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Dr. Markus Merk im Interview: "Die Schiedsrichter werden angreifbar gemacht"


Dr. Markus Merk
"Die Schiedsrichter werden angreifbar gemacht"

  • David Digili
InterviewVon David Digili

Aktualisiert am 25.08.2019Lesedauer: 8 Min.
Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Betrachte manche Entwicklung im Fußball kritisch: Dr. Markus Merk.Vergrößern des Bildes
Betrachte manche Entwicklung im Fußball kritisch: Dr. Markus Merk. (Quelle: Chai v. d. Laage/imago-images-bilder)

Der frühere Unparteiische kritisiert das aktuelle System, analysiert die letzten Regeländerungen – und erklärt, warum der Video-Assistent zu einer Gefahr werden könnte.

Mit 338 Bundesligaspielen, fünf WM-Einsätzen und 49 Spielen in der Champions League war Dr. Markus Merk über Jahrzehnte eine Institution im Weltfußball. Der Unparteiische pfiff von 1988 bis 2008 in der höchsten deutschen Spielklasse, war dazu 15 Jahre lang Fifa-Schiedsrichter. Der gebürtige Pfälzer wurde gleich dreimal zum Welt-Schiedsrichter des Jahres gewählt, nur der Italiener Pierluigi Collina (sechs) und der Ungar Sandor Puhl (vier) haben mehr Auszeichnungen.

Merk gilt noch immer als Institution, war zuletzt acht Jahre lang als Experte beim Pay-TV-Sender Sky tätig. Seine Nachfolger an der Pfeife und die Veränderungen im Spiel verfolgt er noch immer mit Leidenschaft und großem Interesse.

Im Interview mit t-online.de spricht Merk über öffentlichen Druck auf Schiedsrichter, analysiert die Regeländerungen zur neuen Saison – und spart nicht mit Kritik am Video-Assistenten.

t-online.de: Herr Dr. Merk, wären Sie im Jahr 2019 noch gerne Schiedsrichter?

Markus Merk (57): Puh. Ich fange mal so an: Ich habe an meiner Karriere sehr geschätzt, dass ich eine große Entwicklung im Fußball miterleben durfte. Das fängt schon bei der Geschwindigkeit auf dem Spielfeld an. Wenn Sie heute Aufnahmen aus den 80ern sehen, dann gehen Sie doch an den Fernseher und wollen die Zeitlupe abschalten (lacht). Und durch diese Veränderungen hat auch im Schiedsrichterwesen eine unglaubliche Veränderung stattgefunden. Ein Thema: Die Grätsche von hinten war immer eher ein Kavaliersdelikt, 1990 kam dann der Begriff des "Tackling from Behind" auf, das eindeutig Rot wäre. Um auf Ihre Frage zu antworten: Für uns Schiedsrichter ist es doch spannend, Teil dieser gesamten Entwicklung zu sein.

In den letzten Jahren überstrahlte eine Entwicklung alles andere...

Ich weiß, worauf das abzielt: Die neuen technischen Hilfsmittel. Es ist für die Schiedsrichter mit Sicherheit nicht schwieriger geworden. Die Zeiten haben sich geändert, das haben sie schon immer getan, das war auch schon vor meiner Zeit so. Die Kollegen in den 50er oder 60er Jahren hatten es genauso schwer, aber eben angepasst an ihre jeweilige Zeit. Vor kurzem habe ich auf einer Veranstaltung sogar provokant gefragt: Haben wir überhaupt noch richtige Schiedsrichter?

Und die Antwort?

Ganz klar: Ja, da gibt es einige wenige, die das schon eine ganze Weile machen und ihre Entscheidungen auf dem Spielfeld treffen wollen – ohne den Video-Assistenten. Weil die nämlich noch genau wissen: Wenn ich nicht die Entscheidungsfreudigkeit – die ja zum Urwesen des Schiedsrichters gehört – mitbringe oder sogar verliere, weil ich ja das Backup im Ohr habe, dann werde ich meiner eigentlichen Funktion nicht mehr gerecht.


