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Jeremy Corbyn und der Brexit: Der gescheiterte Hoffnungsträger


Jeremy Corbyn im Brexit-Chaos
Der gescheiterte Hoffnungsträger

  • Johannes Bebermeier
Von Johannes Bebermeier

13.04.2019Lesedauer: 5 Min.
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Jeremy Corbyn: Der Oppositionschef ist im Brexit-Chaos heillos verloren.Vergrößern des Bildes
Jeremy Corbyn: Der Oppositionschef ist im Brexit-Chaos heillos verloren. (Quelle: PA Images/imago-images-bilder)

Theresa May schafft es nicht, Großbritannien aus der EU zu führen. Eigentlich müsste Oppositionschef Jeremy Corbyn davon profitieren. Doch er steht noch schwächer da als die schwache Regierung. Warum?

Im Sommer 2017 betritt Jeremy Corbyn die Bühne des Glastonbury-Festivals in England, eines der größten Musikfestivals überhaupt. Weiße Stoffhose, hellblaues Schlabberhemd. Der Altlinke hat bei der Wahl mit seiner Labour-Partei gerade das beste Ergebnis seit mehr als zehn Jahren erzielt. Er ruft der Masse zu: "Eine andere Welt ist möglich!" Die meist jungen Menschen antworten: "Oh, Jeremy Corbyn!" Jemand schwenkt eine rote Fahne mit der Aufschrift: "In Jeremy we trust". Corbyn, der Polit-Rockstar.

Nicht einmal zwei Jahre später, im Frühling 2019, ist die Party vorbei. Die 31 Jahre alte Shakira Martin kann ihre Wut kaum zügeln, als sie mit einer Reporterin des Londoner "Evening Standard" spricht. Die Chefin der britischen Vereinigung von Studentenorganisationen hat sich für Corbyn aufgerieben, sagt sie, für ihn geworben seit er 2015 zum mächtigsten Mann bei Labour wurde. "Ich habe diesen Mann geliebt", sagt sie. Jetzt würde sie ihm nicht einmal mehr Hallo sagen. "Er hat mich belogen."

Bei den Briten ist Jeremy Corbyn heute unbeliebter als Theresa May. Seine Labour-Partei liegt in Umfragen sogar hinter ihren Torys. Dabei haben May und ihre Partei das Brexit-Desaster zu verantworten, das Großbritannien lähmt und alle nervt. Jene, die unbedingt raus wollen aus der EU. Und auch jene, die unbedingt bleiben wollen. Jeremy Corbyn müsste davon eigentlich profitieren. Doch er tut es nicht. Das liegt an den Widersprüchen seiner Partei. Aber es liegt vor allem an ihm selbst.

Der unwahrscheinliche Aufstieg

So unwahrscheinlich wie Jeremy Corbyns Fall war schon sein Aufstieg zum mächtigen Mann bei Labour. Bevor Corbyn Chef der Arbeiterpartei wurde, war er mehr als 35 Jahre lang vor allem eines: dagegen. Nicht selten gegen die eigene Partei. Seit 1983 sitzt er für Labour als Abgeordneter im Unterhaus, als Hinterbänkler ohne großen Einfluss. Ein Video zeigt einen langhaarigen, deutlich jugendlicheren Corbyn auf einer Parteiveranstaltung, der ruft: "Wir sind eine sozialistische Partei, es gibt soziale Lösungen für die Probleme und die Lösung ist am Ende des Tages der Sozialismus."

Corbyn ist überzeugter Pazifist, er setzte sich gegen die Nato ein, gegen die Kriege in Afghanistan und Irak. Er ist auch als Gegner der britischen Monarchie bekannt. Als Tony Blair seit Mitte der Neunziger die Arbeiterpartei umkrempelte, Labour in New Labour verwandelte, der Partei den Sozialismus austrieb und sie für die freien Märkte zu begeistern versuchte, machte Corbyn nicht mit. Er wurde immer mehr zur Opposition in der eigenen Partei, zum linken Lümmel von der letzten Bank.

Vor allem aber ist Corbyn seit jeher ein Kritiker der Europäischen Union. Er nannte sie ein "neoliberales Elitenprojekt", warnte vor einem "europäischen Empire" und einem "militärischen Frankenstein-Monster". Als Großbritannien 1975 schon einmal über die EU-Mitgliedschaft abstimmte, war Corbyn: dagegen. Als das Unterhaus 1993 den Maastricht-Vertrag ratifizierte, war er: dagegen. 2008 beim Lissabon-Vertrag: dagegen.

Plötzlich Chef

Im Jahr 2015 musste er plötzlich dafür sein: für Labour. Relativ unerwartet wurde er zum Kandidaten auf den Chefposten. Mit Ed Miliband an der Spitze hatte die Partei eine überraschend deutliche Wahlniederlage erlitten, Miliband trat zurück, die Partei war in Aufruhr. Der linke Flügel rechnete sich im Nachfolge-Rennen nur wenige Chancen aus, wollte aber trotzdem einen Kandidaten aufstellen. Die Wahl fiel auf Corbyn. Und der gewann. Mit dem Versprechen eines harten Bruchs, einem Ende von Marktradikalismus und New Labour. Und mit der Unterstützung vieler junger Menschen, die Corbyn von sich und Labour überzeugte.

