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Ukrainischer Bürgermeister: "Das war ein großer Fehler der russischen Führung"


Bürgermeister von Mariupol
"Das war ein großer Fehler der russischen Führung"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 08.05.2022Lesedauer: 6 Min.
Interview
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"Als wäre mein Herz herausgerissen": Mariupols Bürgermeister im t-online-Interview über die Evakuierungen und den russischen Angriffskrieg. (Quelle: t-online)

Bei der Evakuierung aus dem belagerten Stahlwerk in Mariupol wird am Freitag ein Rettungswagen von Kugeln durchsiebt. t-online spricht gerade mit dem Bürgermeister von Mariupol, als dieser davon erfährt. Es verschlägt ihm die Sprache.

Laut ukrainischen Behörden sind am Samstag alle Frauen, Kinder und Alten aus dem Asowstal-Stahlwerk in der belagerten Stadt Mariupol evakuiert worden. Zuvor war ein Evakuierungsversuch gescheitert.

t-online sprach mit dem Bürgermeister der Stadt, Vadym Boichenko, kurz vor der Nachricht der geglückten Evakuierung. Während des Gesprächs erreichen ihn plötzlich Aufnahmen eines zerschossenen Evakuierungsbusses und eines schwer Verwundeten.

t-online: Herr Boichenko, Kiew und Moskau hatten sich auf eine Evakuierung aus dem Asowstal-Stahlwerk geeinigt. Doch immer wieder scheitern Rettungsaktionen. Wo liegt das Problem?

Vadym Boichenko: Es ist ein sehr schwieriger Prozess, der auf der höchsten politischen Ebene entschieden wird. Im März haben Kuleba und Lawrow ...

... der ukrainische und der russische Außenminister ...

... zum ersten Mal über die Evakuierung gesprochen. Vor zwei Monaten. Schon damals hatte Lawrow gesagt: Die Entscheidung liegt über meiner Gehaltsstufe.

Über Lawrow ist nur Putin. Entscheidet der russische Präsident direkt, was mit den Menschen im Stahlwerk passiert?

Das ist mein Verständnis, ja. Das Verfahren gestaltet sich deswegen so kompliziert, weil die russische Führung eigentlich nicht will, dass die Menschen aus Mariupol in die Ukraine evakuiert werden. Sie versuchen, diese Menschen nach Russland zu bringen, daher stören sie den Prozess.

Aber die Menschen wollen nicht nach Russland?

Nein. Das war ein großer Fehler der russischen Führung: Sie dachte, weil die Einwohner von Mariupol Russisch sprechen, sind sie praktisch Russen und gehören eigentlich zu Russland. Aber niemand will nach Russland. Die Russen können das aber nicht akzeptieren, weil sie zu lange ihrer eigenen Propaganda geglaubt haben.

Wie viele Menschen konnten bisher gerettet werden?

Insgesamt 550 Menschen aus Mariupol und einigen umliegenden Dörfern. Über 150 davon kamen aus dem Asowstal-Stahlwerk. Aber es sind noch immer über 100 eingeschlossen, darunter Dutzende Kinder.

Haben Sie noch Kontakt zu den Verteidigern des Stahlwerks?

Donnerstagabend haben wir zuletzt gesprochen. Seit Freitagmorgen ist die Verbindung weg. Wenn evakuiert wird, herrscht Funkstille.

Was war das Letzte, was Sie von dort hörten?

Wie bedrückend die Lage ist. Die Russen schießen mit Panzern, großkalibriger Artillerie, Kampfjets und sogar mit Kriegsschiffen auf das Stahlwerk. Ein Angriff von allen Seiten. Es sieht nicht gut aus.

Haben Sie mit den Evakuierten aus Mariupol persönlich gesprochen?

Ja. Viele brauchen erst psychologische Hilfe, bevor sie wieder sprechen. Sie müssen verstehen: Das sind Menschen, die monatelang belagert wurden und kaum Wasser oder Nahrung hatten. Meine Mutter hat eine Woche gebraucht, bis sie mir erzählten konnte, was passiert ist.

Ihre Mutter war in Mariupol eingeschlossen?

Sie suchte Unterschlupf im Drama-Theater, das seit Februar einer der wichtigsten Schutzräume der Stadt war. Aber sie hatte irgendwann kein Mobilnetz mehr. Am 3. März verlor ich die Verbindung. Ich wusste nicht, ob sie noch lebte oder schon tot ist. Ich wusste gar nichts. Am 15. März schaffte sie es aus der Stadt.

Einen Tag später wurde das Theater durch einen russischen Luftschlag zerstört. Rund 600 Menschen wurden getötet.

Es war knapp. Wir umarmten uns fest, als wir uns wiedersahen und weinten sehr lange.

Was war das Erste, was sie Ihnen erzählte?

Wie der Krieg schmeckt. Sie sagte: wie heißes Wasser. Es gab in der Zeit eigentlich nichts anderes: Am Morgen bekam sie ein Glas aufgekochtes Wasser mit ein paar Crackern. Am Mittag eine Tasse Suppe, gemacht aus dem, was sie finden konnten. Am Abend wieder heißes Wasser mit Crackern.

Mariupol war bis vor Kurzem eine blühende Hafenstadt. Jetzt steht der Ort wie kein anderer für den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Fragen Sie sich manchmal, wann Sie aus diesem Alptraum aufwachen?

