partei in den Achtzigerjahren immer mehr, dass die Leute ihre Ruhe haben wollten. Die Obrigkeit sagte sich, es ist besser, wenn die Leute auf ihre Datscha fliehen als in den Westen. Oder sich gar bei der Kirche oder bei einer Opposition engagieren würden. So bildete sich also gewissermaßen die "Heile Welt der Diktatur" heraus.

Sie beschreiben eine statische Welt, ohne jede freie und öffentliche Diskussion.

Richtig. Freiheit ist ja nicht nur eine Phrase für individuelles Wohlbefinden. Ohne die Freiheit der politischen Debatte, ohne Kunst- oder auch Reisefreiheit verkümmert eine Gesellschaft innerlich. Dann ziehen sich die Menschen zurück in ihr privates Kleinklein und nehmen die Umstände hin, wie sie gerade sind. Darunter leidet eine Gesellschaft ungeheuer.

Wäre die SED nicht klug beraten gewesen, den Menschen in bestimmten Bereichen mehr Aktivität zu ermöglichen?

Umweltschutz ist dafür ein gutes Beispiel. In dem Bereich hätte man gut auf das Engagement der Leute setzen können. Aber nein, Umweltdaten wurden als Staatsgeheimnis gehütet. Und wer sich da in Gruppen zusammentat, um die Natur zu bewahren, der wurde als Staatsfeind abgestempelt. Aber das hat manche Leute natürlich nicht davon abgehalten, sich zu engagieren. Was verboten ist, das macht uns gerade scharf, wie Wolf Biermann so hübsch gesagt hat.

Um die Leute nicht "zu scharf" werden zu lassen, existierte ein umfassender Überwachungsapparat. Sie selbst wurden einst von der Partei diszipliniert.

Das war während meines Studiums Anfang der Siebzigerjahre. Ich hatte da einige ironische Bemerkungen gemacht, was man halt so sagt. Zwei Studentinnen haben das aufgeschrieben und sind damit zum Parteisekretär gerannt. Und der wollte dann demonstrieren, wie energisch er gegen die schleichende Konterrevolution vorging.

Sie mussten die Universität verlassen und sich als Hilfsarbeiter "bewähren".

Und dann bin ich als geläutertes schwarzes Schaf zur Herde zurückgekehrt, nachdem ich ihnen erzählt habe, was sie hören wollten.

Fiel Ihnen das Lügen in der Situation schwer?

Das kostete mich ein kühles Lächeln. Danach konnte ich meinen Abschluss machen, habe promoviert und konnte als Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften viel in die Sowjetunion reisen.

Klingt nach einem guten Leben.

Ich hatte da ein schönes Plätzchen für mich gefunden, das haben mir viele Leute auch schon vorgeworfen. Allerdings hat mir auf meinen Reisen die Begegnung mit der sowjetischen Realität in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren jegliche Illusion ausgetrieben, dass irgendwie eine Reform des Sozialismus möglich sei.

Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, in den Westen zu fliehen?

Für eine Flucht in den Westen war ich zu stolz. Natürlich habe ich mal darüber nachgedacht, das hat jeder. Aber irgendwie wollte ich es denen auch nicht so leicht machen.

1989 waren mit dem Fall der Berliner Mauer dann die Tage der DDR gezählt. Haben Sie es kommen sehen?

Das Ende des Kommunismus hatte ich mir nur gewaltsam und turbulent vorstellen können. Dass es einen vergleichsweise friedlichen Zusammenbruch geben würde, ahnte ich nicht.

Vorher hatten Sie es mit der Staatssicherheit zu tun bekommen.

Das war am 8. Oktober 1989. Ich kam von einer Veranstaltung aus der Gethsemanekirche in Berlin, es waren ein paar Tausend Leute da. Als wir rauskamen, war da überall Polizei. Dann hatten sie mich schließlich am Wickel.

Was ist passiert?

