"Die Wirtschaft ist bereits um vier Jahre zurรผckgeworfen"
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Die Zahl der Corona-Infektionen in Israel explodiert, die Regierung beschloss den zweiten Lockdown. Die Menschen im Land spรผren bereits die Konsequenzen der Krise, berichtet Jenny Havemann von vor Ort.
Israels Regierung hat angesichts gestiegener Coronavirus-Infektionen ab Freitag einen landesweiten "Lockdown" mit weitgehenden Beschrรคnkungen fรผr die Bรผrger verhรคngt. Die Anzahl der Neuinfektionen ist zuletzt dramatisch gestiegen. An vier Tagen in Folge wurden in der abgelaufenen Woche jeweils Rekordwerte verzeichnet. Laut Johns Hopkins University (Stand: 14. September 2020) gab es bisher rund 157.000 bestรคtigte Coronavirus-Infektionen in Israel, aktuell gibt es noch mehr als 40.300 aktive Erkrankungen.
- Zweiter Lockdown in Israel: Was macht Deutschland besser?
Der erneute Lockdown trifft Wirtschaft und Menschen im Land hart โ und er fรคllt inmitten der wichtigen Feiertage in Israel. Wie geht die Bevรถlkerung mit der Krise um?
Jenny Havemann lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Raโanana bei Tel Aviv, sie lebt seit 2010 in Israel. Dort hat die Unternehmerin eine Firma gegrรผndet, aber hรคlt auch noch in Deutschland regelmรครig Vortrรคge zu Themen wie israelische Politik, Innovationen und Antisemitismus. Fรผr t-online berichtet sie รผber die Lage im Land wรคhrend der Corona-Pandemie:
Das Leben im Corona-Risikogebiet
Die Situation in Israel ist nach dem rasantem Anstieg der Corona-Infektionen nicht einfach. Nun gibt es einen neuen Lockdown ab Freitag. Die Entscheidung, damit erst an diesem Tag zu beginnen, hat mit dem jรผdischen Kalendar zu tun. Dann beginnen die Hohen Feiertage, Rosh Hashana, Yom Kippur und direkt danach eine Woche Sukkot.
Die meisten Tage aus diesem drei-wรถchigen Lockdown wรคren somit sowieso Schulferien gewesen. Fรผr die Kinder ist es also keine besondere Umstellung. Fรผr die Eltern und die Wirtschaft stellt der Lockdown allerdings ein sehr groรes Problem dar. Viele verbringen ihren Urlaub wรคhrend der Feiertage im Ausland. Dadurch, dass Israel die Grenzen geschlossen hat und im Ausland als Risikoland gilt, bleiben die allermeisten hier und haben daher in Israel Hotels gebucht. Diese Buchungen kรถnnen sie jetzt aber nicht wahrnehmen, denn wir dรผrfen uns nicht mehr als 500 Meter vom eigenen Haus entfernen.
Probleme in Kindergรคrten
Bereits jetzt sind die steigenden Corona-Fallzahlen zu spรผren. Wir bekommen seit dieser Woche Anweisungen aus dem Kindergarten unseres fรผnfjรคhrigen Sohns, dass wir ihn deutlich vor 16 Uhr (normale Abholzeit) abholen mรผssen. Gestern um 15 Uhr, heute schon um 14 Uhr. Der Grund ist, dass viele Kindergรคrtnerinnen in Quarantรคne sind und die Stadt unter Personalmangel leidet. Diese Meldungen kommen teilweise sehr kurzfristig. Ich habe am Montag mehrere Kinder vom Kindergarten abgeholt und nach Hause gebracht, weil andere Eltern nicht so schnell reagieren konnten.
Viele Eltern schreiben der Stadtverwaltung und beschweren sich, dass wir den vollen Preis fรผr die Nachmittagsbetreuung zahlen, ohne sie zu bekommen. Beim ersten Lockdown hatte die Stadtverwaltung diese Ausfรคlle finanziell kompensiert.
