"Tagesschau" verliert Prominenz "Diese Frage muss sich der Sender gefallen lassen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mit Judith Rakers verlässt eine der prominentesten Sprecherinnen die "Tagesschau". Nicht der erste Abgang, der Fragen aufwirft. Folgen die Trennungen einem Muster?
Es ist das Nachrichtenflaggschiff des deutschen Fernsehens: die "Tagesschau". Kein anderes vergleichbares Format kommt auf solche Reichweiten, im Durchschnitt erreicht die vom NDR produzierte Sendung mit der Hauptausgabe um 20 Uhr zehn Millionen Menschen. Dort sahen die Zuschauer am Mittwochabend einen Abschied – mal wieder. Diesmal nahm Judith Rakers nach fast zwei Jahrzehnten "Tagesschau" ihren Hut.
"Und jetzt, meine Damen und Herren, möchte ich mich ganz dezent verabschieden. Denn das ist meine letzte 'Tagesschau'-Sendung. Danke, dass Sie mich in den letzten 19 Jahren immer wieder in ihr Wohnzimmer gelassen haben. Und danke an die besten Kolleginnen und Kollegen der Welt. Einen schönen Abend noch, tschüs", sagte sie und verschwand.
Nach Abschieden wie dem von Jan Hofer im Dezember 2020 und dem von Linda Zervakis im April 2021 ist es bereits der dritte prominente Abgang in den vergangenen Jahren – und da ist Pinar Atalays Wechsel von den "Tagesthemen" zu RTL nicht mit eingerechnet.
Alle wollen zu den Privaten
Der NDR will darin auf Anfrage von t-online kein Problem erkennen. "Die von Ihnen angeführten Sprecher und Sprecherinnen der 'Tagesschau' waren alle sehr lange in dieser Rolle bei ARD-aktuell beschäftigt: 19 Jahre (Rakers), 35 Jahre (Hofer) und 8 Jahre (Zervakis)." Judith Rakers habe "die Redaktion auf eigenen Wunsch verlassen, um mehr Zeit für ihre unternehmerische Tätigkeit zu haben". Die Frage, warum die anderen beiden prägenden Gesichter eine Trennung bevorzugten und zu privaten Sendern wechselten, beantwortet der NDR nicht.
Dafür kann es jeweils individuelle Gründe geben. Linda Zervakis wollte sich unter anderem mit einem eigenen Format bei ProSieben verwirklichen. Jan Hofer hingegen wollte sich in den Ruhestand verabschieden und wechselte dann zu RTL. Daher gibt es auch andere Stimmen aus der Branche – und diese werfen die Frage auf, ob die Abgänge einer gewissen Logik folgen.
Eine dieser Stimmen kommt von Marc Bator. Auch er war 13 Jahre lang bei der "Tagesschau" und verabschiedete sich dann 2013 überraschend in Richtung Sat.1. Alle Wechsel haben also eines gemeinsam: Die prominenten Moderatoren zieht es zu den Privatsendern, von ProSieben über RTL bis hin zu Sat.1.
"Die 'Tagesschau' muss sich die Frage gefallen lassen, warum diese Abgänge inzwischen so häufig passieren", sagt Marc Bator t-online. "Dass die Art der Verträge, der Status der Beschäftigung, zu meiner Zeit ständig wechselnde Dienstzeiten und die geringe Vergütung für die Präsentation der einzelnen Sendungen im Vergleich zur Marktmacht und Reichweite des Formats aus der Zeit gefallen sind, könnte die Entscheidung für die Beteiligten leichter machen."
Geht es also ums Geld? Ist der Arbeitgeber ARD nicht attraktiv genug, weil er für die Art des Beschäftigungsverhältnisses schlichtweg zu schlecht vergütet? Schließlich sind die Sprecherinnen und Sprecher nur freie Mitarbeiter – und es ist kein Geheimnis, dass die Bezahlung sie nicht reich werden lässt. Auf t-online-Anfrage nennt der NDR die genaue Summe: "Die Sprecherinnen und Sprecher der 'Tagesschau' im Ersten werden pro Sendung honoriert, sprechen aber in der Regel mehrere Sendungen am Tag, sodass sich die Honorare summieren. Für die Hauptausgabe um 20 Uhr erhalten sie 285 Euro."
Für die Hauptausgabe um 20 Uhr erhalten sie 285 Euro.
NDR-Sendersprecherin
Diese aktuelle Summe war zuvor nicht bekannt und lässt entsprechend aufhorchen. Im Jahr 2019 lag die Vergütung noch bei 259,89 Euro pro 20-Uhr-Ausgabe im Ersten. Damit ergibt sich eine Steigerung von 25 Euro in den vergangenen fünf Jahren. Große Sprünge sind bei dem öffentlich-rechtlichen Sender nicht drin. Die Sparauflagen zwingen ARD, ZDF und Co. offenbar auch in Zeiten der Inflation zur Zurückhaltung. Oder hat es zuletzt Bestrebungen gegeben, den Aushängeschildern der "Tagesschau" Verbesserungen zu ermöglichen?
