Menschen wie Lilit darf es in Armenien nicht geben
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr fΓΌr Sie ΓΌber das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Fast jeden Tag wird irgendwo auf der Welt ein Mensch ermordet, nur weil er oder sie transsexuell ist. Lilit Martirosyan trat als erste Transfrau im armenischen Parlament auf. Seitdem wird sie mit dem Tode bedroht.
Diese Reportage erschien zuerst auf chrismon.de.
Der Priester sagt: "Was mit ihr zu tun ist? Es steht in der Bibel: Todesstrafe!" Der Politiker erklΓ€rt: "Man kann MΓ€nner nicht mit Frauen vermischen. Das ist schΓ€ndlich!" Der Journalist warnt: "In einer konservativen Gesellschaft fΓΌhrt das natΓΌrlich zu Aggressionen."
Eriwan im April 2019. Auf den GrΓΌnstreifen vor den Wohnblocks aus der Sowjetzeit blΓΌhen die ersten Narzissen. Im ParlamentsgebΓ€ude, einem braunen Steinbau mit SΓ€ulen, in dem einst das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei tagte, tritt Lilit Martirosyan ans Rednerpult. Graues KostΓΌm, lange, blonde Haare. Die 28-JΓ€hrige, die in Armenien unter ihrem Vornamen bekannt ist, spricht als erste Transsexuelle im Parlament. "Menschen wie ich werden in diesem Land gequΓ€lt, vergewaltigt, entfΓΌhrt, verbrannt, ΓΌberfallen."
Keine drei Minuten dauert ihre Ansprache. NΓΌchtern und mit Zahlen beschreibt sie die Diskriminierung und Verfolgung von Menschen mit einer abweichenden sexuellen IdentitΓ€t in dem kaukasischen Land. Was folgt, ist eine Welle aus Hass und Drohungen, die ΓΌber Lilit zusammenbricht. Die Sitzungsleiterin im Parlament, Naira Zohrabyan, wirft Lilit "Missachtung der Agenda" und "Respektlosigkeit" vor.
Kurz darauf erscheinen die ersten Hassbotschaften und Todesdrohungen auf Lilits Facebook-Seite. Jemand verΓΆffentlicht die Adresse ihrer Wohnung im Internet. Auf der StraΓe vor ihrem Haus versammelt sich ein Mob, der Beleidigungen und Drohungen brΓΌllt. Die Lage spitzt sich so zu, dass Vertreter der EuropΓ€ischen Union und der Vereinten Nationen vor "einer Zunahme von Hassreden und Gewalt" in Armenien warnen. Lilit taucht unter, flΓΌchtet fΓΌr mehrere Wochen ins Ausland. Heute lebt sie versteckt in Eriwan.
700 Morde an Transsexuellen in zwei Jahren
Statistisch gesehen wird fast jeden Tag auf der Welt ein transsexueller Mensch ermordet. Fast immer handelt es sich um Hassverbrechen, der einzige Grund fΓΌr die Tat ist die sexuelle IdentitΓ€t des Opfers. WΓ€hrend in Deutschland und anderen LΓ€ndern seit einigen Jahren eine gesellschaftliche Debatte ΓΌber TranssexualitΓ€t gefΓΌhrt wird, die zu mehr Akzeptanz und Gesetzen zum Schutz vor Diskriminierung gefΓΌhrt hat, werden Transsexuelle in anderen Regionen stΓ€rker verfolgt als je zuvor.
In den vergangenen zwei Jahren gab es nach ZΓ€hlungen von Aktivisten weltweit 700 Morde an Transsexuellen. Allein in den USA wurden im vergangenen Jahr 26 transsexuelle Menschen umgebracht, berichtet die Human Rights Campaign. Kaum irgendwo ist die Diskriminierung und Verfolgung dieser Menschen so schlimm wie in Armenien.
