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20 Jahre nach dem Bürgerkrieg: Der Brexit reißt in Nordirland alte Wunden auf


20 Jahre nach dem Bürgerkrieg
Der Brexit reißt in Nordirland alte Wunden auf

Von Michael Güthlein, Chrismon

03.02.2019Lesedauer: 12 Min.
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Am Kriegsdenkmal in Enniskillen legen Politiker (darunter Arlene Foster, Vorsitzende der Democratic Unionist Party, schwarzer Hut) am Remembrance Day Kränze nieder.Vergrößern des Bildes
Am Kriegsdenkmal in Enniskillen legen Politiker (darunter Arlene Foster, Vorsitzende der Democratic Unionist Party, schwarzer Hut) am Remembrance Day Kränze nieder. (Quelle: Toby Binder, chrismon)

Der Weltkriegsopfer können Katholiken und Protestanten in Nordirland gemeinsam gedenken. Aber die Opfer des Bürgerkriegs zählen sie einander immer noch vor.

In der Polizeistation der nordirischen Kleinstadt Enniskillen hängt eine große Tafel mit schwarz-weißen Porträtfotos. Unter jedem Bild stehen ein Name, ein Alter, ein Dienstgrad, ein Datum und "getötet von der IRA". Familienväter, die hinterrücks erschossen wurden. Junge Polizeianwärter, durch Autobomben zerfetzt. Sekretärinnen, bei Mörserattacken getötet. Über 300 Polizisten waren es landesweit. "Hier hätte auch mein Name stehen können", sagt Michael Skuce, 56 Jahre alt, ein kräftiger Mann mit kurzen grauen Haaren. Einige der Menschen auf den Bildern hat er persönlich gekannt. 30 Jahre lang war er Polizist. Aber Skuce hegt keine Rachegedanken. Im Gegenteil: Er sehnt sich nach Versöhnung.

"Nicht alle Katholiken hassten die Polizei", erklärt Skuce. Noch 1998 bestand die nordirische Polizei zu 88 Prozent aus Protestanten. Die katholische Minderheit misstraute ihr zutiefst. "Aber sobald man in ihre Häuser kam und mit ihnen sprach, wollten die meisten dasselbe wie ich: in Frieden leben und für ihre Familien sorgen." Schon in seiner Zeit als Polizist hat Skuce versucht, Menschen mit verschiedenen politischen Ansichten an einen Tisch zu bringen. Das ging nicht immer gut aus. "Aber wenigstens haben sie überhaupt miteinander geredet", sagt Skuce, der sich heute in ökumenischen Gruppen engagiert. "Für mich ist der Kern der christlichen Botschaft: Liebe deinen Nachbarn", sagt er. Doch vielen Nordiren fällt nichts schwerer, als ihren Nachbarn zu lieben – oder gar die Polizei. Manchmal war ein Notruf ein Hinterhalt. Fuhren die Polizisten hin, verloren sie vielleicht ihr Leben. Fuhren sie nicht, verloren sie Rückhalt in der Bevölkerung.

Lange blieb Enniskillen vom Nordirlandkonflikt einigermaßen verschont. Bis zum 8. November 1987. Während der Feierlichkeiten anlässlich des Remembrance Day, eines Gedenktags für Gefallene der Weltkriege, zündete die irisch-republikanische Terrorgruppe Provisional Irish Republican Army (IRA) eine Bombe. Hunderte Menschen hatten sich zu diesem Zeitpunkt um das Kriegsdenkmal versammelt und warteten auf eine Soldatenparade. Um 10.43 Uhr plötzlich ein lauter Knall: Steine und Ziegel flogen durch die Luft, eine Staubwolke hüllte die Queen Elizabeth Road und die Belmore Street ein. Als der Staub sich gelegt hatte, war ein Gebäude eingestürzt, in dem die Bombe versteckt war. Elf Menschen waren tot. Ein zwölfter starb nach Jahren im Koma. Über 60 wurden verletzt. Inzwischen ist es ruhiger geworden in Nordirland. Doch mit dem bevorstehenden Brexit drängt sich eine Frage auf: Wie gespalten ist die Gesellschaft heute noch?

