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Gregor Gysi zum Brexit: "Es könnte der Anfang vom Ende der EU sein"


Nach Abstimmung über Brexit-Deal
Es könnte der Anfang vom Ende der Europäischen Union sein

MeinungEin Gastbeitrag von Gregor Gysi

Aktualisiert am 16.01.2019Lesedauer: 4 Min.
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Ein Anti-Brexit-Demonstrant weint auf dem Parlamentsplatz: Mays Niederlage macht deutlich, dass die EU Reformen braucht, will sie auch in Zukunft noch existieren, meint Linken-Politiker Gregor Gysi in seinem Gastbeitrag.Vergrößern des Bildes
Ein Anti-Brexit-Demonstrant weint auf dem Parlamentsplatz: Mays Niederlage macht deutlich, dass die EU Reformen braucht, will sie auch in Zukunft noch existieren, meint Linken-Politiker Gregor Gysi in seinem Gastbeitrag. (Quelle: Frank Augstein/dpa-bilder)

Das britische Unterhaus schmettert Mays Brexit-Deal ab und das Chaos nimmt seinen Lauf. Ein Warnschuss für die EU, die sich grundlegend ändern muss.

Der Brexit-Deal von Theresa May ist im britischen Parlament krachend gescheitert. Unter welchen Bedingungen Großbritannien die EU verlässt, ist offener denn je. Doch nicht nur für die Briten bedeutet das Brexit-Chaos Ungewissheit. Auch für die EU könnten sich die Entwicklungen auf der Insel zu einer echten Zerreißprobe entwickeln.

Für den ehemaligen Linken-Fraktionschef Gregor Gysi ist der Brexit deshalb ein Sinnbild für die Sackgasse, in der sich die Europäische Union befindet. In seinem Gastbeitrag macht er Vorschläge für Reformen, die die EU anstreben sollte, um auch in Zukunft noch zu existieren.

Europäische Irrationalität

Das Londoner Unterhaus lehnt den Brexit-Vertrag von Premierministerin Theresa May mehrheitlich ab und der EU-Austritt Großbritanniens geht in sein chaotisches Finale, selbst wenn es noch eine Verlängerung der Austrittsfrist geben sollte. Der Brexit wird in die europäische Geschichte als Lehrstück eingehen, wie man ein Land demokratisch in die Irre führen kann und wie die Verantwortlichen sowohl in Großbritannien als auch in der Europäischen Union keinen Ausweg aus der selbst geschaffenen Sackgasse finden. Aber er könnte auch der Anfang vom Ende der Europäischen Union sein, wenn sie sich nicht grundlegend ändert.

Gregor Gysi kann auf 23 Jahre als Mitglied des Deutschen Bundestages, zehn Jahre für die PDS und dreizehn Jahre für die Linke zurückblicken. Von 2005 bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion. Seit Ende 2016 ist er Präsident der Europäischen Linken.

Die Ursache ist der nationale Egoismus in einer rein auf Wettbewerbsvorteile ausgerichteten Gemeinschaft. Die Leidtragenden dieser Politik werden die Beschäftigten und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sein. Natürlich werden die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen eines harten Brexits bei ihnen abgeladen werden. Ebenso wie bei der britischen Jugend, die ihrer europäischen Perspektiven beraubt wird. Die Einbürgerungen von Briten in Irland, aber auch in Deutschland, haben jedenfalls sprunghaft zugenommen.

Warnung vor der AfD

Es zeigt sich schon jetzt, dass ein so verflochtener Wirtschaftsraum wie die Europäische Union nicht ohne negative Folgen, wie massive wirtschaftliche und soziale Verheerungen, verlassen werden kann. Trotz der diversen Sonderregelungen und Ausnahmen, die Großbritannien seit jeher beanspruchte und auch genoss. All die Versprechungen aus dem Brexit-Wahlkampf haben sich als Luftblasen und auch als Lügen entpuppt.