Corbyn versprach ihnen, endlich mitreden zu dürfen. Er rief ihnen zu: "Armut ist nicht unvermeidlich, die Dinge können und werden sich ändern!" Auf Ansteckern und Fähnchen warb er mit dem Erfolgsslogan Barack Obamas, leicht angepasst an seinen Vornamen: #JezWeCan. Jeremy, der Hoffnungsträger.

Dann kam 2016 die Volksabstimmung über den Brexit. Von Corbyn, dem EU-Kritiker, wurde auf einmal von großen Teilen der Partei erwartet, sich für den Verbleib in der EU einzusetzen. Das funktionierte nur bedingt. Die Brexiteers gewannen die Abstimmung. Corbyn konzentrierte sich im Wahlkampf 2017 auf andere Themen, auf seine Themen: Er geißelte die Sparpolitik der Regierung, forderte eine friedlichere Außenpolitik, versprach, die Bahn, die Post und die Energieversorgung wieder zu verstaatlichen und die Steuern für Reiche zu erhöhen.

Theresa May und ihre Torys gewannen zwar die Wahl, aber Corbyn ließ sich für seinen unerwarteten Erfolg feiern. Mit 40 Prozent lag er nur knapp hinter den 42,2 Prozent der Konservativen.

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Corbyn will niemanden verprellen

Das Brexit-Problem war Corbyn erst einmal los. May musste den Austritt organisieren. Je schwieriger das wurde, je näher der Tag des Austritts rückte, desto lauter kritisierte er sie. Er warf der Regierung Inkompetenz vor, sagte, sie habe das Land verraten. Als Mays Brexit-Deal mal wieder im Parlament durchgefallen war, nannte er ihre Mannschaft eine "Zombie-Regierung", nicht mehr lebendig, aber auch noch nicht richtig tot.

Doch was er anders, was besser machen wollte, das formulierte Corbyn nicht. Stattdessen forderte er Mays Rücktritt und Neuwahlen. Immer wieder und immer wieder ohne Erfolg. Ein Misstrauensvotum im Parlament überstand die Premierministerin. Das erste Gesprächsangebot Mays über Lösungen im Brexit-Streit lehnte Corbyn ab. Den Wunsch vieler in der Partei, sich energisch für einen Verbleib in der EU einzusetzen, für ein zweites Brexit-Referendum, ignorierte er weitgehend.

Corbyn findet keinen Umgang mit dem Brexit. Das liegt an seiner eigenen Vergangenheit als EU-Kritiker. Einige glauben, Corbyn sei ein heimlicher "Lexiteer", ein linker Brexit-Befürworter. Seine Unentschlossenheit schadet seinem Ansehen und verprellt einstige Anhänger. Hinzu kommt ein Antisemitismus-Skandal in der Partei, auch gegen Corbyn gibt es Vorwürfe. Die Aufarbeitung halten selbst viele Labour-Anhänger für katastrophal.

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Das Problem mit dem alten Arbeitermilieu

Doch seine Partei macht es ihm auch nicht leicht. Labour hat wie alle traditionellen Arbeiterparteien in Europa ein Problem: Die Partei hat junge Anhänger, für die die EU selbstverständlich ist, seit Corbyn sogar ziemlich viele davon. Aber sie hat auch Anhänger in den alten Arbeitermilieus, für die Europa auch die Angst davor bedeutet, den eigenen Arbeitsplatz an einen Einwanderer aus Spanien oder Polen zu verlieren.

Die Mehrheit der Labour-Anhänger ist für den Verbleib in der EU. Aber eben längst nicht alle. Bei der Wahl 2017 wurde Labour von rund acht Millionen Menschen gewählt, die in der EU bleiben wollen. Aber eben auch von rund vier Millionen Menschen, die sie verlassen wollen. Damit ist nicht nur die Labour-Basis in der Brexit-Frage gespalten, sondern auch die Gruppe der Labour-Abgeordneten im Parlament. Denn viele vertreten Wahlkreise, in denen mehrheitlich für den Brexit gestimmt wurde.

Solange Corbyn noch aus der Ferne Neuwahlen fordern konnte, musste er niemandem in seiner Partei so richtig wehtun. Inzwischen aber ist er mittendrin. Er hat sich nun doch bereit erklärt, mit Theresa May einen Kompromiss in der Brexit-Frage zu suchen. Eine Zollunion fordert er und eine möglichst enge Bindung an den Binnenmarkt der EU, wie auch immer das aussehen soll.


Möglichst weich soll der Brexit sein, das ist nun sein Kompromiss. Und so versucht er weiter, es möglichst allen ein bisschen recht zu machen. Und macht es damit eben niemandem so richtig recht.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Umfragedaten von YouGov
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