Gewissensfrage Sind Babys von Natur aus soziale Wesen?
Gut und böse können schon Babys unterscheiden. Das haben Entwicklungspsychologen der Universität Yale haben herausgefunden. Babys kommen also bereits mit einer Form von Gewissen auf die Welt. Heißt das im Umkehrschluss, dass Eltern keinen Einfluss auf die moralische Entwicklung ihrer Kinder haben? Wir sind der Frage nach dem angeborenen Gewissen und seinen Folgen nachgegangen.
Das Meiste von dem, was wir für gut halten, ist erlernt. Sonst wären auch die moralischen Sitten in den verschiedenen Kulturkreisen nicht so unterschiedlich. Aber es gibt Dinge, die empfinden alle Menschen auf der Welt als richtig oder falsch.
Was geht in einem Babyköpfchen vor?
Das zumindest meinen Forscher der Universität Yale, allen voran Paul Bloom, Professor für Psychologie. In seinem Buch "Jedes Kind kennt Gut und Böse" fasst er zusammen, wie er und seine Kollegen versucht haben, herauszufinden, was im Inneren eines Babyköpfchens vor sich geht. Doch selbst Dreijährige können sich nicht mehr bewusst an ihre Babyzeit erinnern. Erinnerungen, die man vergleichen könnte, gibt es also nicht. Auch moderne bildgebende Verfahren eignen sich nur bedingt.
Babys fühlen sich von gemeinen Personen abgestoßen
Bloom sagt von sich selbst, er würde für fünf Minuten im Kopf eines Zweijährigen einen Monat seines Lebens hergeben, für fünf Minuten als Säugling sogar ein halbes Jahr. Bis das möglich ist, arbeiten er und seine Kollegen aber mit sogenannten Blickzeitstudien. Das heißt, sie nutzen die Augenbewegungen der Kinder als Fenster zur Seele. So fanden die Forscher heraus, dass Babys sich zu hilfsbereiten Personen mehr hingezogen fühlen als zu neutralen, zu neutralen aber mehr als zu solchen, die sich gemein verhalten.
Gute Sozialpartner sichern das Überleben
Babys reagieren also sehr feinfühlig auf gute oder schlechte Taten und zwar lange, bevor sie selbst in der Lage sind, Gutes oder Schlechtes zu tun. Die Frage ist, warum tun sie das? Weil sie mit einem Gewissen auf die Welt gekommen sind? Oder weil sie genau das tun, was ihnen das Überleben sichert? Denn schließlich sind Babys absolut hilflos und damit abhängig von anderen, einem sozialen Netz, das sie auf der körperlichen wie auf der Gefühlsebene mit allem Notwendigen versorgt.
Die intuitive Fähigkeit, gute Sozialpartner zu erkennen und diese auch für sich zu gewinnen, ist also überlebenswichtig. Geht man jetzt davon aus, dass unser Erbgut noch gar nicht verstanden hat, dass wir schon eine ganze Weile in der Neuzeit angekommen sind, so kann dieser Mechanismus durchaus als lebensrettend betrachtet werden.
Empathie als Ergebnis von Mitgefühl
Mag all das bei Säuglingen noch ein Reflex sein, mögen hier die erst vor wenigen Jahren entdeckten Spiegelneuronen eine gewisse Rolle spielen, so ist doch bei älteren Babys eindeutig ein Mitgefühl feststellbar. Bereits im Alter von wenigen Monaten kann man beobachten, wie Babys auf Emotionen anderer reagieren. Wie sie traurige Gesichter ebenfalls traurig machen und wie sie versuchen, diese wieder zum Lachen zu bringen.
Trotzdem müssen Kinder erst lernen, sich in andere richtig hineinzufühlen, zum Beispiel auch dann, wenn sie sie nicht sehen und beobachten können. Laut Bloom werden Kinder zwischen zwei und zehn Jahren geschätzte 4000 Mal jährlich darauf hingewiesen, sich zum Beispiel bei einem Streit in die Rolle des anderen hineinzuversetzen.
Vorbilder sind entscheidend
Doch wenn die Fähigkeit, sozial zu sein und grundsätzlich zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, angeboren ist, wie kommt es dann zu Massenmorden, Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten? Welche Rolle spielen hier die Gene? Ganz im Klaren ist man sich darüber noch nicht.
Betrachtet man die andere Seite der Medaille, wird klar, dass man auch viel kaputtmachen kann. "Babys sind moralische Lebewesen, die von der Evolution mit Empathie und Mitgefühl sowie mit der Fähigkeit, die Handlungen anderer zu beurteilen, ausgerüstet wurden und sogar mit einem gewissen rudimentären Verständnis für Gerechtigkeit und Fairness", so Bloom. "Doch wir sind mehr als nur Babys. Ein entscheidender Teil unserer Moralität - so vieles von dem, was uns menschlich macht - kommt erst im Laufe der Geschichte der Menschheit und der individuellen Entwicklung zum Vorschein."
Gewissen muss immer wieder aktualisiert werden
Die traditionelle Psychologie sagt, dass wir etwa ein Drittel unserer Eigenschaften mitbringen, ein weiteres Drittel durch Vorbild und Erziehung gebildet werden und das dritte Drittel in unseren eigenen Händen liegt.
Helmut Thome von der Universität Halle, der sich in einer aktuellen Studie mit den Ausdrucksformen und der Funktionsweise des Gewissens im Alltag beschäftigt, beantwortet die Frage nach einem angeborenen Gewissen mit einem klaren Nein. Der Soziologieprofessor ist sich sicher, dass sich die Grundstrukturen in der primären Sozialisationsphase ausbilden. Also in der Zeit der Kindheit, in der die Kinder sich vor allem am Vorbild der Eltern orientieren.
"Wobei es immer wieder Veränderungen und Modifikationen gibt. Wie das Gewissen funktioniert und sich ausdrückt, hängt zudem sehr stark von den spezifischen Situationen ab, in denen es aktualisiert wird." Die Aufgabe der Eltern sei es also, die Grenzen der angeborenen Moral zu überwinden und dem Kind zu helfen, ein richtiges Gewissen auszubilden.