Ich habe versucht, den Schlägertrupps zu sagen, dass es sich nicht gehört, Leute auf der Straße zu verdreschen. Sie haben mir ein blaues Auge geschlagen, dann kam ich aufs Polizeirevier. Das war eine interessante Erfahrung: Die ersten Stunden standen wir dort mit erhobenen Händen an der Wand, dann durften wir uns erst setzen. Später gab es sogar was zu essen. Den vernehmenden Stasi-Mann habe ich dann rotzfrech angelogen, dass ich von nichts wüsste. Nach 24 Stunden haben sie mich rausgeschmissen.

Hatten Sie Angst vor der Stasi?

Die Ironie ist, dass wir damals so gut wie nichts über die Staatssicherheit gewusst haben. Es gab Gerüchte, es gab Vorstellungen von dem, was die gemacht haben. Aber effektiv wusste man nichts. Natürlich hatten alle Angst. Erst nach der Wende kam heraus, dass unsere schlimmsten Befürchtungen von der Stasi noch weit übertroffen wurden.

Was haben Sie gefühlt, als dann die Mauer endgültig fiel?

Ich war uneingeschränkt glücklich. Vor allem, weil es so friedlich ablief.

Mittlerweile sind fast 30 Jahre seit dem Mauerfall vergangen. Und die Unzufriedenheit scheint bei vielen Leuten groß zu sein.

Die Probleme durch die Wiedervereinigung werden meiner Meinung nach vollkommen überzogen dargestellt. Und vor allem teils politisch instrumentalisiert durch die AfD. Die wird im Osten durch eine merkwürdige Mischung aus Ostalgie und Rechtspopulismus angetrieben. Es ist wirklich so etwas von durchsichtig, zynisch und anmaßend, wenn die AfD mit Björn Höcke fordert, die "Wende zu vollenden". Ich hoffe, dass ihnen diese Strategie auf die Füße fällt, aber ich befürchte, die Leute fallen darauf rein.

Das große Thema der AfD wie auch der Linkspartei ist, dass der Osten immer noch benachteiligt wird.

Richtig, Hand in Hand versuchen AfD und Linkspartei in einer großen Kampagne den Ostdeutschen einzureden, sie wären bei der Wiedervereinigung untergebuttert und gedemütigt worden.

Warum fallen diese Behauptungen auf fruchtbaren Boden? Liegt es auch an der idealisierten Erinnerung an die DDR?

Es ist meiner Meinung nach weniger die Ostalgie, sondern tatsächlich das völlig überzogene Negativbild der Schwierigkeiten, die wir nach der Wende hatten. In Wirklichkeit gab es doch riesige und spürbare Erfolge: Wenn man etwa heute sich die Arbeitslosenzahl in Sachsen und Thüringen anguckt, dann liegt die bei knapp über fünf Prozent. Und diese betrug in den Ostländern einmal gut 20 Prozent. Und zwar im Jahr 2000. Oder nehmen Sie die Rentner, die wurden lange Zeit in der DDR mit 120 Mark abgespeist. Ganz anders als heutzutage. Eigentlich sind die Rentner die Gewinner der Wende. Aber alles wird schlechtgeredet, es herrscht eine unangemessen miese Stimmung im Lande. Ich finde das vollkommen unerträglich und unangemessen. Aber diese heutige Meckerstimmung ist eben auch ein DDR-Relikt.

Bitte erklären Sie das näher.

In der DDR war man für nichts verantwortlich, man saß gewissermaßen in der Ecke und meckerte. Über alles. Es gab keine Eigenverantwortung, dafür eine Meckerkultur. Und das praktizieren manche Menschen noch heute.


Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

Ich wünsche mir mehr Optimismus und eine zupackende Stimmung.

Zu guter Letzt: Was war Ihr Lieblingswitz in der DDR?

Ich erzähle keine Witze mehr aus der DDR. Die sind mittlerweile angestaubt.

Dr. Wolle, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
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