Der NDR antwortet auf diese Frage so: "Die Sprecherinnen und Sprecher sind freie Mitarbeiter*innen, die sich individuell entscheiden, welche Dienste sie anbieten. Ein Dienst umfasst in der Regel mehrere Sendungen. Die Dienstpläne werden im gegenseitigen Einvernehmen mit der Redaktion erstellt. Mitarbeiter*innen und Vorgesetzte sind bei ARD-aktuell in einem ständigen Austausch."
"Muss etwas geben, das einen größeren Reiz ausübt"
Für die nach dem Judith-Rakers-Abschied übriggebliebenen fünf "Tagesschau"-Gesichter Jens Riewa, Susanne Daubner, Julia-Niharika Sen, Thorsten Schröder und Constantin Schreiber klingt das nicht unbedingt nach der Aussicht, in Zukunft deutlich mehr zu verdienen. Vermutlich wird sich das beim ARD-Nachrichtenflaggschiff auch nie ändern. Eher sind es das Prestige und die enorme Reichweite, die zur Popularitätssteigerung führen und Optionen für andere Verdienstmöglichkeiten eröffnen. Und für die ARD geht die Rechnung auf: Nach eigenen Angaben kosten Nachrichtenformate wie "Tagesschau" oder "Tagesthemen" den Sender pro Erstsendeminute nur rund 1.800 Euro.
- Judith Rakers: So sah die Moderatorin zu Beginn ihrer Karriere aus
Spart sich der NDR in Zukunft gar eine Nachbesetzung und wird er aufgrund der neuesten personellen Veränderung keine neue Frau ins Hamburger Studio holen, um erneut für Parität im "Tagesschau"-Team zu sorgen?
Auf mehrere Fragen von t-online zu dem Thema heißt es: "Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es derzeit keine Nachbesetzung geben wird. Judith Rakers hatte zuletzt immer weniger Sendungen als Sprecherin übernommen, dadurch haben die anderen Sprecherinnen und Sprecher mehr Sendungen übernommen. In Zukunft werden sie dann häufiger die Möglichkeit haben, die 20-Uhr-Ausgabe zu präsentieren." Also genau jene Ausgabe, für die es mit 285 Euro den Höchstsatz pro Einsatz gibt – alle anderen "Tagesschau"-Sendungen werden mit geringeren Beträgen entlohnt.
Es gibt handfeste Gründe, warum die 'Tagesschau' auch nach Jahrzehnten noch immer die klare Nummer eins ist.
Marc Bator
Marc Bator bewertet seinen Job als Nachrichtensprecher im Ersten trotz aller Kritik auch rückblickend noch als "Traumjob". "Für mich waren die fast 13 Jahre als Sprecher der 'Tagesschau' eine einzigartige Zeit, ein Lebensabschnitt. Nur: Es muss ja irgendetwas geben, das entweder einen größeren Reiz ausübt oder Moderatoren daran hindert, die Tätigkeit über einen sehr langen Zeitraum auszuüben. Ausnahmen bestätigen aber bekanntlich die Regel."
Erfolg der "Tagesschau" nicht abhängig von den Präsentatoren
Außerdem fügt der Nachrichtensprecher an: "Es gibt handfeste Gründe, warum die 'Tagesschau' auch nach Jahrzehnten noch immer die klare Nummer eins ist." Tatsächlich bleibt die Sendung von einem Rückgang der Reichweiten verschont – trotz Vorwürfen gegen die Öffentlich-Rechtlichen, eines allgemein unterstellten Vertrauensverlusts gegenüber den "Mainstreammedien" oder oft politisch motivierter Kampagnen gegen die mit "Zwangsgebühren" finanzierten Sender.
Womöglich ist der Erfolg auch deshalb so konstant, weil das Format "Tagesschau" größer ist als seine Stars. Das Publikum scheint die Inhalte zu goutieren und weniger Wert auf die Persönlichkeiten vor der Kamera zu legen als bei anderen Fernsehshows. Das zumindest legt eine von t-online gerade erst ausgewertete Umfrage nahe: Denn trotz fast 20 Jahren als Sprecherin reagieren die Befragten gespalten auf die Frage, ob sie Judith Rakers vermissen werden. Und auch sonst rauschte die "Tagesschau" noch nie in den Quotenkeller, nur weil einer der Sprecher den Dienst quittierte.
- Eigene Recherchen
- Anfrage an den NDR
- Interview mit Marc Bator