Troubles werden die blutigen Jahre in Nordirland genannt. Fast vier Jahrzehnte lang bekriegten sich britischstämmige Protestanten (Unionisten und Loyalisten) und Katholiken irischer Herkunft (Nationalisten und Republikaner). Auf jeden Anschlag folgte eine Vergeltung, auf jede Vergeltung ein weiterer Anschlag. 1998 beendete das Karfreitagsabkommen die Gewalt, seit 20 Jahren ist Frieden. Doch nach wie vor gibt es katholisch und protestantisch dominierte Regionen, Dörfer und Stadtteile, in denen die Bewohner der Gegenseite misstrauen oder nichts mit ihr zu tun haben wollen. Die Mehrheit der Kinder geht in konfessionelle Schulen. In der Hauptstadt Belfast sind einige Viertel durch über zehn Meter hohe Mauern voneinander getrennt. Über die Jahre wurden sie immer höher: Auf den Beton kamen Stahlwände, auf die Stahlwände Zäune, auf die Zäune Stacheldraht.

Es ist nicht schwierig herauszufinden, wer welcher Seite angehört. "Wenn man jemandem begegnet, fragt man zuerst nach dem Namen, wo die Person lebt und wo sie zur Schule ging. Dann ist meistens klar, ob sie katholisch oder protestantisch ist", erklärt Skuce. Bis heute mache er das unwillkürlich so. Auch in anderen Kleinigkeiten zeige sich, wer welche Konfession hat: Katholiken nennen die zweitgrößte Stadt Nordirlands Derry, Protestanten Londonderry. Michael Skuce sagt umständlich "Derry/Londonderry" – politische Korrektheit auf Nordirisch. Katholiken nennen den Friedensvertrag von 1998 "Karfreitagsabkommen", Protestanten sagen "Belfast-Abkommen". Katholiken spielen Gaelic Football, Protestanten Soccer. Als neutrale Sportart wurde Eishockey eingeführt – weil das noch keine der beiden Seiten für sich beansprucht hatte. Grün ist die Farbe der Republikaner, Orange die der Unionisten. Je nachdem, wie man das "H" ausspricht, ist für viele klar, ob man zu dieser oder jener Seite gehört. Das alles hat im Kern natürlich nichts mit der Konfession zu tun, sondern mit der Zugehörigkeit. Aber die Konfession ist das historische Unterscheidungsmerkmal.

Betonwände, Stacheldraht, Überwachungskameras

In Enniskillen mit seinen etwa 13.000 Einwohnern ist die Spaltung weniger offensichtlich, obwohl es auch hier katholische und protestantische Viertel gibt. Die Stadt liegt inmitten grüner Hügel an einem Fluss zwischen zwei Seen. An der Hauptstraße reihen sich urige Pubs und Cafés aneinander. Passanten grüßen auch Fremde, man spricht sich in der Regel mit dem Vornamen an. Fragt man die Leute hier, wie es ihnen geht, sagen sie: "Not too bad" – "Nicht allzu schlecht." Nur die Polizeistation irritiert. Meterhohe Betonwände, Stacheldraht, Überwachungskameras, dicke Stahltore. Ein Relikt aus Kriegszeiten.

Der Nordirlandkonflikt
Seit dem 17. Jahrhundert kam es auf der irischen Insel immer wieder zu Konflikten zwischen wohlhabenden protestantischen Siedlern aus Großbritannien und ansässigen Katholiken. Als die Republik Irland 1922 ihre Unabhängigkeit erklärte, behielt Großbritannien die Kontrolle über Teile der nordöstlichen Provinz Ulster, das heutige Nordirland. Ende der 1960er-Jahre eskalierte die Situation: der Beginn der sogenannten Troubles. Auf der einen Seite standen katholische Nationalisten, die die Wiedervereinigung mit der Republik Irland anstreben, auch Republikaner genannt. Auf der anderen protestantische Unionisten, die sich Großbritannien zugehörig fühlen.
Über 3.600 Menschen verloren ihr Leben bei Anschlägen und Schießereien. 47.000 wurden verwundet. Für die meisten Toten zeichneten Untergruppen der katholischen Terrororganisation IRA (Irish Republican Army) und protestantische Milizen wie die UDA (Ulster Defence Association) oder die UVF (Ulster Volunteer Force) verantwortlich. Aber auch Polizeigewalt und britische Militäreinsätze gegen Zivilisten kosteten vielen Menschen das Leben.
1998 setzte das Karfreitagsabkommen der Gewalt ein offizielles Ende. Der von der EU, Großbritannien und Irland ausgehandelte Vertrag verpflichtet Unionisten und Republikaner, eine gemeinsame Regierung zu bilden. Seit Januar 2017 ist Nordirland ohne Regierung, weil sich die beiden Koalitionspartner, die erzprotestantische DUP (Democratic Unionist Party) und die republikanische Sinn Féin, der politische Nachfolger der IRA, zerstritten haben.