Eine schmale, dunkle Treppe fΓΌhrt zu dem Ort, an dem wir Lilit treffen. WΓ€nde aus unverputztem Beton. Kein TΓΌrschild, kein Name an der Klingel. Die Adresse im Zentrum von Eriwan haben wir erst kurz vor dem Treffen per E-Mail bekommen. Ein muskulΓΆser Mann begutachtet uns misstrauisch durch den TΓΌrspalt, ehe er ΓΆffnet. "Ich muss vorsichtig sein. Viele Leute hassen mich", sagt Lilit. Sie trΓ€gt ein schwarzes T-Shirt, auf dem in bunten Buchstaben "Happy" steht.
Der Vater: Bauer, die Mutter: Hausfrau
Die kleine Wohnung ist das BΓΌro von Right Side, einer von Lilit gegrΓΌndeten NGO fΓΌr Transsexuelle. Ein halbes Dutzend Aktivisten sind an diesem Morgen versammelt. Lilit setzt sich hinter einen BΓΌrotisch, faltet die HΓ€nde zusammen und erzΓ€hlt ihre Lebensgeschichte. In einem Dorf, ein paar Autostunden von Eriwan entfernt, wuchs Lilit auf. Den Namen des Ortes will sie zum Schutz ihrer Familie nicht sagen. Der Vater: Bauer, die Mutter: Hausfrau. "Alles sehr traditionell", erzΓ€hlt sie.
Als Lilit, die damals noch ein Junge war, mit zehn oder elf Jahren beginnt, sich heimlich die Kleider der Mutter anzuziehen, reagiert die Familie entsetzt. "Das ist nur in deinem Kopf", sagen die Eltern. Lilit antwortet: "Nein, ich bin eine Frau. Ich fΓΌhle das." Von Tag zu Tag wird die Situation schlimmer, bis Lilit mit 13 von zu Hause wegrennt. Sie schlΓ€gt sich nach Eriwan durch. "Meinen Eltern habe ich gesagt, dass ich eine Arbeit gefunden habe." In Wirklichkeit muss sie sich prostituieren, um zu ΓΌberleben. Mit anderen MΓ€dchen und jungen Frauen, die sich ebenfalls im falschen KΓΆrper geboren fΓΌhlen, grΓΌndet Lilit eine WG.
Das Leben ist hart: Weil niemand Transsexuelle einstellt β zu groΓ wΓ€re der ΓΆffentliche Protest β, mΓΌssen die jungen TransmΓ€dchen am StraΓenstrich anschaffen. FΓΌr manche der Freier sind sie wie Freiwild. Lilit wird geschlagen, misshandelt. "Einmal bedrohte mich einer mit dem Messer. Zum GlΓΌck hΓΆrten die Mitbewohnerinnen meine Schreie", erzΓ€hlt Lilit.
Trotzdem sind diese Jahre fΓΌr sie eine Zeit der Befreiung. Sie ist jetzt volljΓ€hrig, lebt und kleidet sich als Frau. Weil es keine Hormontherapie gibt, kaufen Lilit und ihre Freundinnen Antibabypillen, um an das weibliche Sexualhormon Γstrogen zu kommen. Ihr KΓΆrper und ihre GesichtszΓΌge werden weicher, femininer. "Es war die glΓΌcklichste Zeit, die ich bis dahin erlebt hatte", sagt Lilit. "Wenn ich auf der StraΓe lief, schauten mir die MΓ€nner hinterher."
Armenische Chirurgen wollen den Tabubruch nicht wagen
Sie wagt den nΓ€chsten groΓen Schritt, die Geschlechtsumwandlung. Der Chirurg, der Lilit operieren soll, muss aus Russland eingeflogen werden. Mehrere Γrzte in Eriwan hatten zuvor abgewunken. FΓΌr einen armenischen Chirurgen wΓ€re der Tabubruch zu groΓ, eine Geschlechtsumwandlung durchzufΓΌhren. Lilits Operationen, die Letzte kurz nach Weihnachten 2015, finden heimlich bei Nacht statt. FΓΌr den Eingriff opfert Lilit ihre ganzen Ersparnisse. Es ist die dritte operative Geschlechtsangleichung ΓΌberhaupt in dem Land. Wo fand die Operation statt? Wer hat sie gepflegt? Lilit schΓΌttelt den Kopf. Mehr will sie dazu nicht sagen.
