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PFAS-Chemikalien: Wie das Asbest des 21. Jahrhunderts das Land verseucht


Hochtoxische Stoffe in vielen Produkten
Es ist schwer, diesem Gift zu entkommen


Aktualisiert am 24.02.2023Lesedauer: 5 Min.
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Eine Frau in Regenjacke trägt einen Wanderrucksack (Symbolbild): Nahezu alle imprägnierten Textilien enthalten hochgiftige Chemikalien. Auch in vielen anderen Gegenständen finden sich die sogenannten "PFAS". (Quelle: IMAGO/Addictive Stock)

Viele Regionen in Deutschland sind verseucht: Giftige Stoffe aus Müllhalden, Kläranlagen und Fabriken belasten die Umwelt und bedrohen längst auch die Bevölkerung.

Sie sollen unfruchtbar machen, gelten als krebserregend und setzen dem Immunsystem zu: An mehr als 1.500 Orten in Deutschland lauern Gifte in Böden und Grundwasser, die die menschliche Gesundheit ernsthaft bedrohen. Eine Recherche mehrerer europäischer Medien, darunter ARD, NDR und die "Süddeutsche Zeitung", hat diesen Missstand nun aufgedeckt.

Zu den als "PFAS" – kurz für "per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen" – bezeichneten Giften zählen mehr als 10.000 verschiedene Chemikalien, die künstlich hergestellt und in zahlreichen Alltagsgegenständen verwendet werden. Sie finden sich unter anderem in Beschichtungen von Coffee-to-go-Bechern, Papier, Wimperntusche, Pfannen, Regenjacken und Zahnseide.

Denn viele Hersteller schätzen besonders eine Eigenschaft der Substanzen: PFAS sind wasserresistent und weisen Fette, Öle und Schmutz ab. Auch als Kältemittel in Kühlregalen, Wärmepumpen und Klimaanlagen in Autos sind sie weitverbreitet, obwohl es natürliche Alternativen wie Propan gibt, die umweltfreundlich und meist noch effizienter sind.

Doch was ideal ist, um Kosmetika einen langen Halt zu verleihen, Lebensmittelverpackungen zu beschichten und Outdoor-Kleidung regenfest zu machen, bleibt auch dann noch, wenn die Produkte längst entsorgt sind.

Die Stoffe sind so stabil, dass sie Kläranlagen und Abfalldeponien trotzen, sich über Wasser, Luft und lose Erde in der Umwelt verteilen und dort sehr lange bleiben. Sie gelten daher als "ewige Chemikalien" – einzig die sehr hohen Temperaturen in Müllverbrennungsanlagen können die Moleküle vollständig zerstören. Giftig, überall anzutreffen und in ihrer Gefährlichkeit lange unterschätzt - damit können PFAS als Asbest des 21. Jahrhunderts gelten.

Verseuchte Gebiete in ganz Deutschland

Die jüngste Recherche hat nun aufgedeckt, welche Regionen in Deutschland besonders hohe PFAS-Konzentrationen aufweisen. Dort könnte ein erhöhtes Risiko für die Bevölkerung herrschen. Die meisten Messstellen, an denen der Grenzwert für die PFAS-Konzentration im Grundwasser von 100 Nanogramm pro Liter demnach überschritten wurden, liegen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sowie in Sachsen, Thüringen und entlang der Unterläufe von Weser und Elbe.

An einigen Orten übersteigt die Konzentration den gesetzlichen Grenzwert sogar um mehr als das Tausendfache: Betroffene Orte finden sich in NRW, Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Baden-Württemberg und Bayern. Deutlich erhöhte Konzentrationen zwischen 1.000 und 100.000 Nanogramm pro Liter liegen außerdem auch in Mecklenburg-Vorpommern und im Großraum Bremen.

PFAS-Hotspots finden sich den Auswertungen zufolge vor allem auch rund um die Chemiefabriken, in denen die Chemikalien hergestellt werden, denn sie entweichen unter anderem aus Industrieschornsteinen. In Deutschland stehen sechs solcher Chemiewerke, mehr als in jedem anderen Land der EU: Lanxess produziert PFAS in Leverkusen, Solvay in Wimpfen, Daikin in Frankfurt und im bayerischen Gendorf haben sich im selben Industriegebiet mit Archroma, W.L. Gore und 3M sogar drei Hersteller angesiedelt.

Außer Archroma, die zu keinem Statement bereit waren, geben alle Hersteller laut ARD, NDR und "Süddeutscher Zeitung" an, sich an geltende Gesetze zu halten und zu versuchen, die Schadstoffbelastung zu senken. Eine Perspektive für ein Ende der PFAS-Produktion gibt es zurzeit jedoch nur bei 3M – bis 2025 will der Konzern aus dem Geschäft aussteigen.

Verdacht seit den 1960er-Jahren

"Gekommen, um zu bleiben", titelte das Umweltbundesamt 2020 in einer Informationsbroschüre über die Gefahren von PFAS. Auch damals waren die Risiken schon längst bekannt, wiederholt waren extrem belastete Orte wie der ehemalige Flughafen Tegel in Berlin und der Flughafen Nürnberg in den Medien, da dort massiv mit PFAS-haltigem Löschschaum gearbeitet worden war.