Doch jetzt kommt der Brexit. 56 Prozent der Nordiren stimmten gegen einen Austritt aus der EU. Es half nichts. Voraussichtlich Ende März verlässt Großbritannien die Europäische Union. Kommt es zu einer harten Grenze, könnten Studierende aus dem Norden nicht mehr so einfach eine Universität im Süden besuchen. Manche Bauern haben ihren Hof auf der einen, ihre Herden auf der anderen Seite der Grenze. Milch wird im Süden produziert, im Norden verarbeitet und dann wieder in den Süden gebracht und verkauft. Viele Nordiren sorgen sich um die finanziellen Folgen. Mancher fürchtet, dass es zu Gewalt kommen könnte, wenn die verhasste Grenze wieder sichtbar wird. Die Diskussion um den Brexit zeigt vor allem, dass der alte Konflikt nie wirklich gelöst wurde. Wenn man mit den Menschen in Enniskillen spricht, kommen sie vom Thema Brexit schnell auf die alten Geschichten: die Anschläge, die Ungerechtigkeiten, die alltäglichen Diskriminierungen, was die andere Seite alles verbrochen hat und warum es nach wie vor vielen schwerfällt, miteinander auszukommen.

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Einer, der das ändern will, ist Kenny Hall. Unruhig rutscht der große Mann im schwarzen Jackett und Collarhemd auf dem Ledersofa hin und her. Seine laute Stimme überschlägt sich. "Heute kann alles passieren!", sagt der 59-jährige Pastor der anglikanischen Church of Ireland im geräumigen Wohnzimmer des Pfarrhauses. "Vielleicht kommen 50, vielleicht kommen 300. Die Leute sitzen jetzt in ihren Wohnzimmern und diskutieren, ob sie hingehen sollen oder nicht." Für den Abend des 11. November 2018 ist ein gemeinsamer Gedenkgottesdienst zu Ehren gefallener Soldaten geplant. An diesem Tag vor einhundert Jahren endete der Erste Weltkrieg.

Ein gemeinsamer Gottesdienst – unerhört

Zum ersten Mal haben alle vier Kirchengemeinden der Stadt – die römisch-katholische, die anglikanische, die presbyterianische und die methodistische – einen gemeinsamen Gottesdienst auf die Beine gestellt. In Nordirland ist das ein beinahe unerhörter ökumenischer Akt. Noch dazu am Remembrance Day, an dem 31 Jahre zuvor die Bombe explodierte. In Enniskillen wird er mit viel Pomp, Paraden und Kranzniederlegungen zelebriert. Man klammert sich an die Vergangenheit, um sich der eigenen Identität und Herkunft zu versichern.

Aber vielleicht ist Enniskillen genau der richtige Ort für solche ökumenischen Experimente. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Nordirland ist die Gemeinde nach dem Anschlag nicht in eine Spirale aus Racheakten geraten und völlig zerfallen. Über den Grund ist man sich in Enniskillen weitgehend einig: wegen Gordon Wilson. Seine 20-jährige Tochter Marie war das jüngste Opfer des Anschlags. Am selben Abend gab Wilson ein Interview, in dem er den Tätern vergab. Unter Tränen sagte er: "Ich habe meine Tochter verloren, und wir werden sie vermissen. Aber ich habe keinen bösen Willen, ich hege keinen Groll. Solches Gerede macht sie nicht wieder lebendig." Wenige Tage später ging Wilson, der 1995 gestorben ist, in die katholische Kirche und wurde mit Applaus empfangen. Auch ein prominenter Besuch hat die Gemeinde ein Stück näher zusammengebracht: 2012 kam Queen Elizabeth II. anlässlich ihres 60. Thronjubiläums in die Stadt. Sie lief von der anglikanischen St.-Macartin’s-Kathedrale über die Straße zur gegenüberliegenden St.-Michael’s-Kirche – ihr erster Besuch eines katholischen Gotteshauses auf der irischen Insel. Bis heute gilt das Ereignis als historischer Brückenschlag zwischen den Konfessionen.

