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Amoklauf bei Zeugen Jehovas in Hamburg: Der "Auserwählte" und die Prostituierte


Philipp F. hielt sich für "auserwählt"
Der Amokläufer und die Prostituierte

  • Carsten Janz
  • Gregory Dauber
Von Carsten Janz, Gregory Dauber

13.04.2023Lesedauer: 4 Min.
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Amokläufer Philipp F. besuchte eine Prostituierte (Collage mit Symbolbild): Er hielt sich für einen Auserwählten.Vergrößern des Bildes
Amokläufer Philipp F. besuchte eine Prostituierte (Collage mit Symbolbild): Er hielt sich für einen Auserwählten. (Quelle: t-online)

Der Amokläufer aus Hamburg besuchte regelmäßig eine Sexarbeiterin. Ihr gegenüber öffnete er sich. Er hielt sich offenbar für einen Auserwählten.

Der Amokläufer, der am 9. März in einer Versammlung der Zeugen Jehovas in Hamburg sieben Menschen und sich selbst erschoss, hielt sich offenbar für einen Auserwählten. Das ergaben Recherchen von t-online und dem Rechercheformat STRG_F (NDR und Funk). Diesen Verdacht nährt unter anderem ein Exklusivinterview mit einer Hamburger Sexarbeiterin, die Philipp F. regelmäßig aufgesucht haben soll.

In einem Buch, das der Amokläufer kurz vor der Tat veröffentlichte, beschäftigt er sich mit religiösen Thesen. Darin geht es auch um Prostitution. In der Widmung heißt es "Dedication. To one mesmerising beautiful special lady", gewidmet einer faszinierenden, speziellen schönen Dame. Einem psychologischen Gutachten zufolge, das die Polizei in Auftrag gegeben hat, könnte dies eine Sexarbeiterin gewesen sein.

Dass er beim Sex gefragt hat, war unangenehm

STRG_F konnte diese Sexarbeiterin ausfindig machen, die nach eigenen Angaben dreimal Besuch von Philipp F. in einem Hamburger Laufhaus hatte. Im Interview erklärte sie: "Beim Sex hat er auch oft gefragt, ob es mir gefällt. Das war auch ein bisschen unangenehm. Weil die Frauen haben dort keinen Spaß. Wir machen das wegen Geld." Philipp F.s Buch gibt Aufschluss darüber, warum er das gefragt haben könnte: Nur manchen Männern von hohem Rang erlaube Gott den Sex mit einer Prostituierten. Weiter schreibt er, zu diesen Auserwählten gehöre man, wenn die Sexarbeiterin den Besuch auch genieße.

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Das Buch von Philipp F. endet mit einem lateinischen Text. Dort steht übersetzt: "Ich kam, ich sah, ich kämpfte, ich leistete Widerstand, ich kämpfte, ich siegte. Ich bin Geschichte geworden. Ich bin der große Sohn der Himmel." Interessant sei hier der Plural "die Himmel" (caelis), so Walther Ludwig, Professor für Lateinische Philologie. Dies sei vermutlich eine Anspielung auf das Matthäus-Evangelium. Jesus bezeichnet sich dort selbst als Sohn des "Vaters, der in den Himmeln ist" (pater meus qui est in caelis). Der spätere Attentäter mache sich so zum "Bruder von Jesus", so Ludwig. Also zu einem Auserwählten.

In seinem Buch schreibt Philipp F. an anderer Stelle: Es sei Gott, der sich ihm gezeigt habe und ihm eine "Mission" aufgegeben habe, um die Lügen der Religionen offenzulegen und die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Gutachten gibt Hinweise auf Persönlichkeitsstörung

Einem psychiatrischen Gutachten zufolge, das die Hamburger Polizei in Auftrag gegeben hat, könnte der Täter an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen Anteilen gelitten haben. Das Gutachten gibt diese Bewertung auf Grundlage seines Buches und eines anonymen Hinweises auf den Täter ab. Der Hinweisgeber sprach sogar von einer Schizophrenie. Träfe das zu, so das Gutachten, könne man "allein aus deren Anwesenheit eine grundsätzliche Gefährlichkeit ableiten". "Die Diagnose einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis" erhöhe bei Männern das Risiko von Tötungsdelikten "um den Faktor 10".

