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Hamburger Seenotretter vor Gericht: "Das ist ein politischer Show-Prozess"


Prozess gegen Hamburger Seenotretter
"Dass Menschen verboten wird, Ertrinkenden zu helfen, ist böser als böse"

Von Mali-Janice Paede

Aktualisiert am 22.05.2022Lesedauer: 5 Min.
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Dariush Beigui auf dem Rettungsschiff Iuventa (Archivbild): Der Prozess könnte mehrere Jahre dauern.Vergrößern des Bildes
Dariush Beigui auf dem Rettungsschiff Iuventa (Archivbild): Der Prozess könnte mehrere Jahre dauern. (Quelle: Iuventa)

Weil er sich in der zivilen Seenotrettung engagiert, steht der Hamburger Binnenschiffer Dariush Beigui in Italien vor Gericht. Der Vorwurf: Beihilfe zur illegalen Einreise. Ihm drohen bis zu 20 Jahre Haft.

Viva l'Italia – die Küste Süditaliens ist Sehnsuchtsziel für unzählige Menschen. Die einen suchen hier Erholung vom Alltag. Die anderen Zuflucht vor dem Tod. Seit 2016 fließt ein stetiger Strom von Geflüchteten aus Libyen gen Italien. Ihr Weg führt sie, zusammengepfercht auf wackeligen Schlauchbooten und maroden Holzkuttern, Hunderte Kilometer weit durch das zentrale Mittelmeer.

Die Vereinten Nationen bezeichnen die Strecke als "gefährlichste Fluchtroute" weltweit. Schätzungsweise rund 15.000 Menschen sind hier in den vergangen fünf Jahren gestorben oder verschwunden. Ohne die Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) und ihre freiwilligen Helfer, die in den Gewässern patrouillieren und in Havarie geratene Flüchtlingsboote bergen, wäre diese Zahl wohl mehr als doppelt so hoch.

Rettung von Geflüchteten: Heldentat oder Verbrechen?

Einer der zivilen Seenotretter ist Dariush Beigui. Ein breiter Mann mit tiefer Stimme, unzähligen Tattoos und Irokesenschnitt, der sich selbst als Punker und "linker Halbaktivist" betitelt. Seinen Lebensunterhalt verdient der 43-Jährige als Binnenschiffer im Hamburger Hafen. Den Jahresurlaub verbringt Beigui auf Rettungsschiffen.

Drei Missionen fuhr er auf der "Iuventa", dem Kahn der NRO "Jugend hilft". Mal war Beigui Teil der Brückenbesatzung, mal Kapitän. Gemeinsam mit seinen Crew-Kollegen zog er rund 14.000 Flüchtende aus dem Meer. "Eine Heldentat", sagt Amnesty International und verlieh ihm den Menschenrechtspreis. "Ein Verbrechen", sagt die sizilianische Staatsanwaltschaft – und erhob Anklage.

Am 21. Mai startet der Prozess gegen Beigui und drei weitere leitende Iuventa-Besatzungsmitglieder.

Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Seenotretter

Die italienischen Behörden beschuldigen die Freiwilligen, mit Schmugglern zusammengearbeitet zu haben: Es habe zwar vereinzelt Fälle gegeben, in denen die Crew Menschen in Seenot gerettet habe – in den meisten Fällen habe sie jedoch die Flüchtenden an Bord der Iuventa genommen, ohne dass diese tatsächlich in Gefahr gewesen seien.

Die Asylsuchenden "werden von den Schleusern eskortiert und unweit der libyschen Küste der Besatzung der Iuventa übergeben", behauptet der zuständige Staatsanwalt Ambrogio Cartosio gegenüber der römischen Tageszeitung "La Repubblica". Als Hauptbeweismittel dienen Fotos von einem Einsatz der Iuventa-Crew im Juni 2017. Angeblich sei darauf zu erkennen, wie Teile der Besatzung mit Schlauchbooten leere Barken nach Libyen schleppen, um sie den Schleusern zurückzubringen.

Angeklagter handelte auf Anweisung der Behörde

Beigui erzählt eine andere Geschichte: Ihm zufolge hat die Iuventa sich auf Weisung der italienischen Seenotrettungs-Leitstelle zum Einsatzort begeben: "Alle NGOs im Mittelmeer arbeiten mit denen zusammen. Meist sind sie es, die uns informieren, wenn Boote in Not sind." So auch am besagten Junitag: "Die haben uns angerufen und gemeint: Da sind Menschen in Seenot. Fahre dahin und rette sie. Die haben mir doch erst gesagt, wo die waren!"

Ihm nun vorzuwerfen, die Flüchtenden seien nicht in Not gewesen, sei schlicht "absurd". "Ich handle auf Anweisung einer italienischen Behörde und werde dafür von einer anderen italienischen Behörde angeklagt. Das ist unerklärlich", so Beigui.

