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Kolumne: Wiedervereintes Deutschland - Der Osten ist kein Schmuddelkind


Wiedervereintes Deutschland
Der Osten ist kein Schmuddelkind

  • Gerhad Spörl
MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

Aktualisiert am 05.02.2018Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Eine Kopie eines Stücks der Berliner Mauer am Ufer der Elbe in Dresden: Sachsen und andere Regionen Ostdeutschlands haben häufig zu Unrecht ein negatives Image.Vergrößern des Bildes
Eine Kopie eines Stücks der Berliner Mauer am Ufer der Elbe in Dresden: Sachsen und andere Regionen Ostdeutschlands haben häufig zu Unrecht ein negatives Image. (Quelle: Sebastian Kahnert/dpa-bilder)

Der Bau der Mauer war ein zynischer Akt mit entspannender Wirkung. Die Teilung hat uns geprägt und wirkt immer noch stark nach, vor allem im Osten, heißt es immer wieder. In Wahrheit aber sind wir gesamtdeutscher, als wir glauben.

Mitte August 1961 saßen meine Eltern mit unserem amerikanischen Untermieter zusammen und sprachen darüber, was der Bau der Mauer in Berlin bedeutete. Er war jung, hilfsbereit und arbeitete für die CIA, wie er uns alkoholisiert verriet. Mein Vater sagte zu ihm: „Wenn es Krieg gibt, dann nimmst du bitte unseren Sohn mit in die USA.“ Der Sohn, den er meinte, war mein Bruder, fünf Jahre älter als ich. Ich saß dabei, elf Jahre alt und fassungslos: „Und was wird aus mir, wenn es Krieg gibt?“

Die Mauer stand genauso viele Tage, wie heute seit ihrem Fall vergangen sind. Sie war ein zynischer Akt der Weltgeschichte. Gewaltsam riss sie Berlin endgültig auseinander und schloss die Menschen, die in der DDR wohnten und das SED-System nicht mochten, wie in einem Gefängnis ein. Der Augenblick verging, in dem sich die Sowjetunion und Amerika am Checkpoint Charlie gegenüberstanden und ein versehentlicher Schuss einen Krieg hätte auslösen können.

John F. Kennedy, der Popstar des Westens, nahm die Mauer billigend in Kauf. Denn der zynische Akt gewährte ja auch Stabilität in Mitteleuropa. So kam der Präsident erst anderthalb Jahre nach dem Mauerbau in die „Frontstadt“, wie Berlin damals hieß, und sprach die schönen Worte: „Ich bin ein Berliner.“

Die DDR, arm aber sexy?

Die DDR hatte in den Sechzigerjahren viele Namen. Sowjetische Besatzungszone. Pankow-Regime. Rot angestrichener Faschismus. Für mich war sie dieses seltsame Land, das nur drei Kilometer hinter Hof begann, wo ich in der amerikanischen Besatzungszone aufwuchs. Mein Vater sagte immer, Hof liege dort, wo die Welt mit Brettern zugenagelt sei.

Die Weltgeschichte war ein Drama, das sich vor unseren Augen entfaltete. Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, die Heroen der 68er-Bewegung, kamen aus der DDR und lebten ihren idealistischen Sozialismus, der Hegel näher war als Marx, in West-Berlin aus. Eine Folge davon war eine seltsame Kehrtwendung in der Einschätzung der DDR.

Den 68ern erschien sie als das bessere Deutschland, arm vielleicht, aber sexy. Sexy, weil sie sich nicht dem Kapitalismus hingab und Antifaschismus zur Staatsraison erhoben hatte, in der Theorie. Einer meiner späteren Freunde, der damals in der DKP war, ging Anfang der Siebziger für ein Jahr in die DDR.

Keine Schmuddelkinder im Osten

Oskar Lafontaine sagte 1989 zur bevorstehenden Wiedervereinigung, Paris liege ihm näher als Dresden. So war es damals, so ist es manchmal noch heute. Es gibt diesen abweisenden Blick des Westens auf den Osten. Warum eigentlich?

Dresden ist eine schöne Stadt für uns alle. Leipzig boomt auch deshalb, weil Studenten aus Städten im Westen hierher gekommen sind. Die Strände an der Ostsee sind nördlich von Berlin schöner als nördlich von Lübeck. Und Berlin ist der Magnet unter den europäischen Metropolen, in Schöneberg wie in Friedrichshain.

An einem symbolischen Tag wie heute ist es angebracht, ein paar lieb gewonnene Urteile zu revidieren. Die Länder, die früher in der DDR lagen, sind nicht die Schmuddelkinder, zu denen wir sie erklären und zu denen sie sich gerne selber herunterreden.