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Ein naher Verwandter von Philipp F. erklärte gegenüber STRG_F und t-online, die Familie habe schon früh Veränderungen bei ihm festgestellt und ihn gebeten, sich Hilfe zu holen. Der habe das aber nicht wahrhaben wollen. Aus dem Hamburger Innenausschuss wurde bekannt, dass der Vater bereits am 16. Juni 2021 den sozialpsychiatrischen Dienst informiert hatte, weil sein Sohn "Stimmen" höre. Es folgte nur ein Gespräch, weitere Maßnahmen wurden nicht eingeleitet.

Beamter der Waffenbehörde wurde versetzt

Offenbar hatte sich der Bruder des Täters bereits Anfang Januar 2023 beim Hanseatic Gun Club gemeldet, um auf Veränderungen von Philipp F. hinzuweisen. Dort hatte Philipp F. das Schießen trainiert. Ein Sprecher des Clubs sagte t-online und STRG_F, dass man die zuständige Waffenbehörde über die Warnung informiert habe. Am 24. Januar 2023 gab es dann eine anonyme Warnung direkt bei der Waffenbehörde, in der auch von Schizophrenie die Rede ist.

Diese anonyme Warnung wurde offenbar nicht mit einer vorangegangenen Meldung des Schützenclubs in Zusammenhang gebracht. Derzeit sollen Ermittlungen klären, ob die erste Warnung des Gun Clubs korrekt bearbeitet wurde. Bei der zweiten Pressekonferenz nach der Tat hatte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer noch gesagt: "Ich hätte mir gewünscht, dass der Hinweisgeber andere Wege beschritten hätte als einen schlichten, anonymen Hinweis." Mittlerweile ist ein Beamter der Waffenbehörde in diesem Zusammenhang versetzt worden, teilte die Polizei am vergangenen Dienstag mit. Gegen ihn läuft nun ein Disziplinarverfahren. Zuerst hatte die "Zeit" über die internen Ermittlungen berichtet.

Hätte die Polizei die Tat verhindern können?

Es gab am 7. Februar zwar eine Kontrolle der Waffenbehörde bei Philipp F. – bei dieser wurde aber nichts Gravierendes festgestellt. Auch das Buch des Attentäters wurde weder bestellt noch geprüft. Dazu erklärt die Polizei, selbst wenn man das Buch gehabt und dadurch ein fachpsychologisches Gutachten angestoßen hätte, hätte man die Tat damit nicht verhindern können. Man hätte Philipp F. die Waffe demnach nicht sofort wegnehmen können.

30 Tage später erschoss der Amokläufer sieben Menschen und sich selbst.

Mittlerweile konnten alle Verletzten der Amoktat die stationäre Behandlung verlassen, wie Michael Tsifidaris, Sprecher der Zeugen Jehovas, im Interview mit t-online und STRG_F sagte. "Es sind jetzt alle zu Hause und auf dem Weg zumindest der physischen Besserung." Der Zusammenhalt innerhalb der Hamburger Gemeinden sei nach der Tat und im Zuge der Aufarbeitung noch größer geworden, sagte Tsifidaris. Betroffene berichteten von einem "Schutzwall der Liebe", der um sie herum aufgebaut werde. "Wir wissen, dass wir diesem Hass, der uns da entgegengeschlagen ist, nicht durch Angst begegnen können, sondern wir können diesem Hass durch Liebe begegnen."

Neben der Anteilnahme, die die Zeugen Jehovas in Hamburg und darüber hinaus erfahren hätten, gab es laut Tsifidaris auch "irritierende" Äußerungen. "Uns hat es bedrückt, dass wenige Stunden nach der Tat in bestimmten Medienberichten eine Täter-Opfer-Umkehr stattgefunden hat und man sich plötzlich Vorwürfen ausgesetzt sah, dass eine Gemeinde sich ihren eigenen Täter herangezüchtet hätte."

Verwendete Quellen
  • Gemeinsame Recherche mit STRG_F (NDR/Funk)
  • Interview mit Sexarbeiterin
  • Interview mit nahem Verwandten des Täters
  • Gespräche mit dem Hanseatic Gun Club
  • Interview mit Michael Tsifidaris
  • Teilnahme an Pressekonferenzen der Hamburger Innenbehörde und der Polizei
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