Ich habe viel Zeit und Mühe in die Stadt investiert. Mariupol hat sich entwickelt, wir konnten sehen, wie es vorangeht. Dann wurde uns alles genommen. Unser Leben, unsere Träume. Es fühlt sich an, als wäre mir mein Herz und meine Seele herausgerissen worden.

Wie schlimm ist die Zerstörung?

Ich gebe Ihnen ein paar Zahlen: 90 Prozent der Infrastruktur ist beschädigt, 50 Prozent ist komplett zerstört. Fast Dreiviertel der Gebäude wurden direkt von einem Panzer, Flugzeug oder von Artillerie getroffen. Es ist der blutigste Krieg in der Geschichte Mariupols. Wenn es Putins Ziel war, Hitler zu übertreffen, dann hat er es geschafft.

Die Vernichtung ist größer als bei der Besatzung durch die Nazis?

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Hälfte der Stadt zerstört und 10.000 Menschen getötet, aber in einer Zeitspanne von 1941 bis 1943. Die Russen haben in nur zwei Monaten 20.000 Menschen getötet und die Stadt in Schutt und Asche gelegt.

Rund 100.000 Menschen sollen noch in der Stadt sein. Was bedeutet die russische Besatzung für sie?

Die Besatzung hier ist anders als das, was wir bisher gesehen haben. Mariupol ist wie ein Ghetto. Die Russen haben die Stadt komplett abgeschottet und vier Filtrationslager gebaut. Dort sammeln sie Menschen, überprüfen und sortieren sie nach bestimmten Kriterien. Putin und seine Top-Kommandeure haben die Methoden von Hitler und Goebbels genau studiert.

Was heißt "überprüfen und sortieren"?

Wen jemand auf der Straße oder an einem Checkpoint erwischt wird, kommt er in eines dieser Lager und wird überprüft. Mit Glück erhält man ein Zertifikat und darf sich in der Stadt bewegen. Ein anderes Zertifikat erlaubt einem, die Stadt zu verlassen. Wenn bei der Überprüfung aber herauskommt, dass du für die Behörden gearbeitet hast oder in leitender Funktion für die Stadt, gehst du direkt in ein Internierungslager.

Was weiß man über diese Lager?

Dort sind Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht: 10 bis 15 Personen stecken sie in Zimmer von sechs Quadratmetern. Sie müssen stehen, weil sie keinen Platz zum Sitzen haben. Sie bekommen kaum etwas zu essen und dürfen nur ein Mal am Tag heraus.

Ein zweites Lager ist speziell für Jugendliche. Sie werden mit offiziellen Dokumenten und Geld geködert, damit sie nach Russland ziehen. Meist in Regionen in Sibirien oder im Fernen Osten, wo kein Russe leben will. In ein weiteres Lager stecken sie Leute, die für Versorgungsunternehmen gearbeitet haben. Die werden dazu gezwungen, die Ruinen wegzuräumen, die die Russen hinterlassen haben, und die Spuren der Kriegsverbrechen zu beseitigen.

Und das vierte Lager?

Ich habe diese Information aus zwei Quellen. Das Lager soll nicht weit entfernt vom Dorf Kosatzke liegen. 2.000 Männer sind dort untergebracht. Sie wurden aus Mariupol und den umliegenden Dörfern eingesammelt und ins Lager gesteckt. Wir glauben, dass diese Männer für etwas vorbereitet werden, wissen aber nicht, wofür. Ich kann mir vorstellen, dass sie für eine Propaganda-Show der Russen am 9. Mai benutzt und als Kriegsgefangene präsentiert werden. Als Beweis dafür, dass sie Mariupol "befreit" haben.

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In diesem Moment des Interviews – es ist Freitagnachmittag – entgleist dem Bürgermeister das Gesicht. Er erhält die Nachricht, dass ein Evakuierungsbus, der auf dem Weg zum Asowstal-Stahlwerk war, unter russischen Beschuss kam. Ein Soldat wurde getötet, sechs weitere verletzt. Boichenko braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Er hält die Aufnahmen in die Kamera.

Was ist passiert, Herr Boichenko?

Ich habe gerade erfahren, dass ein Evakuierungsbus auf dem Weg zum Stahlwerk beschossen wurde. Ein Soldat wurde getötet, sechs weitere verletzt. Sehen Sie, was die russische Armee getan hat.

Was plant Putin am 9. Mai?

Wenn Putin eine Siegesfeier plant, wird diese Feier auf Blut und Knochen stattfinden. Er ist ein Kriegsverbrecher, der den Genozid der Ukrainer in Mariupol organisiert hat.

Was halten Sie von der deutschen Zögerlichkeit, die Ukraine mit schweren Waffen zu unterstützen?

Deutschland muss verstehen, wie furchtbar dieser Krieg ist. Wladimir Putin ist ein gewöhnlicher Terrorist, der 100.000 Menschen in Mariupol belagert und 200 als Geiseln hält. Wir müssen weltweit zusammenstehen, nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa. Die Demokratie und die Freiheit von uns allen steht auf dem Spiel. Bitte gebt uns die Waffen, die wir brauchen.

Verwendete Quellen
  • Videointerview am 6. Mai
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