Ein Balanceakt…

Vielleicht hat der Begriff "Schiedsrichter" ja aber auch irgendwann einmal ausgedient wie der "Vorstopper" oder der klassische Mittelstürmer. Man muss aufpassen, dass der Schiedsrichter nicht zum Gehilfen des Video-Assistenten wird. Es ist ganz, ganz wichtig, dass das Bewusstsein der kommenden Schiedsrichter dementsprechend geschult wird, dass sie immer noch primär für die Entscheidungen auf dem Platz verantwortlich sind.

Gerade für junge Unparteiische kann das kompliziert sein.

Nehmen wir mal zwei ganz gestandene Schiedsrichter, die in der Liga über Jahre schon konstant Top-Leistungen bringen: Manuel Gräfe und Deniz Aytekin. Bei denen spüren Sie, dass sie Entscheider geblieben sind. Natürlich tut sich ein Jüngerer, der erst seit wenigen Jahren dabei ist und die Entscheidungskompetenz so noch nicht hat, schwerer – ganz zu schweigen von denen, die erst mit dem Video-Assistenten in die Bundesliga gekommen sind. Der Schiedsrichter auf dem Spielfeld muss daher dementsprechend geschult, gefordert und gefördert werden.

Sie haben mal gesagt, Sie hätten den Eindruck, dass sich mancher Schiedsrichter mittlerweile mehr auf die Technik verlässt, statt eigene Entscheidungen zu treffen.

Man sieht ja einfache Situationen, in denen der Video-Assistent eingeschaltet und das Spiel direkt um zehn Sekunden oder mehr verzögert wird. Zum Beispiel bei der Klärung einer Strafraumsituation, die eine Spielunterbrechung vorausging. Aber warum? Aus Unsicherheit. Da wird doch die primäre Entscheidungskompetenz abgegeben, und das darf nicht passieren. Wenn das Spiel schneller, dynamischer, attraktiver werden soll, dann sollte ich als Schiedsrichter eine Partie doch weitgehend laufen lassen, weniger reglementieren und mehr Spielfluss zulassen. Wir wollen nicht, dass der Schiedsrichter nur noch der Erfüllungsgehilfe des Video-Assistenten wird.

Nach dem umstrittenen Tritt von Bayerns Joshua Kimmich gegen Dortmunds Jadon Sancho im Supercup gab der DFB bekannt: Gelb war zu wenig – schwächt man damit nicht den Schiedsrichter noch im Nachhinein?

Natürlich will man damit offener kommunizieren, da geht es nicht darum, den Unparteiischen anzuklagen – aber auch nicht darum, sie zu schützen. Wenn wir uns die Kimmich-Situation also genau ansehen: Wenn man nach zwei Jahren Testphase mit dem Video-Assistenten sagt, jetzt solle alles besser werden, dann gibt es doch in der Öffentlichkeit für so eine Entscheidung – Gelb für eine klare Tätlichkeit – erst recht kein Verständnis. So ein Fehler darf nicht passieren. In der Situation konnte es eigentlich keine zwei Meinungen geben. Und da kann es dann auch für niemanden Schutz geben.

Wo sehen Sie denn noch Verbesserungsbedarf?

Dort, wo wir faktische Maßgaben haben – zum Beispiel bei der kalibrierten Abseitslinie –, da ist der Sport gerechter geworden. Bei anderen Situationen aber ist noch Luft nach oben. Wenn beispielsweise in einer Situation auf Elfmeter entschieden wird, und in einer vergleichbaren nicht und der Video-Assistent noch nicht einmal die Chance zur Korrektur hat, dann ist es natürlich nicht gerechter. Klar ist aber auch: Wir werden nie hundertprozentige Gerechtigkeit haben, da es nun mal viele Grauzonen und subjektive Empfindungen gibt. Aber als Schiedsrichter muss ich vergleichbare Situationen auch vergleichbar handhaben. Und jetzt sag ich Ihnen was…

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Ja?

