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Notstand ohne Ende in der Türkei – Erdogans unheimliche Macht


Notstand ohne Ende in der Türkei

Von t-online, dpa, afp, dru

Aktualisiert am 19.07.2018Lesedauer: 3 Min.
Präsident Recep Tayyip Erdogan: Regieren per Dekret auch ohne Notstand.Vergrößern des BildesPräsident Recep Tayyip Erdogan: Regieren per Dekret auch ohne Notstand. (Quelle: Henry Nicholls/reuters)
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Der Ausnahmezustand in der Türkei ist beendet. Und doch könnte das Land nicht weiter vom Zustand davor entfernt sein. Die neue Präsidialordnung und verschärfte "Anti-Terror"-Regeln drohen die Ausnahme zum Dauerzustand zu erheben.

Nach zwei Jahren ist der Ausnahmezustand in der Türkei beendet. Schlag Mitternacht lief die Notstandsregelung aus, die Präsident Recep Tayyip Erdogan nach dem Putschversuch im Juli 2016 ausgerufen hatte. Sie war danach sieben Mal verlängert worden.

Der Ausnahmezustand hat das Land verändert und das Leben Zehntausender Türken schwer gezeichnet. Seit dem Sommer 2016 wurden nach offiziellen Angaben mindestens 77.000 Menschen verhaftet, darunter Journalisten, Menschenrechtler und Oppositionspolitiker. Knapp 200 Medienhäuser wurden geschlossen. Durch Dekrete feuerte Erdogan außerdem mindestens 130.000 Staatsbedienstete, darunter Tausende Richter und Staatsanwälte.

Dass die Verhaftungen und Entlassungen nun aufhören, zeichnet sich nicht ab. Mit dem Umbau der Türkei zum Präsidialsystem ist die Rückkehr zum Zustand vor dem Notstand obsolet geworden. Erdogan hat das Land in einen autoritären Staat verwandelt. Im vergangenen Jahr ließ er sich die Ausweitung seiner Machtbefugnisse per Referendum bestätigen. Mit seinem Wahlsieg im Juni ist der Umbau formal abgeschlossen.

Hinzu kommt, dass die Regierung für die Zeit nach dem Ausnahmezustand bereits neue "Anti-Terror"-Regularien vorbereitet. Sie sollen es dem Staat auch zukünftig leichter machen, öffentliche Angestellte zu entlassen und die Versammlungsfreiheit einzuschränken. Die Opposition sieht darin nicht weniger als die Absicht, die Ausnahme zum Dauerzustand zu erheben.

Den Ausnahmezustand in die Zukunft verlängert

Wie viel Notstand in der Post-Notstands-Türkei steckt, wird klarer, wenn man man die verschiedenen Maßnahmen und Befugnisse miteinander vergleicht. Im Ausnahmezustand – so erlaubt es die Verfassung – können in der Türkei Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Der Präsident kann weitgehend per Dekret regieren. Möglich, aber nicht zwingend, ist die Verhängung von Ausgangssperren und Fahrverboten. Versammlungen und Demonstrationen können untersagt, bestimmte Gegenden abgeriegelt oder evakuiert werden. Sicherheitskräfte dürfen Personen, Fahrzeuge oder Anwesen durchsuchen und mögliche Beweismittel beschlagnahmen. Zeitungen, Magazine oder Bücher können verboten werden, wie auch TV- und Radiosendungen oder Filmvorführungen.

Erdogan nutzte die Befugnisse, um sich während des Ausnahmezustands Zehntausender Staatsbediensteter mit mutmaßlichen Putschverbindungen zu entledigen, um knapp 2.300 Bildungseinrichtungen und 15 Universitäten zu schließen, und kritische Medienstimmen nahezu komplett mundtot zu machen.

Erdogan darf auch ohne Notstand per Dekret regieren

Nach der neuen Präsidialordnung, die mit Erdogans Vereidigung im Juni in Kraft trat, kann der Staatschef nun auch ohne Notstand per Dekret regieren. Er kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Mehr noch: Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament – wie im Ausnahmezustand erforderlich – ist nicht mehr nötig. Die Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum Thema des jeweiligen Erlasses ein Gesetz verabschiedet. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten, abschaffen oder umorganisieren.

Künftig kann Erdogan auch größeren Einfluss auf die Justiz nehmen. Er darf 4 der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte bestimmen, das Parlament drei weitere. Feste Mitglieder bleiben außerdem der vom Präsidenten ernannte Justizminister und sein Staatssekretär. Zuvor hatten Richter und Staatsanwälte selbst die Mehrheit der bis dato 22 Mitglieder des Rates bestimmt. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten zuständig.

Massenentlassungen sollen möglich bleiben

Mit dem neuen "Anti-Terror"-Gesetz sollen weitere Notstandsbefugnisse in die Zukunft verlängert werden. So regelt der Gesetzesentwurf für den "Kampf gegen den Terror im Normalzustand" etwa im Detail, wie Richter, Mitglieder der Streitkräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Wie im Ausnahmezustand darf der Staat für weitere drei Jahre öffentliche Angestellte mit mutmaßlichen Terrorverbindungen schassen und kann ihnen den Pass entziehen.

Die Gouverneure der Provinzen sollen Teile ihrer Machtfülle aus dem Notstand behalten. Sie dürfen Menschen, die im Verdacht stehen, "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit zu stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten verwehren oder sie dort festhalten. Außerdem sollen sie die Versammlungsfreiheit weiterhin einschränken dürfen. Firmen und Vereine unter Terrorverdacht können auch künftig unter Zwangsverwaltung gestellt werden. Verdächtige können zwischen 48 Stunden und 12 Tagen in Polizeigewahrsam gehalten werden – länger als vor Beginn des Ausnahmezustands.

Wie die türkische Opposition befürchtet auch Außenminister Heiko Maas eine Verlängerung des Ausnahmezustands durch die Hintertür. Zwar würdigte der SPD-Politiker das Ende des Notstands als "wichtiges Signal". Zugleich kritisierte er, dass die neue Verfassung der türkischen Regierung erhebliche Vollmachten gebe. "Entscheidend ist jetzt, dass sie von diesen Befugnissen in verantwortungsvoller Weise Gebrauch macht", sagte Maas. Eine Demokratie funktioniere nur mit Gewaltenteilung, so der Außenminister weiter. "Daran wird sich die Türkei messen lassen müssen."

Verwendete Quellen
  • dpa, AFP
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