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Trans Frau in Hamburg angegriffen: "Wenn wir diese Männer nicht stoppen, machen sie immer weiter"


Ex-Dragqueen nach Angriff
"Wenn wir diese Männer nicht stoppen, machen sie immer weiter"


Aktualisiert am 10.01.2023Lesedauer: 5 Min.
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Samia Stöcker steht vor dem Schnellrestaurant, vor dem sie niedergestreckt wurde: Das andere Bild zeigt sie als Dragqueen Sina Valentina.Vergrößern des Bildes
Samia Stöcker steht vor dem Schnellrestaurant, vor dem sie niedergestreckt wurde: Das andere Bild zeigt sie als Dragqueen "Sina Valentina". (Quelle: Privat)

Jahrelang stand sie als Dragqueen auf der Bühne, jetzt kämpft sie für den Schutz von trans Personen. Sie hat genug von aggressiven, jungen Männern.

Was Samia Stöcker von der Sommernacht im Juli 2021 erzählt, weiß sie von Videoaufnahmen und Augenzeugen. Ein damals 20-jähriger Kampfsportler soll sie mit einem Faustschlag zu Boden gestreckt haben, Stöcker prallte auf den Boden und verlor mit einer blutenden Wunde am Kopf das Bewusstsein. Vorausgegangen waren transphobe Beleidigungen, die die 35-Jährige nicht hinnehmen wollte. Am 10. Januar beginnt in Hamburg der Prozess, in dem die als Dragqueen "Sina Valentina" bekannt gewordene Betroffene als Nebenklägerin auftritt.

Stöcker lebt seit fünf Jahren als trans Frau, davor als schwuler Mann. Ihre Rolle als Dragqueen hat ihr Tausende Fans eingebracht, sogar im "ZDF-Fernsehgarten" hatte sie einen Auftritt. Seit ihrem Coming-out als Transsexuelle erlebe sie eine neue Dimension von Anfeindungen. "Ich bin froh, dass jetzt über das Integrationsproblem gesprochen wird", sagt sie wenige Tage nach den Silvesterausschreitungen in mehreren Großstädten t-online. Ihre Erfahrungen will sie dafür nutzen, um trans Personen mehr gesellschaftlichen Schutz zu verschaffen.

Bloße Anwesenheit als Provokation

"Der Typ hat sich durch meine bloße Anwesenheit und meine Reaktion auf die Beleidigungen seines Kumpels provoziert gefühlt", erzählt sie vor dem Schnellrestaurant an der Reeperbahn, an dem sie zwei Tage vor ihrem Geburtstag angegriffen worden war.

Die Ecke ist eigentlich ihr Kiez. Als Dragqueen war sie jahrelang in Deutschlands bekanntestem Amüsierviertel unterwegs. Hier kennt sie viele Leute, ob im "Goldenen Handschuh" oder auf der Großen Freiheit, wo auch Olivia Jones ihre Bar hat. Doch die Angst vor weiteren Anfeindungen gehört mittlerweile auch dazu.

Selbst Prostituierte werden gezielt angefeindet

Seitdem sie offen als trans Frau lebt, werde es schlimmer. "Das ist für manche der Trigger, der die Sicherungen ausschaltet", sagt sie. "Teilweise werden die Transsexuellen auf dem Strich von Männergruppen beleidigt. Was wollen die da, die können doch einfach woanders hin", erzählt Stöcker beim Spaziergang durch die Schmuckstraße, einer Nebenstraße der Reeperbahn.

Die schlimmsten Erfahrungen habe sie allesamt mit jungen Männern mit Migrationshintergrund gemacht. "Die geben nichts auf Werte und Regeln, die hier gelten, sondern leben in Parallelgesellschaften." Deswegen sei sie froh um die Debatte, die seit dem Jahreswechsel in Deutschland geführt wird. "Ich habe kein Problem mit Migranten, wir müssen jedoch über den kleinen radikalen Teil sprechen." Stöcker selbst lebt mit einem Afghanen zusammen.

Samia Stöcker erinnert an anderes trans Opfer von Gewalt

Auch mit Männern, die sie Deutsche nennt, hat sie schlechte Erfahrungen, gerade auch auf der Reeperbahn. "Wenn mir jemand sagt, dass er mich eklig findet, tut das auch weh. Aber ein Schlag ins Gesicht ist etwas anderes." Sie erlebe immer öfter Aggressionen und blanken Hass. "Das kommt von der Unzufriedenheit dieser Jungs, um die sich nicht gekümmert wird und die keinen Platz hier finden."

Schon im "erzkonservativen" Paderborn, wo sie aufgewachsen ist, sei sie als Schwuler abfällig behandelt worden, aber "eben nicht geschlagen". Letztlich sei sie mit ihrem Schädel-Hirn-Trauma glimpflich davongekommen, sagt sie – und erinnert an den 25-jährigen trans Mann Malte C., der voriges Jahr beim CSD in Münster tödlich verletzt wurde.

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"Der Vater meines Mannes wurde von den Taliban getötet", erzählt Stöcker. "Wir müssen verstehen, wie die drauf sind, wenn die hier sind. Viele dieser Jungs sind traumatisiert und kennen nur Gewalt. Es braucht Sozialarbeiter, psychologische Hilfe und letztlich auch harte Strafen, wenn das alles nicht hilft." Die Politik müsse jetzt handeln.