Obwohl wir an mehreren Tagen mit ihr sprechen, oft ΓΌber viele Stunden, bleibt ein Teil von ihr verschlossen. Lilit hat gelernt, dass sie sich schΓΌtzen muss. Nur so hat sie als Transsexuelle ΓΌberlebt. "Endlich fΓΌhlte ich mich als richtige Frau", sagt Lilit ΓΌber die Zeit nach der Operation. Sie hat jetzt einen Freund, der ihr schon bei der Geschlechtsumwandlung beistand, grΓΌndet eine Hilfsorganisation fΓΌr Transsexuelle, verdient so auch etwas Geld und muss sich nicht mehr prostituieren.
In ihrem Pass steht ihr neuer Name β Lilit. Zum ersten Mal in ihrem Leben kann sie frei und mit dem Geschlecht leben, mit dem sie sich geboren fΓΌhlt. Bis zum 5. April 2019, dem Tag ihrer Parlamentsrede: "Schneidet ihr die Zunge ab!", "Verbrennt sie!", "Todesstrafe!" Bis heute erhΓ€lt Lilit Hassbotschaften und Todesdrohungen. Ihre Familie, Freunde und Mitarbeiter ihrer NGO wurden bedroht.
"GefΓ€ngnis ist nicht genug. Sie sollten verbrannt werden"
Drei Tage nach ihrer Rede versammelten sich Priester und Demonstranten vor dem Parlament, um das angeblich "besudelte" GebΓ€ude neu zu weihen. Vardan Ghukasyan, Abgeordneter der Oppositionspartei "BlΓΌhendes Armenien" und langjΓ€hriger BΓΌrgermeister der zweitgrΓΆΓten Stadt Gyumri, erklΓ€rte gegenΓΌber Radio Free Europe: "Perverse" wie Lilit mΓΌssten aus dem Land ausgewiesen werden. "GefΓ€ngnis ist nicht genug. Sie sollten verbrannt werden."
Eigentlich hΓ€tte Lilit nie ΓΌber die Lage der Transsexuellen sprechen sollen. Formal ging es bei der ParlamentsanhΓΆrung um die Rechte von Kindern. Ein Routinetermin, bei dem auch Nichtregierungsorganisationen zu Wort kommen sollten. "Ich hatte im Sekretariat des Parlaments angerufen und mich einfach angemeldet", erklΓ€rt Lilit. Als sie vor das Mikrofon trat, wusste niemand, dass sie ein Tabu brechen wΓΌrde.
Wer fΓΌr den Hass in Armenien gegen Transsexuelle eine ErklΓ€rung sucht, lΓ€uft gegen Mauern aus Schweigen. Naira Zohrabyan, die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, lΓ€sst ein geplantes Interview mehrfach durch ihr Sekretariat verschieben und schlieΓlich ganz absagen. Auch ihr Parteikollege Ghukasyan lehnt ein GesprΓ€ch ab.
Das Thema passt nicht zu dem modernen und europΓ€ischen Image, mit dem sich Armenien im Ausland prΓ€sentiert. In WerbebroschΓΌren wirbt das Land fΓΌr sich als Industriestandort, als "Silicon Valley der frΓΌheren Sowjetunion". Am Flughafen hΓ€ngen Plakate fΓΌr einen anstehenden IT-Weltkongress. Eriwan wirkt wie eine westliche GroΓstadt. Ein Taxi bucht man hier per App. Die Weinbars und CafΓ©s in der Altstadt sind so schick wie in Paris oder London.
Der Priester forderte ΓΆffentlich die Todesstrafe
Ein paar Kilometer auΓerhalb der Hauptstadt beginnt das andere Armenien. Ein Land mit gerade einmal drei Millionen Einwohnern, deren Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung geringer ist als in Swasiland oder Guatemala. Ein konservatives Land, das sich stolz als ersten christlichen Staat der Erde bezeichnet. Entlang der ungeteerten SchotterstraΓe stehen windschiefe, niedrige HolzhΓ€user. Davor parken alte Ladas und Toyotas. Ein alter Mann brennt auf einem Holzfeuer neben seinem Haus Schnaps aus Pfirsichen und Trauben. Hier, im Dorf Byuravan, steht die Kirche von Ghazar Petrosyan.