Die Architekten dieser Brücke sind Kenny Hall und sein katholischer Kollege Peter O’Reilly. Beide haben zufällig zur gleichen Zeit, im September 2010, ihre Ämter in Enniskillen übernommen. Noch heute schwärmen sie vom Besuch der Queen. "Bis dahin hatten wir kaum Fortschritte gemacht, aber ihr Gang über die Straße zeigte, dass wir zwei Gemeinden, nein, eigentlich eine Gemeinde unter Gott sind", sagt Hall. Die beiden Männer freundeten sich schnell an, besuchen sich gegenseitig in ihren Gottesdiensten und bemühen sich so oft wie möglich, gemeinsam aufzutreten. Zu oft, finden Kritiker. Insbesondere Hall bekommt in sozialen Medien und auf erzprotestantischen Blogs Gegenwind. "Kenneth Hall hat einen unstillbaren Durst nach ökumenischen Kompromissen", heißt es dann dort. "Bei jeder Gelegenheit lässt er sich fotografieren, wie er an einem ökumenischen Gottesdienst teilnimmt, grinsend neben irgendeinem arglistigen päpstlichen Abgesandten."

Hall ist als Protestant in einer überwiegend katholischen Gegend aufgewachsen. Im Schulbus wurde er täglich gehänselt. Er entschloss sich, etwas zu verändern. Hall ist einer, der Konflikte anspricht und in die öffentliche Debatte trägt. "Es gibt hier Leute, die mich dafür heftig kritisieren! Aber das nehme ich gerne in Kauf", sagt er lachend. "Sich aus einem Konflikt zurückzuziehen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, ist nicht der richtige Weg." Hall könnte in Enniskillen ein gemütliches Leben führen, doch er hat eine Mission. "Wir versuchen, ein gesellschaftliches Mittelfeld zu schaffen, aber das wird immer wieder von den Rändern zusammengepresst", sagt er und schiebt dabei mit seinen Händen langsam die Luft zusammen. "Die Leute sind hier sehr höflich zueinander, aber man muss unter diese Nettigkeit vordringen. Bevor man ein Pflaster auf die Wunde klebt, muss man sie reinigen."

"Es gibt zu viel Gerede über Versöhnung"

Solche Wunden gibt es hier viele. Fast jeder fünfte Nordire hat Freunde, Bekannte oder Verwandte, die getötet oder verletzt wurden. Von Vergebung sprechen ist einfach, vergeben ist schwierig. Es gibt Menschen, die den verwaisten Vater Gordon Wilson dafür bewundern. "Er hat die Täter aus der Verantwortung entlassen", sagt hingegen Stella Robinson. Ihre Eltern wurden bei dem Anschlag getötet. Sie erinnert sich noch, was es am 8. November 1987 zum Abendessen geben sollte: Rindfleisch und zum Nachtisch Eve’s Pudding, eine Art Apfelpudding mit Kuchenteig überbacken. Sie hörte einen lauten Knall und dachte, jemand hätte ein Garagentor zugeworfen. Kurze Zeit später stand eine Verwandte vor ihrer Haustür. "Es hat einen Anschlag gegeben, und deine Eltern sind betroffen", sagte sie. Im Krankenhaus fand sie ihren Bruder. Die Mutter war tot. "Ihr Gesicht war zerschmettert, eingedrückt wie bei einer Puppe", erzählt Robinson. Ihr Bruder sagte, der Vater könnte noch leben. "Aber als er aus den Trümmern geborgen wurde, machte er seine letzten Atemzüge."