Ich bin Fußballer mit Leib und Seele. Aber so, wie das in den letzten zwei Jahren gelaufen ist, gefällt es mir überhaupt nicht.

Das müssen Sie erklären!

Die Schnelligkeit unterscheidet den Fußball doch von anderen Sportarten wie beispielsweise Baseball oder American Football. Und wenn ich das mit neuen Ideen erhalten will, dann muss ich dafür kämpfen, dass alles transparent bleibt. Es geht doch nicht, dass das Spiel gefühlt alle paar Minuten unterbrochen wird, die ganzen Emotionen rausgenommen werden und niemand mehr weiß: Kann ich jetzt jubeln oder nicht? Man muss noch daran arbeiten, das Produkt so perfekt wie möglich zu machen.

Was ist da die Lösung?

Das ist eine ganz einfache Frage, die unglaublich schwer zu beantworten ist (lacht). Ich fange mal so an: Eigentlich kann es nur noch über ein Challenge-Recht gehen.

Challenge-Recht?

Heißt: Alle drei Parteien – also beide Mannschaften plus das Schiedsrichter-Team – haben zweimal pro Spiel die Möglichkeit, zu intervenieren. Nehmen wir mal die Entscheidung in der Kimmich-Situation oder die Elfmeter-Entscheidung im letztjährigen Pokal-Halbfinale Bremen gegen Bayern.

Da wurde gesagt: Der Assistent hat gar nicht eingegriffen, weil die Situation nicht als schwerwiegend eingestuft wurde. Das ist natürlich erst einmal unverständlich. Da wäre es doch dann nur gerecht gewesen, dass die betroffene Partei – in dem Fall Dortmund oder Bremen – ein Veto-Recht hat. Mir fehlt im aktuellen System diese Option. Es ist im Fußball doch wie in der Gesellschaft generell: Der Geschädigte braucht eine Stimme.

Warum wurde nicht schon bei der Ausarbeitung des Video-Assistenten daran gedacht?

Heute ist es so, dass ich mir leider sicher bin: Das Challenge-Recht werden wir nie mehr bekommen, es wird auch keine Tests diesbezüglich mehr geben. Mit dieser ganzen verfahrenen Situation wird das eigene System unnötig geschwächt. Das System und der Schiedsrichter werden angreifbar gemacht, besonders, wenn Situationen fünf Mal auf dem Fernseher angeschaut werden und trotzdem Entscheidungen wie im Fall Kimmich herauskommen. Man darf auch eins nicht vergessen…


Ja?

Der Video-Assistent war ursprünglich ja nur für die ganz klaren Situationen angedacht. Das Spektrum wurde aber maßgeblich erweitert. Wenn wir dabei geblieben wären, bräuchten wir das Hilfsmittel vielleicht ein, zwei Mal pro Spieltag. Mittlerweile haben wir aber ständig Überprüfungen in jedem Spiel. Auch, weil es die Öffentlichkeit so verlangt hat: Wenn man die Möglichkeit schon habe, dann solle man sie doch auch bei jeder Gelegenheit nutzen. Dadurch wurde man in eine Gasse gedrängt, in die man eigentlich nicht wollte. Man hat sich leider der öffentlichen Meinung gebeugt.

Wir haben jetzt die ganze Zeit über den Video-Assistenten gesprochen – dabei gab es vor der Saison noch einige Neuerungen im Regelwerk. Beispielsweise, dass nun auch Trainer und Team-Offizielle Gelbe und Rote Karten sehen können…

Diese Sanktionen gab es im Grunde schon immer, dass Trainer auf die Tribüne geschickt werden können. Jetzt wird es durch die Karten eben noch visualisiert. Man fürchtet ja offenbar, dass dort nun ständig Gelbe und Rote Karten gezückt werden. Das Gefühl habe ich aber überhaupt nicht. Nur, wenn sich ein Trainer in einer Art und Weise verhält, für die ein Spieler bestraft werden würde, dann wird auch er sanktioniert werden. Nach ein paar Wochen wird sich das einpendeln. Die Schiedsrichter werden sich da ihre Leitlinien erarbeitet haben und diese defensiv umsetzen.