Der Priester trΓ€gt eine schwarze Robe. Breiter, grauschwarzer Bart. Auf dem Kopf ein schwarzes Kamilavkion, der zylindrische Hut Geistlicher. Petrosyan hatte nach Lilits Rede in einem Fernsehinterview ΓΆffentlich die Todesstrafe fΓΌr Transsexuelle gefordert. Beim Treffen vor der Dorfkirche greift er die Hand des Reporters, lΓ€sst sie nicht mehr los. Ob man "normal" sei, also mit einer Frau verheiratet, mΓΆchte er wissen. Strenger Blick in die Augen. Ob man Kinder habe? Noch immer hΓ€lt er die Hand des Reporters. "Was wΓ€re, wenn ein Homosexueller zu dir nach Hause kommt und sagt: 'Ich mΓΆchte deinen Sohn heiraten'?" FΓΌr ihn ist die Antwort klar: "Eine sexuelle Beziehung kann es nur zwischen Mann und Frau geben. So hat Gott die Welt gemacht."
Nach der Messe bittet er uns in den kleinen Gemeinderaum neben der Kirche. Es gibt Kaffee und GebΓ€ck. "Es ist eine SΓΌnde gegen Gott, sein Geschlecht zu Γ€ndern", sagt Petrosyan und seine Stimme wird jetzt lauter. Der Priester zitiert ein halbes Dutzend Bibelstellen, mΓΆchte, dass der Reporter jede notiert. "Transsexuelle darf es in einer Gesellschaft nicht geben. Die Kinder dΓΌrfen es gar nicht erst lernen", sagt er.
Doch auch Petrosyan gibt sich gegenΓΌber dem Journalisten aus dem Ausland gemΓ€Γigt. Von der Todesstrafe will er plΓΆtzlich nichts mehr wissen. Stattdessen fordert er, dass Geschlechtsumwandlungen als Verbrechen festgeschrieben werden. "Zu bestrafen mit vier Jahren GefΓ€ngnis."
Armenien braucht Soldaten
Ist das nur eine extreme Einzelmeinung, wie uns ein Sprecher der armenischen Kirche spΓ€ter zu erklΓ€ren versucht? Ein paar StraΓen von Petrosyans Kirche entfernt treffen wir den pensionierten Buchhalter Ishkhan Arakelyan. Freundlich drΓ€ngt er uns, im Schatten einer seiner ObstbΓ€ume zu sitzen, wΓ€hrend er WalnΓΌsse aus den Γsten schΓΌttelt und mit den HΓ€nden knackt. Arakelyan, ein rundlicher Mann mit Halbglatze, zeigt Fotos von seinem Enkel.
Transsexuelle in Armenien? "Unvorstellbar", sagt er. Das sei gegen die Natur. Dann spricht er vom Krieg mit Aserbaidschan, den die beiden NachbarlΓ€nder bis heute fΓΌhren. "Die Muslime bekommen sechs und mehr Kinder", sagt Arakelyan. Wie kΓΆnne man da gleichgeschlechtliche Liebe erlauben, bei der keine Kinder gezeugt wΓΌrden? Armenien brauche Soldaten, "sonst wird der Feind uns eines Tages ΓΌberrennen", sagt der Rentner. Auf der RΓΌckfahrt nach Eriwan fallen uns die riesigen Tafeln mit religiΓΆsen SprΓΌchen auf, die an HauswΓ€nden hΓ€ngen und inmitten der Kreisverkehre stehen: "Glaube an den Herrn Jesus Christus, so werden du und dein Haus selig!"
Armenien gehΓΆrt weltweit zu den LΓ€ndern, in denen transsexuelle Menschen am stΓ€rksten diskriminiert und verfolgt werden. Ein Land, das sich Westeuropa zugehΓΆrig fΓΌhlt, eine Demokratie ist und christlich geprΓ€gt. In einer Untersuchung der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association von 49 europΓ€ischen Staaten steht Armenien bei der Verfolgung und Diskriminierung Andersgeschlechtlicher auf Platz 47 β nur in Russland und Aserbaidschan ist die Situation noch schlechter.