Robinson ist eine Frau Anfang 60 mit dunklen Haaren, weichen Gesichtszügen und einer leisen Stimme. Es fällt ihr nicht leicht, über den Anschlag zu sprechen. Immer wieder laufen ihr Tränen übers Gesicht. Aber Stella Robinson hat etwas zu sagen, das ihrer Meinung nach zu oft verschwiegen wird. "Es gibt zu viel Gerede über Versöhnung", findet sie. "Meine Familie war nicht im Krieg, und ich bin es auch nicht. Einige meiner besten Freunde sind Katholiken, aber das sind nicht die Menschen, mit denen ich mich versöhnen muss." Sie findet, dass prominente protestantische Geistliche ihre Aufrufe zur Versöhnung als Vorwand nutzen würden, um sich als Friedensstifter zu inszenieren. Robinson sehnt sich nach Gerechtigkeit. Sie will nicht verbittert erscheinen, findet aber, dass vor lauter Versöhnung die Opfer vergessen werden. "Sie unterstützen lieber die Terroristen, indem sie fordern, wir sollen ihnen vergeben", sagt sie. Auch wenn sie nicht viel von Versöhnung hält, hofft sie nach wie vor, dass wenigstens einer der Täter zu seiner Verantwortung steht. "Wenn mich einer um Vergebung bitten würde, wäre das ein Anfang", sagt sie.

"Sinn Féin hat sich zu dem Anschlag geäußert. Sie haben ihn verurteilt!", erklärt Seán Lynch, Abgeordneter der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin für den Wahlbezirk Fermanagh, die Region um Enniskillen. "Es war genauso falsch wie der Bloody Sunday und das Ballymurphy-Massaker", ergänzt er. Am Bloody Sunday erschossen britische Fallschirmjäger 1972 bei einer Demonstration in Londonderry 14 unbewaffnete katholische Zivilisten. Beim Ballymurphy-Massaker starben 1971 elf Zivilisten durch Schüsse britischer Soldaten. Keine Seite lässt die Verbrechen der anderen Seite unerwähnt, wenn man sie auf eigene Anschläge anspricht. Jeder kann sofort aufzählen, wie viele Tote es gegeben hat. Lynch wurde 1986 selbst bei der Vorbereitung eines Anschlags von britischen Soldaten angeschossen und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Im Rahmen des Karfreitagsabkommens kam er frei und engagiert sich seither bei Sinn Féin. Der Gewalt hat er abgeschworen. "Als jemand, der die Troubles miterlebt hat, der als Kombattant ins Gefängnis ging, kann ich nur sagen: Das ist vorbei. Die IRA ist Geschichte. Wir gehen nicht zurück, wir gehen nur vorwärts auf einem friedlichen und demokratischen Weg. Es gibt definitiv kein Zurück."

Das Hotel mit den meisten Anschlägen

Alan McBride sitzt im "Europa-Hotel" in der Hauptstadt Belfast. Es hält den traurigen Rekord, das am häufigsten von Bombenanschlägen betroffene Hotel der Welt zu sein. McBrides Frau Sharon und sein Schwiegervater starben 1993 mit sieben Weiteren und einem IRA-Attentäter beim Shankill Road Bombing. Zwei Terroristen hatten versucht, protestantische Loyalisten zu töten. Sie sprengten einen Laden in der Belfaster Shankill Road in die Luft, über dem sich Mitglieder der radikalen UDA (Ulster Defence Associaton) regelmäßig trafen. Doch die Bombe ging zu früh hoch und traf vor allem Zivilisten. "Ich habe den Mördern meiner Frau nie vergeben", macht McBride, kurze graue Haare, Brille und Dreitagebart, gleich zu Beginn klar. "Ich habe nicht vergessen, dass meine Tochter ohne ihre Mutter aufgewachsen ist. Dass sie nicht dabei sein konnte, als unsere Tochter die Schule abgeschlossen hat, ihren ersten Job bekam, ihren ersten Freund hatte. Das ist für mich unverzeihlich. Aber es hat mich nicht davon abgehalten, mich für Frieden und Versöhnung einzusetzen." 2009 traf er den ehemaligen Sinn Féin-Chef Gerry Adams, eine zentrale Figur im Nordirlandkonflikt, für mehrere Gespräche. Adams trug den Sarg des IRA-Terroristen, der McBrides Frau tötete und dabei selbst ums Leben kam. McBride und Adams gaben sich die Hand.