Die größten Hersteller dieser ewigen Chemikalien wissen seit den 1960er-Jahren um deren Verbreitung im menschlichen Körper und beim US-Chemiekonzern DuPont stellte man bereits damals fest, dass PFAS bei Ratten und Hasen die Leber anschwellen lassen. Doch geschehen ist bis heute kaum etwas.

Laut Bundesumweltministerium sind in der EU aktuell drei von Tausenden dieser Jahrhundertchemikalien verboten, allerdings mit recht umfassenden Ausnahmen, beispielsweise für Löschschäume, Fotobeschichtungen, Outdoor-Textilien und viele Industriestoffe. Bisher gebe es hier "keine geeigneten Alternativen", heißt es aus dem Ministerium. Ende Februar sollen zwar sechs weitere PFAS auf die Verbotsliste kommen, doch auch hier sind Ausnahmeregelungen vorgesehen. Der riesige Rest bleibt vorerst unangetastet. Auch Regeln für die systematische Entsorgung von PFAS fehlen bisher.

Der Druck auf die EU-Kommission wächst

Die Zögerlichkeit der Politik in Brüssel hat inzwischen die Umweltagenturen mehrerer europäischer Staaten auf den Plan gerufen: Anfang des Monats haben Deutschland, Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Schweden bei der EU-Chemikalienbehörde einen Vorschlag eingereicht, der ein Verbot nahezu aller PFAS vorsieht. Knapp 10.000 der Stoffe stehen auf der Abschussliste, die auch für importierte Güter gelten soll. Doch eine Entscheidung der EU-Chemikalienwächter wird frühestens 2025 erwartet.

"Wir erwarten hier eine massive Abwehr und Lobbyarbeit der chemischen Industrie", sagt Antonia Paul, Pressesprecherin der Deutschen Umwelthilfe auf Anfrage von t-online. Schon jetzt scheint sich die Branche vorzubereiten - denn mit der Herstellung von PFAS machen viele Unternehmen weiterhin ein gutes Geschäft. So drängt beispielsweise der europäische Lobbyverband der Chemieindustrie, CEFIC, darauf, bei weiteren Beschränkungen für die Herstellung, Inverkehrbringung und Verwendung von PFAS eine "weitreichende Ausnahmeregelung" für eine besonders nachgefragte PFAS-Sorte zu bekommen.

Mit den verbleibenden Umwelt- und Gesundheitsbedenken würden sich die Hersteller dann im Rahmen einer freiwillige Selbstverpflichtung kümmern - ohne bindende Regeln.

PFAS selbst in Blut und Muttermilch nachweisbar

Wie sinnvoll dies angesichts der bereits schweren Folgen der PFAS-Verseuchung sein dürfte, scheint fraglich. PFAS werden heute überall nachgewiesen; über die Atemluft und Lebensmittel aus belasteten Pflanzen und Tieren gelangen sie in den Körper und lassen sich sogar im menschlichen Blut und in Muttermilch nachweisen, mahnt das Umweltbundesamt. Schwangere Frauen können die Stoffe an ihre ungeborenen Kinder übertragen, stillende Mütter die Gifte über die Milch an ihre Babys.

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Während PFAS bei Erwachsenen vor allem mit Unfruchtbarkeit und Krebserkrankungen in Verbindung gebracht werden, können die Stoffe auch die Wirkung von Impfungen verringern, das Immunsystem schwächen, schlechte Cholesterinwerte und eine Erkrankung mit Diabetes Typ 2 wahrscheinlicher machen. Bei Neugeborenen gelten PFAS als ein möglicher Grund für ein verringertes Geburtsgewicht. Zu möglichen Langzeitschäden gibt es bisher noch kaum Forschungsergebnisse.

Kein Erdteil bleibt verschont

Diese Probleme sind dabei keinesfalls auf die Bundesrepublik beschränkt. Ein Blick über die Grenzen zeigt: Überall in Europa finden sich verseuchte Gebiete; am schlimmsten ist die Situation der jüngsten Recherche zufolge in Belgien.

Im vergangenen Sommer wurden dort die Einwohner der flämischen Kleinstadt Zwijndrecht, auch ein PFAS-Produktionsstandort der Firma 3M, angewiesen, die Eier ihrer Hühner nicht zu essen und ihr selbst angebautes Obst und Gemüse zu entsorgen. Zu groß seien die gesundheitlichen Risiken durch die chemische Belastung der Umwelt. Im Umkreis von 5 Kilometern der Fabrik wurden den Anwohnern Bluttests für Rückstände der Chemikalien angeboten. Viele Menschen gingen auf die Straße, um ihrer Wut Luft zu machen.

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Der Selbsttest schwedischer Umweltschützer zeigt hingegen, dass sich PFAS wohl auch außerhalb solcher Extremzonen im Blut ablagert: In Göteborg ließen zwölf Mitglieder der Naturschutzorganisation ChemSec ihr Blut analysieren – bei neun von ihnen lag der PFAS-Wert über der Grenze der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit.

Über den Wasserkreislauf reist PFAS-belastetes Wasser auch längst um die ganze Welt: "Es regnet PFAS", warnte eine groß angelegte Studie im Sommer 2022. Die beteiligten Forscher der Universität Stockholm hatten die toxischen Chemikalien sogar im Regenwasser auf der tibetischen Hochebene und im antarktischen Schnee gefunden.

Verwendete Quellen
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