Und obwohl dies in den Jahren seit der Brexit-Abstimmung immer deutlicher wurde und eine Bevölkerungsmehrheit inzwischen die damalige Entscheidung infrage stellt, fand sich im britischen Mehrheitswahlsystem keine politische Kraft, die auch nur ein Innehalten durchsetzen konnte und wollte. Dass die UKIP, deren politischer Höhenflug mit dem Brexit verbunden war, inzwischen abgestürzt ist, kann dabei nur ein schwacher Trost sein. Zumindest sollte es aber Wählerinnen und Wählern in Deutschland Warnung genug vor der AfD sein, für die ein Dexit, also ein Austritt Deutschlands aus der EU, eine ernsthafte Option ist.

Wirtschaftliches Ungleichgewicht

Der Brexit hält zugleich der EU, wie sie heute unter maßgeblichem Druck Deutschlands verfasst ist, den Spiegel vor. Eine Union, die sich letztlich an der wirtschaftlichen Stärke einzelner Mitgliedsländer orientiert und in der jedes Land nur den eigenen Vorteil sucht, ist zu einer wirklichen europäischen Integration, bei der die Länder füreinander einstehen, nicht in der Lage. Das zeigt sich in der fehlenden Solidarität in der Flüchtlingsfrage. Das zeigt sich auch im Umgang mit der Finanzkrise, in der Länder wie Griechenland zum Offenbarungseid gezwungen wurden, den nicht wenige in Europa gern zu einem Grexit auf die Spitze getrieben hätten.

Diese Ausrichtung der EU hat tief greifende Auswirkungen auf das wirtschaftliche Gleichgewicht innerhalb der Europäischen Union. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht wird nicht etwa ausgeglichen oder zumindest schrittweise begrenzt, sondern es wird verstärkt. So ist die EU am Ende nur noch ein Exportraum für die produktivsten und effizientesten Volkswirtschaften geworden. Diese europäische Irrationalität hat den Brexit überhaupt erst möglich gemacht. Man muss dafür gar nicht in den europäischen Süden schauen, sondern wird auch bei unserem Nachbarn Frankreich fündig.

Der Abstand zwischen Deutschland und Frankreich bei der Produktivität, der Forschungskraft und im Industrialisierungsgrad ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Der Versuch von Präsident Macron, dieser Entwicklung mit Reformen nach dem Vorbild der Agenda 2010, auch dem deutschen Hartz-IV-Modell zu begegnen, wird nicht zu mehr europäischer Akzeptanz in Frankreich führen, im Gegenteil. Im Unterschied zu Deutschland ist in Frankreich der Widerstand deutlich größer. Auch in Großbritannien fand der Brexit dort am meisten Zustimmung, wo Europa mit dem eigenen sozialen Niedergang verbunden wurde und deshalb der Kurs des nationalen Egoismus auf fruchtbaren Boden stieß.

Das Europäische Parlament gehört gestärkt

Die Europäische Union der 27 Mitgliedstaaten hat sich in den Verhandlungen mit Großbritannien hart und zumindest in dieser Frage einig gezeigt, um die Austrittsgelüste in anderen Ländern abzukühlen. Doch wenn die EU ihre innere Verfasstheit nicht grundlegend ändert, bleibt dies gerade angesichts des in vielen Ländern Europas grassierenden Nationalkonservatismus eine trügerische Hoffnung. Dann genügt der Funke eines vermeintlichen oder erhofften Vorteils außerhalb der EU, um das Feuer der Austrittsbestrebungen anzufachen.


Soziale Wohlfahrt und die Schaffung und Erhaltung von gut bezahlten Arbeitsplätzen müssen endlich ins Zentrum der Politik der EU gerückt werden. Mit gemeinsamen sozialen Lohn-, Umwelt- und Steuermindeststandards muss der ruinöse Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten begrenzt werden. Das Europäische Parlament gehört nicht abgeschafft, wie es die seltsamerweise dennoch dafür kandidierende AfD will, sondern in seiner Stellung gegenüber dem Europäischen Rat und der Kommission gestärkt. Und natürlich braucht niemand eine EU als künftigen Weltpolizisten mit einer Interventionsarmee. Kurz: Die Europäische Union muss sich auf ihre Gründungsidee besinnen, wenn sie eine Zukunft haben will.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten spiegeln die Meinung des Autors wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.

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