Spieler der angreifenden Mannschaft dürfen bei Freistößen nun nicht mehr in der Mauer stehen.

Das ist eine super Erleichterung (lacht). Wobei man sagen muss: Das Spiel lebte ja auch immer von der Interaktion zwischen Spielern und Schiedsrichtern. Das war das Spannende. Das gibt es heute ja kaum noch, es wirkt alles so glattgebügelt. Der Sport lebt nun mal von Emotionen – aber diese neue Regel macht es uns enorm leichter. Dieses Gerangel in der Mauer, der eine drückt, der andere stößt, dann kommt mal ein Ellenbogen...

… aber fehlen dem Schiedsrichter durch die mangelnde Interaktion dann nicht auch die Erfahrungswerte für künftige Situationen?

Folgende Situation: Es gibt in Deutschland fast 80.000 „wahre Helden“ – das sind die Schiedsrichter, die unten in der Kreisliga pfeifen. Und da gibt es 500 oder vielleicht sogar 1000, die einen Elfmeter genauso pfeifen würden wie ich. Wo sind dann die Unterschiede? In der Spielführung, in der Fähigkeit, auch mit den großen Namen auszukommen und die Emotionen so glätten zu können, dass die Figos, Beckhams, Zidanes dir vertraut haben. Aber solche Charaktere gibt es heute ja kaum noch auf dem Spielfeld. Es scheint alles gleichförmiger. Und mit dem Video-Assistenten droht dann weiter die Gefahr, dass der Fußball steriler wird.

Die letzte Frage zu den Regel-Änderungen…

Hoffentlich nicht zum Handspiel… (lacht)

Ich muss Sie enttäuschen…

Was da im letzten halben Jahr in der Bundesliga passiert ist, das war ja Sodom und Gomorrha. Jeder hat gemacht, was er will, und keiner wusste mehr, was er eigentlich überhaupt macht (lacht).

Sie haben zu Beginn gesagt, Ihre Kollegen heute hätten es nicht schwerer als Sie früher oder auch Ihre Vorgänger. Nach all dem, worüber wir gerade gesprochen haben, und dem Gedanken an die Reaktionen, die aus den sozialen Medien auf Schiedsrichter einprasseln – es wirkt anders…

Eine Geschichte: Einer der größten deutschen Schiedsrichter war Kurt Tschenscher. Ein toller Mensch, eine grandiose Persönlichkeit und ein absolutes Vorbild. Wir saßen mal in einer Runde zusammen, und plötzlich sagte einer: „Heute ist alles schwerer und professioneller geworden.“ Und Kurt Tschenscher, sonst eine Seele von Mensch, hat Schnappatmung bekommen und fühlte sich schwer angegriffen. Die Situation war kurz davor, zu eskalieren. Da ist mir etwas klar geworden…

Ja?

Jede Situation ist in ihrer Zeit betrachtet schwer. Die, die in der Öffentlichkeit stehen, die müssen das heute aushalten. Genau wie damals: Wenn früher in der Sportschau – die ja von viel mehr Menschen geschaut wurde als heute – gesagt wurde: „Nie und nimmer war das ein Elfmeter“? Oder wenn in dieser großen Boulevardzeitung nach jedem Spieltag drei Schiedsrichter mit Tomaten auf den Augen abgebildet wurden? Das war auch ein Spießrutenlauf. Es gab weniger Medien als heute, aber die erreichten dadurch auch mehr Menschen. Aber, ganz wichtig: Ich habe ja immer noch die Chance, damals wie heute: Ich kann das alles an mich heranlassen – oder nicht.

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