Rechtsextremismus ist kein ostdeutsches Problem

Ja, natürlich gab es den Mob in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda in den Neunzigerjahren und heute gibt es ihn in Cottbus. Es gab aber in den 90er-Jahren auch Brandanschläge auf Flüchtlingshäuser in Hamburg und Mannheim, und Köln zu Silvester 2016 lag eindeutig nicht in Sachsen. Schon vergessen?

Auch die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen, sondern ein deutsches. Die nationalkonservative Partei hat es in 14 Landtage geschafft, in 9 westliche und 5 östliche. Es ist schwer, in Baden-Württemberg 15,1 Prozent zu bekommen und in Berlin hat sie mehr Stimmen bekommen als in Brandenburg. Politisch ist Deutschland keineswegs so schlicht geteilt, wie uns glauben gemacht wird.

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Der Osten ist auch nicht toter als der Westen. In Oberfranken, wo Hof liegt, ist Industrie auf Industrie gestorben, zuerst die Brauereien, dann die Textilfirmen, dann die Glasindustrie, dann die Porzellanindustrie. Hof hatte einst 64.000 Einwohner, heute sind es noch 44.000; der stolze SpVgg Bayern krebst in der Oberliga herum.

Oder das Ruhrgebiet, in dem ich für ein Buch viel unterwegs war: In Recklinghausen, Dortmund oder Duisburg herrschen hohe Arbeitslosigkeit und Gettos mit allen Begleiterscheinungen. Oder schauen Sie in die Gegend um Pirmasens, das einst das Mekka der deutschen Schuhindustrie war.

Mehr Demut und Großzügigkeit

Der Westen jammert gerne über den Osten und der Osten jammert mit. Muss das sein? Muss natürlich nicht. Ginge auch anders. Deutschland ist erstaunlich reich und stabil und hat die Wiedervereinigung vor 28 Jahren, 2 Monaten und 27 Tagen bemerkenswert gut gehandhabt und verkraftet.

Was haben wir im "Spiegel" nicht alles über die fatale Entscheidung geschrieben, die Währung im Verhältnis 2:1 zu tauschen! Wir und andere Blätter haben bei Helmut Kohls Entscheidungen nur zu oft falschgelegen und heute würde ich sagen: zum Glück!

Es ist auch gut, dass sich manches nicht geändert hat: Deutschland blieb in der Nato und der Europäischen Union, anstatt Neutralität und Äquidistanz zu üben, wovon im Westen nicht wenige träumten. Heute finde ich es allerdings ärgerlich, dass anderes unverändert blieb.

Ich hätte es vorgezogen, wenn sich die alte Westrepublik auf dem Weg zu Gesamtdeutschland einige Veränderungen gegönnt hätte: Weniger Bundesländer wären ein Segen; über eine Änderung des Wahlsystems dachten wir nur flüchtig nach; das Grundgesetz galt zu Unrecht als sakrosankt.

Im Übrigen hätte uns im Westen ein bisschen mehr Demut gut angestanden und weniger Selbstgefälligkeit, weil unsere Brüder und Schwestern aus der DDR das wollten, was wir hatten. Und mehr Großzügigkeit sollte generell die Regel für die Sieger sein, als die wir uns fühlten.

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Normalität statt fehlendes Interesse

Zum Zirkeltag ergehen nun wieder einige gut gemeinte Ratschläge. Wir sollten uns unsere Lebensgeschichten erzählen. Wir sollten uns mehr zuhören. Vor allem: Wir sollten die Teilung überwinden. Erzählen und zuhören: Können wir tun. Tun wir wahrscheinlich ohnehin. Ich lebe seit wenigen Monaten in Berlin und treffe ständig auf neue Leute und frage sie, woher sie kommen und was sie früher gemacht haben. Das macht man ja einfach so, oder? Und sie geben gelassene Antworten.

Teilung überwunden: Haben wir womöglich weit mehr, als wir glauben. Was wir Mangel an gegenseitigem Interesse nennen, könnte ja auch Normalität bedeuten. Dazu gehört die Konzentration auf das eigene und die Ignoranz gegenüber dem anderen. Die Menschen in Bayern finden Bayern wunderbar. Die Menschen im Ruhrgebiet finden das Ruhrgebiet wunderbar. Die Sachsen finden Sachsen wunderbar.

Überall gibt es trübe Flecken, wer wüsste das nicht. Überall gibt es traurige Ereignisse: Amoklauf in München, Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin, G-20-Bürgerkrieg in Hamburg. Was im Westen an Irrsinn und Aufruhr passiert, wird wie selbstverständlich nicht mit der Teilung in Zusammenhang gebracht, was im Osten passiert aber immer. Haben die NSU-Morde etwas mit der Teilung zu tun?

Ab morgen sind wir länger wiedervereinigt, als wir geteilt waren. Ab morgen sollten wir frisch über uns nachdenken.

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