Offiziell sind Geschlechtsumwandlungen und gleichgeschlechtlicher Sex in Armenien zwar nicht mehr verboten. Seit 2015 kΓΆnnen Transsexuelle auch ihren Namen Γ€ndern lassen, ohne jedoch das im Pass eingetragene Geschlecht zu wechseln. Doch die Ablehnung gegen Menschen mit einer anderen geschlechtlichen IdentitΓ€t oder Neigung sitzt noch immer tief. 97 Prozent der Armenier sind der Ansicht, dass HomosexualitΓ€t inakzeptabel ist, so eine Studie des Pew Research Centers. Bei Transsexuellen sei die gesellschaftliche Akzeptanz sogar noch geringer, sagen die Betroffenen.
Es sind SΓ€tze, die in den KΓΆpfen bleiben
Als 2014 der TravestiekΓΌnstler Tom Neuwirth alias Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewann, sagte die SΓ€ngerin und damalige Punktrichterin fΓΌr Armenien, Anush Arshakyan: "Ich habe Conchita ganz nach unten gesetzt, weil ich innerlich abgestoΓen bin." Arshakyan, Teil des bekannten Gesangsduos Inga & Anush, ergΓ€nzte: "Ich finde das PhΓ€nomen widerlich, genauso wie ich Geisteskranke widerlich finde." SpΓ€ter entschuldigte sich die SΓ€ngerin fΓΌr die Aussagen. Und doch sind es SΓ€tze wie diese, die in den KΓΆpfen der Armenier hΓ€ngen bleiben.
Im Sommer 2018 attackierten Bewohner des Dorfes Shurnoukh eine Gruppe von Transsexuellen und Schwulen, die sich in einem Privathaus getroffen hatten. Mehr als eine Stunde lang wurden die jungen Menschen durch die StraΓen gejagt, ehe die Polizei kam. Sechs der Opfer erlitten blutige Kopf- und SchΓΌrfwunden, einer hatte eine gebrochene Nase, berichtete Human Rights Watch. Keiner der Angreifer wurde festgenommen oder vor Gericht gestellt. Weil Polizei und BehΓΆrden Gewalttaten oft ignorieren oder sogar decken, gibt es nur unvollstΓ€ndige Statistiken. Eine Stichprobe von Right Side in den ersten sieben Monaten des Jahres 2018 kam auf landesweit 123 Γbergriffe, Drohungen und Misshandlungen gegenΓΌber Transsexuellen.
Monica Sarkisyan, eine hochgewachsene Transfrau mit groΓen braungrΓΌnen Augen, wurde im Juni 2019 attackiert. In der Innenstadt von Eriwan hatte sich eine Menschenmenge gebildet. "Das ist eine von ihnen. Verbrennt sie!", habe eine Frau gebrΓΌllt, als Monica vorbeiging, erinnert sich die 25-JΓ€hrige. Ein Mann rennt auf Monica zu, zerrt an ihrem Kleid und ruft: "Zieh deinen Rock aus! Beweise, dass du eine Frau bist."
Monica blickt ruhig, fast schon amΓΌsiert, als sie von der bedrohlichen Situation erzΓ€hlt. Sie ist Hass gewohnt. "Sie kamen immer nΓ€her und begannen, mich anzugreifen." Um sich zu verteidigen, hΓ€lt Monica einen Elektroschocker in die Luft, den sie stets in der Handtasche mit sich trΓ€gt. Der Mob weicht zurΓΌck. Als spΓ€ter die Polizei kommt, nehmen die Beamten nur Monica mit zur Wache. Von den Angreifern wird niemand belangt.
Eltern und Geschwister lehnen jeden Kontakt ab
Wir treffen Monica in einem CafΓ© neben der Oper. Die Bedienung, ein junger Mann mit Bart, wirkt beim Anblick der Transfrau irritiert. WΓ€hrend des Interviews deuten er und andere MΓ€nner im CafΓ© auf Monica und lachen. Monica ignoriert den Spott, den sie fast tΓ€glich erlebt. Sie hat viel tiefere Wunden. Seit sie mit 18 Jahren beschlossen hat, als Frau zu leben, lehnen ihre Eltern und Geschwister jeden Kontakt zu ihr ab, erzΓ€hlt sie. Da auch sie keine Arbeit findet, sei sie zur Finanzierung ihres Lebens auf "die UnterstΓΌtzung einiger MΓ€nner" angewiesen. Mehr mΓΆchte sie dazu nicht erklΓ€ren.