McBride, der heute bei der Hilfsorganisation Wave für Opfer des Konflikts arbeitet, ist nach dem Anschlag in eine gemischt-konfessionelle Gegend gezogen. In jener Zeit freundete er sich mit einer katholischen Nachbarsfamilie an. Einmal luden sie ihn und seine Tochter ein. Es war der 11. Juli, ein Tag, an dem in Nordirland jedes Jahr gewaltige Leuchtfeuer brennen, um den Sieg des protestantischen Königs Wilhelm III. von Oranien über den katholischen König James II. zu feiern – ein Schlüsselereignis britisch-unionistischer Identität und eine Provokation für irische Katholiken, weil traditionell irische Flaggen verbrannt werden. McBrides katholische Nachbarn hatten im Garten extra für ihn und seine Tochter ein solches Feuer in Klein aufgebaut – ohne dass irgendwelche Symbole verbrannt wurden. Eine Geste, die ihn sehr berührt hat. "Wir saßen beisammen, tranken Bier und aßen Burger. Unsere Töchter flitzten durch den Garten", erzählt McBride. Im Anschluss besuchte er eines der großen Feuer, wo unter Gejohle irische Flaggen angezündet wurden. Er dachte: "Wir müssen das, was ich jetzt sehe, in das verwandeln, was vorhin bei meinen Nachbarn geschehen ist." Respekt und Verständnis für die Tradition der anderen statt Verachtung und Missgunst. Alan McBride sieht darin eine Chance für die Nordiren und gerade jetzt, da der Brexit ansteht, eine Notwendigkeit: "Ich verstehe, wenn jemand sich persönlich nicht versöhnen will, aber als Gesellschaft brauchen wir unbedingt Versöhnung."


17.45 Uhr am 11. November 2018 in Enniskillen. Pfarrer Kenny Hall hat sich gründlich verschätzt. Nicht 300, sondern um die 1.000 Menschen sind zum ökumenischen Gedenkgottesdienst gekommen, einige von ihnen betreten zum ersten Mal in ihrem Leben eine katholische Kirche. Ungefähr weitere 1.000 warten vor der Kirche auf den Festakt. Als der Gottesdienst vorbei ist, blockieren sie die Hauptstraße. Kenny Hall bahnt sich seinen Weg durch die Menge, drängt die Leute zum Weiterlaufen und fuchtelt mit seinen langen Armen durch die Luft. "Ist das nicht wunderbar?", ruft er lachend über die Menge hinweg. "So viele! Ich kann es nicht glauben. Vielleicht ist das Mittelfeld doch größer, als wir gedacht haben."

Zwei Scheinwerfer leuchten von der einen Kirche zur anderen, die Lichtkegel kreuzen sich über der Straße. Dudelsackspieler stimmen "Amazing Grace" an, nach einer Schweigeminute für die Gefallenen wird ein Feuerwerk gezündet. "Ich hoffe, unsere Politiker haben mitbekommen, was heute hier geschehen ist", sagt Michael Skuce. "Ich fand den Gottesdienst wundervoll, ich habe ihn auf Facebook verfolgt", sagt Stella Robinson. "Aber es waren nicht die schlimmen Leute, die gestern im Gottesdienst saßen." Not too bad. Nicht allzu schlecht.



Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de

Weiterführende Links auf chrismon.de:

"Viele Täter bereuen nicht. Sie ertragen es nicht", sagt die südafrikanische Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela. Aber wenn sie Reue zeigen, verwandeln sie sich in verwundbare Individuen. Und dann können ihre ihnen Opfer vielleicht vergeben. Ein Gespräch auf chrismon.de.

Den Mördern die Hand geben? Wer von Deutschland nach Ruanda reist, kann vieles lernen. Zum Beispiel Versöhnung. Weiterlesen auf chrismon.de.

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