Die leeren Holzboote seien im Übrigen keineswegs zurück nach Libyen, sondern lediglich einige Meter beiseite gezogen worden – sie hätten die noch laufende Rettungsaktion behindert

Wanzen an Bord

Als italienische Sicherheitskräfte die Iuventa wenige Wochen nach dem betreffenden Einsatz konfiszieren, ahnt die Besatzung noch nichts von den Ermittlungen. Beigui erinnert sich: "Wir waren völlig verwirrt. Es war noch nie ein NRO-Schiff beschlagnahmt worden." Er erhält Einsicht in die Fallakte und erfährt, dass die italienischen Behörden bereits seit September 2016 hinter ihm und seinen Kollegen her sind.

Beamte hatten heimlich die Kommandobrücke am Schiff verwanzt sowie ganze Telefongespräche mitgeschnitten: "Da wurden Telefonate von Anwälten und Klienten abgehört, von Journalisten, von einem Priester. Auch in Italien ist das schwerst illegal." Beigui erzählt, der Justizminister habe sogar Ermittlung gegen Staatsanwalt Cartosio eingeleitet. Vor einer Klage bewahrte das die Iuventa-Crew nicht.

"Das ist ein politischer Show-Prozess"

Neben den vier Besatzungsmitgliedern der Iuventa werden am 21. Mai über ein Dutzend weitere Personen auf der Anklagebank sitzen: "Der Rest ist von 'Save the Children', 'Ärzte ohne Grenzen' und einer Reederei, die früher Schiffe an Nicht-Regierungs-Organisationen verchartert hat", so Beigui. Für ihn ist das Verfahren "ein politischer Show-Prozess". Das große Ziel Italiens sei es, die Flüchtlingsströme mit allen Mitteln zu stoppen. Auch wenn das Menschenleben koste.

"Wenn sie behaupten, dass diese Boote nicht in Seenot waren", meint Beigui, "legitimieren die Behörden ihr Wegschauen und Nicht-Handeln, während die Menschen ertrinken." Diese Strategie im Umgang mit Geflüchteten wiederum gründe auf der italienischen Furcht vor einem sogenannten "Pull-Effekt": Die zumeist politisch rechts eingestellten Anhänger der Pull-Effekt-Theorie (wie etwa Italiens konservative Regierung) gehen davon aus, dass die Rettung und Aufnahme von Flüchtenden andere Flüchtende animiert, ihr Glück zu versuchen und sich gen Europa aufzumachen.

Ein derartiger Kausalzusammenhang konnte bisher nicht belegt werden. Dennoch hat Italien nicht nur die eigenen Rettungsaktionen eingeschränkt, sondern beschneidet durch Gerichtsverfahren, Beschlagnahmungen und verschärfte Auflagen auch NROs in ihrer Arbeit. Für Beigui ist das unerträglich: "Es ist schon schlimm, dass weggeguckt wird, wenn da Menschen sterben. Aber dass anderen Menschen verboten wird, den Ertrinkenden zu helfen – das ist böser als böse."

Hamburger Angeklagter bereut nichts

Sollte das sizilianische Gericht Beigui für schuldig befinden, drohen ihm bis zu 20 Jahre Haft. Ob er angesichts dieser Strafe seinen Einsatz auf der Iuventa bereut? Beigui zögert. Dann sagt er: "Ich könnte es in Anbetracht der aktuellen Situation verstehen, wenn das jemand bereut. Aber ich werde es nicht mal dann bereuen, wenn ich den Rest meines Lebens im Knast sitze." Er ist überzeugt: "Ich habe gar nicht gegen das Gesetz verstoßen." Menschen bei der Flucht zu helfen, sei kein Verbrechen – ganz im Gegensatz zu dem, was die Asylsuchenden hinaus aufs Mittelmeer treibe: Versklavung, Vergewaltigung, Folter und die permanente Gefahr zu sterben.

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"Es wird diskutiert, ob wir mit Schmugglern zusammengearbeitet haben und ob die Boote in Seenot waren. In Wirklichkeit sollte es doch um die Frage gehen: Warum holen wir die Leute nicht aus den Lagern in Libyen?", so Beigui. Der Prozess dauert voraussichtlich bis zu zehn Jahre. Auch wenn Beigui von seiner Unschuld überzeugt wird, ist er nun, so kurz vor der Verhandlung, doch aufgeregt. Angst verspüre er aber keine. Dafür sei alles "gerade noch zu abstrakt, surreal und zu weit in der Zukunft."

Der Prozess startet mit einer Vorverhandlung, bei der entschieden wird, ob das Verfahren weitergeführt wird. Allein die Vorverhandlung wird sich voraussichtlich über sechs bis zwölf Monate ziehen. Kommt es zum Hauptprozess, wovon Beiguis Anwalt ausgeht, wird dieser zwischen fünf und zehn Jahren dauern.

"Bis ein Urteil steht, wäre ich schon 60 oder so. Das ist einfach zu weit weg. Ich bin Punker und mache mir schon keine Gedanken, was nächstes Wochenende ansteht." Beigui schmunzelt: "Wobei doch. Da geht's nach Italien zum Prozess". Und dann? Steht bald die nächste Mission auf einem NRO-Rettungsschiff an.

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