2018 erlebte Armenien eine "samtene Revolution". Hunderttausende demonstrierten in Eriwan und im ganzen Land gegen die damalige, korrupte Regierung und erzwangen so einen friedlichen, demokratischen Machtwechsel. Nach Ansicht von Beobachtern hat sich die Menschenrechtslage seitdem deutlich verbessert. Armeniens neuer Premier und HoffnungstrΓ€ger Nikol Pashinyan gilt als progressiver Liberaler, der Nelson Mandela zu seinen Vorbildern zΓ€hlt.
Doch auch seine Regierung traut sich nicht, die Lage von Transsexuellen zu verbessern. "FΓΌr unser Land ist das ein wichtiges Thema", sagt Hovhannes Galajyan, Chefredakteur der konservativen Zeitung "Iravunk". Wir sitzen in der RedaktionskΓΌche in Eriwan, es riecht nach Bier und SchweiΓ. Die Transsexuellen seien selbst schuld, dass es zu Γbergriffen kommt, sagt der 56-JΓ€hrige und lΓ€chelt durch seinen grauen Stoppelbart. "Wenn Sie in einer konservativen Gesellschaft so etwas predigen, wenn Sie versuchen, das den Leuten aufzudrΓ€ngen, dann fΓΌhrt das natΓΌrlicherweise zu Aggressionen."
Galajyan ist ΓΌberzeugt, dass die europΓ€ischen LΓ€nder versuchen, seinem Land eine liberale Gesellschaft aufzudrΓ€ngen. Eine VerschwΓΆrung des Auslands? Der Journalist nickt. "Armenien befindet sich in einem Krieg gegen auslΓ€ndische Ideen, die fΓΌr unser Land schΓ€dlich sind." Seine Zeitung sieht er als SturmgeschΓΌtz in diesem Krieg. In seinen Artikeln wettert er gegen Schwule und "Zombies", wie er Transsexuelle in der Zeitung nennt. Woher kommen diese Ablehnung und Hass gegen eine Minderheit, die nur einen verschwindend geringen Anteil der BevΓΆlkerung ausmacht? Nur wenige Menschen in Armenien trauen sich, ihre SexualitΓ€t auszuleben. Nur ein paar haben bisher wie Lilit ihr Geschlecht operativ verΓ€ndern lassen.
"Der Hass ist ein Teil unserer nationalen Tradition"
Mamikon Hovsepyan atmet tief und hΓΆrbar ein, ehe er antwortet. Der 37-JΓ€hrige kennt das GefΓΌhl, von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden. Hovsepyan ist einer von wenigen offen schwul lebenden MΓ€nnern in Armenien und Chef der nichtstaatlichen Organisation Pink Armenia, die sich fΓΌr die Rechte von Schwulen und Transsexuellen einsetzt. Auch er bekommt regelmΓ€Γig Todesdrohungen. "Der Hass ist ein Teil unserer nationalen Tradition geworden. Wenn du nicht hasst, bedeutet das, dass du kein richtiger Armenier bist."
Der Aktivist spricht von dem Einfluss der konservativen armenisch-apostolischen Kirche. Von reaktionΓ€ren politischen KrΓ€ften, die das Thema Transsexuelle und Schwule populistisch nutzen, um eine weitere Demokratisierung des Landes zu verhindern. Er spricht von Gruppenpsychologie und dem "insgesamt hohen Level an Sexismus" in der Gesellschaft. Als Mann habe man in Armenien eine "dominante Rolle", erklΓ€rt Hovsepyan. Wenn jemand als Homo- oder Transsexueller diese Stellung aufgebe, sei das fΓΌr viele erst einmal unverstΓ€ndlich. "Im Grunde genommen fΓΌhlen sie sich damit in ihrer Position bedroht."