Lockdown wรคhrend der Feiertage
Vor den Feiertagen ist in Israel auch ohne Corona die Hรถlle los, besonders in den Supermรคrkten. Aber wรคhrend der Pandemie gibt es eine zusรคtzliche Schwierigkeit: Es dรผrfen nicht mehr alle Menschen gleichzeitig in die Lรคden. Bei kleinen Lรคden sind es teilweise nur vier Leute gleichzeitig. Kinder zum Einkauf mitzunehmen ist somit unmรถglich.
Die Reaktionen in der Bevรถlkerung auf den zweiten Lockdown sind dagegen sehr unterschiedlich. Menschen, deren wirtschaftliche Existenz nun am seidenen Faden hรคngt, sind verstรคndlicherweise sauer. Geschรคftsinhaber fordern Hilfe vom Staat und drohen, dass sie sich weigern werden, ihre Geschรคfte und Restaurants zu schlieรen, falls diese Hilfe nicht gewรคhrt wird. Die Woche vor dem Lockdown nutzen momentan auch Viele, um nochmal Abends auszugehen. Auch ich treffe mich morgen Abend mit zwei Freundinnen, mit Maske, versteht sich.
Pandemie trifft Wirtschaft hart
Schon jetzt ist der laxe Umgang mit der Pandemie ein Problem. Auch in Tel Aviv halten sich viele Bars und Restaurants nicht an die Einschrรคnkungen. Ich sah selbst am Abend oft volle Bars und Freunde erzรคhlten mir, dass Menschen dort kaum Masken tragen wรผrden.
Die Wirtschaft des Landes ist durch die gegenwรคrtige Krise bereits jetzt um vier Jahre zurรผckgeworfen geworden, laut Statistiken des "Central Bureau of Statistics" ist der Konsum um etwa 13 Prozent zurรผckgegangen. Israel, das vor der Corona-Krise eine beinahe Vollbeschรคftigung hatte, ist nun mit etwa 15 Prozent Arbeitslosigkeit konfrontiert. Eine Freundin von mir verlor ihren Job beim ersten Lockdown. Zum Glรผck hat sie einen neuen jetzt kurz vor dem zweiten Lockdown gefunden.
Ultra-Orthodoxe halten sich nicht an Auflagen
Hinzu kommt eine sehr instabile politische Lage im Land. Seit Wochen demonstrieren die Menschen gegen Korruption, gegen Netanjahu, gegen die Regierung. Es hat sich eine Art Corona-Notregierung gebildet aus Netanjahuโs Likud, Gantzโs Blau&Weiss Bรผndnis, den beiden ultra-orthodoxen Parteien und noch ein Paar kleineren Parteien.
Und genau da liegt das Problem: Wรคhrend es Netanjahu und Gantz grundsรคtzlich darum geht, die Wirtschaft am Laufen zu halten, boykottieren die Ultra-Orthodoxen alles, was ihren Wรคhlern nicht gefรคllt.
Die Ultra-Orthodoxen im Land halten sich oft nicht an die Corona-Auflagen, insbesondere in Schulen oder bei Feiern. Immer wieder wurden Videos und Bilder auf Twitter von israelischen Journalisten geteilt, die zeigten, wie Tausende Ultra-Orthodoxe ohne Masken und Abstand an Hochzeitsfeiern in Hallen teilnahmen. Sie weigern sich auรerdem, die Beschrรคnkungen wรคhrend der Hohen Feiertage zu akzeptieren, es dรผrfen beispielsweise nur zehn Menschen gleichzeitig in einer Synagoge beten.
Ich hoffe sehr, dass wir in Israel die Zahl der Infektionen wieder senken kรถnnen. Am Ende wird viel vom Lockdown abhรคngen und davon, ob die Polizei in der Lage ist, die Corona-Maรnahmen auch durchzusetzen.
- Eigene Recherche