Dass die Stimmung auf St. Pauli schlechter geworden ist, nimmt auch Julia Staron wahr. "Das Aggressionslevel ist nach Corona deutlich gestiegen und das entlädt sich an den Minderheiten", sagt die Quartiersmanagerin Reeperbahn zu t-online. Selbst "hart gesottene Wirte" wüssten manchmal nicht mehr weiter. Staron arbeitet für eine von Grundbesitzern finanzierte Interessengemeinschaft zur Aufwertung des Amüsierviertels. Dazu gehört auch die Kampagne "Lieb sein", die sich gegen Rassismus, Homophobie und Sexismus richtet.

Quartiersmanagerin: "Die Gewalt gegen queere Menschen ist auffällig"

"Die Gewalt gegen queere Menschen ist schon auffällig", sagt Quartiersmanagerin Staron. Während klassischer Sexismus völlig herkunftsunabhängig sei, sei es bei Homo- und Transphobie anders. "An äußeren Merkmalen oder Nationalitäten lässt sich das aber nicht festmachen, da spielen viele Faktoren eine Rolle: das intolerante Elternhaus, der genauso intolerante Freundeskreis, die Bildung und ganz sicher auch übermäßiger Alkoholkonsum mancher."

Die "Selbstheilungskraft" auf dem Kiez habe durch Corona gelitten. "Vielfalt ist hier das Selbstverständnis, da prallen manchmal Welten aufeinander", sagt Staron. Die Kampagne solle die gemeinsamen, grundsätzlichen Werte wieder stärken. "Dass sich Dragqueens teilweise bis nach Hause begleiten lassen, weil sie Angst haben, geht einfach nicht." Konkrete Zahlen zu Übergriffen kenne sie keine, auch weil viele Angriffe gegen Frauen und trans Personen immer noch zu selten zur Anzeige gebracht würden.

"Ich gehe jetzt in die Vollen und werde dazu nicht schweigen", sagt Stöcker mit ihrer entschlossenen, aber sanften Stimme. Zu viele Transsexuelle würden sich nicht trauen, "auch weil uns nicht genügend zugehört wird, weil die Augen vor den Problemen, die wir hier haben, verschlossen werden". Sie fürchtet, dass ihre Reaktion auf die Beleidigungen vor dem Angriff beim Prozess gegen sie ausgelegt werden könnten.

Was hat die Polizei getan, um den zu finden?

Im Gerichtssaal wird sie den jungen Mann treffen, der für den Faustschlag verantwortlich sein soll. Am Abend der Tat waren er und sein Begleiter unerkannt geflüchtet. "Da hat die Polizei grobe Fehler gemacht, das haben die mir auch bestätigt", berichtet Stöcker. "Wäre der sofort geschnappt worden, wäre mir einiges erspart geblieben. Hier sind doch überall Kameras, was hat die Polizei getan, um den zu finden?" Bevor die 1,81 Meter große, schlanke Frau auf Stöckelschuhen zu Boden gegangen sei, habe niemand eingegriffen oder ihr zur Seite gestanden.

Die Identität des Tatverdächtigen sei erst Monate später aufgeklärt worden. "Die wussten erst gar nicht, wo er wohnt." Stöcker zeigt sein Facebook-Profil: Der junge Mann ist offensichtlich Kampfsportler, habe "seine Faust als Waffe gegen mich benutzt". Das Titelbild seines Profils zeigt eine Mafia-Szene mit der Figur des Tony Montanas in der Mitte, in seiner Hand ein Maschinengewehr. "Das sagt doch alles darüber aus, wie der sich selbst sieht, wenn der so ein Bild benutzt."

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Samia Stöcker will Aufmerksamkeit und fordert eine Haftstrafe

Vor dem Jugendschöffengericht wird sich der per juristischer Definition Heranwachsende noch für eine weitere Gewalttat verantworten müssen. Wenige Wochen nach dem Vorfall an der Reeperbahn war er Teil einer Gruppe, aus der heraus ein Mann an einem Busbahnhof geschlagen, getreten und mit einem Messer verletzt worden sein soll.

Die Anklage: vorsätzliche Körperverletzung für den Faustschlag gegen Stöcker, der zweite Fall soll gefährliche Körperverletzung sein. Offen ist, ob er nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden könnte, teilt ein Gerichtssprecher t-online mit. Das mögliche Strafmaß bewege sich von einer Geldstrafe bis hin zu 10 Jahren Haft.

Mit der medialen Aufmerksamkeit vor dem Prozess will sie dem Kampf gegen transphobe Gewalt und Beleidigungen ein Gesicht geben, "damit sich auch andere trauen, den Mund aufzumachen". Ihren mutmaßlichen Angreifer will sie hinter Gittern sehen: "Wenn wir junge Männer wie den nicht stoppen, machen die immer weiter."

Verwendete Quellen
  • Persönliche Treffen mit Samia Stöcker und Julia Staron
  • Anfrage an die Pressestelle des Hanseatischen Oberlandesgerichtes
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