Meline Dalusjan war eine Frau, die alles erreicht hatte. Als 19-JΓ€hrige gewann sie 2007 die Europameisterschaft im Gewichtheben. Ihr Sieg in der 63-Kilogramm-Klasse, der erste Einzeltitel einer Armenierin, machte sie ΓΌber Nacht zur Nationalheldin. Fotos von damals zeigen die junge Frau mit einer armenischen Flagge und der Goldmedaille um den Hals. Im Folgejahr wurde sie erneut Europameisterin, holte spΓ€ter weitere Medaillen und Siege.
Doch im Innersten wusste Dalusjan immer, dass sie transsexuell ist. "Schon im Kindergarten wurde mir klar, dass ich im KΓΆrper eines anderen geboren bin", sagte der 31-JΓ€hrige, der sich heute Mel nennt und als Mann lebt, in einem Interview. Als er 2015 an einer Konferenz fΓΌr Schwule und Transsexuelle in Eriwan teilnimmt, gibt es einen ΓΆffentlichen Aufschrei. Dalusjan, der als Sportlerin Meline ein Star war, vom ganzen Land verehrt, wird als Mel beschimpft, beleidigt und bedroht.
Abweichungen von der Norm werden nicht geduldet
Eine nationale Schande sei Dalusjan, sagte Pashik Alaverdyan, Chef des nationalen Gewichtheberverbandes. Jener Verband, fΓΌr den Mel so viele Medaillen gewonnen hatte. "Als armenischer Mann schΓ€me ich mich, in Armenien zu leben." Die patriarchalische Gesellschaft fΓΌhlt sich herausgefordert. Eine Gesellschaft, die keine Abweichungen von der Norm duldet und sich deshalb gegen die Schwachen wendet. Gegen Menschen mit einer fragilen SexualitΓ€t und IdentitΓ€t. Gegen Menschen wie Mel, Monica und Lilit. Welche Zukunft haben sie in ihrem Land?
Mel sah als einzige Rettung die Flucht. "Es gab so viel negative Stimmung. Ich habe nicht mal Arbeit als Trainer im Fitnessstudio gefunden", sagt der mehrfache Medaillengewinner. Nach einem Selbstmordversuch lebt er heute in den Niederlanden und versucht, sich ein neues Leben als Mann aufzubauen.
Monica hat einen Traum. "Von klein auf wollte ich Model werden", erzΓ€hlt sie. Vor kurzem erhielt sie das Angebot fΓΌr ein Casting bei der ukrainischen Version von Americaβs Next Topmodel. Aber wegen Corona wurde die Reise abgesagt. Mit leuchtenden Augen erzΓ€hlt sie von ihrer Leidenschaft fΓΌr internationale Modemarken wie Gucci, Versace und Dolce & Gabbana. "Mein Ziel ist, das Gesicht der Transfrauen zu werden."
Lilit will in Armenien bleiben. Als sie nach dem Parlamentsauftritt fliehen musste und mit Hilfe franzΓΆsischer Diplomaten fΓΌr zwei Wochen in Frankreich war, habe sie ΓΌberlegt, fΓΌr immer im Ausland zu bleiben, erzΓ€hlt sie. Dann ging sie zurΓΌck nach Eriwan. "Ich will kein FlΓΌchtling werden. Das ist auch mein Land. Meine Freunde leben hier, und sie werden weiter diskriminiert." Jeden Tag trifft sie sich mit ihren Mitstreitern in dem kleinen BΓΌro, um anderen Transsexuellen Informationen und Hilfe anzubieten. Was muss sich ihrer Ansicht nach Γ€ndern? "Es gibt keine Gesetze, die uns schΓΌtzen. Es gibt keine Hormone fΓΌr uns. Es gibt keine Γrzte und Kliniken, bei denen wir uns operieren lassen kΓΆnnen." Lilit will dafΓΌr kΓ€mpfen und weiter Reden halten.

Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in groΓen Tages- und Wochenzeitungen bei β unter anderem "SΓΌddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhΓ€ltlich. Mehr auf: www.chrismon.de
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