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70 Jahre Grundgesetz: Eine neue Verfassung hätte die Einheit gekrönt


Eine neue Verfassung hätte die Einheit gekrönt

  • Gerhad Spörl
Eine Kolumne von Gerhard Spörl

Aktualisiert am 21.05.2019Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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4. Oktober 1990: Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl am Rednerpult auf der ersten gesamtdeutschen Sitzung des Bundestages im Reichstag.Vergrößern des Bildes
4. Oktober 1990: Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl am Rednerpult auf der ersten gesamtdeutschen Sitzung des Bundestages im Reichstag. (Quelle: dpa-bilder)

Die Alliierten wollten 1949, dass die Deutschen sich eine Verfassung geben. Weil das Land geteilt war, blieb es beim Provisorium. Der Grund entfiel 1990. Warum aber überlebte das Grundgesetz?

Verfassungen werden von Völkerrechtlern und Staatsrechtlern geschrieben und interpretiert. Stehen Jahrestage an, werden sie von ihnen gepriesen und gefeiert. Es ist ihr Werk und wenn es gut geht, übersteht es die Zeit.

Ohne Verfassungen geht es nicht, aber Verfassungen sind nicht ganz so bedeutsam, wie die Juristen meinen. An der Verfassung des Kaiserreiches lag es nicht, dass Deutschland einen größenwahnsinnigen Kaiser hatte, der unbedingt einen Platz an der Sonne anstrebte und damit andere Länder gegen Deutschland aufbrachte. An der Verfassung der Weimarer Republik lag es nicht, dass den Nazis die Macht überlassen wurde, die sie noch nicht einmal ergreifen mussten.

Verfassungen sind das eine. Und die Geschichte ist das andere. Und Verfassungen werden geschrieben in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick, der auf sie einwirkt.

Grundgesetz ist ein Produkt der Machtverhältnisse

Unsere Verfassung heißt Grundgesetz. Sie ist nicht ganz unser Werk, konnte sie auch vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht sein. Sie ist ein Produkt der Machtverhältnisse, die uns eher zu Objekten machten.

Die Macht übten damals Amerika und Großbritannien aus. Sie setzten ihre Vorstellungen gegen den Widerstand Frankreichs durch, das sich einen schwachen und dezentralisierten Nachbarn wünschte.

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Das Kommuniqué über die Grundzüge der neuen politischen Ordnung veröffentlichten die Alliierten am 7. Juni 1948. Es löste Bestürzung und Ablehnung aus: Weil es die Aussicht auf ein geeintes Deutschland begrub; weil es die freie Verfügung über Wirtschaft und Außenhandel einschränkte; weil die Ruhrindustrie unter Kontrolle stehen sollte. Die deutschen Ministerpräsidenten (eine Bundesregierung gab es ja noch nicht) wurden am 1. Juli zur Übergabe nach Frankfurt einbestellt, kannten aber bis zuletzt weder Stunde noch Tagungsort. Die Demütigung war eine Folge des Widerstandes gegen die Vorstellungen der Alliierten.

Im Nachhinein wirkt das seltsam: Wenige Jahre nach dem von Deutschen entfesselten Krieg wurde das Land weder deindustrialisiert noch dezentralisiert. Worüber regten sich Adenauer und Schumacher und die anderen eigentlich auf?

Sie wollten ein Gesamtdeutschland, sie wollten keinen Weststaat als Dauerzustand. Sie meinten es ernst mit dem geeinten Land, das später nur noch in Sonntagsreden beschworen wurde.

Die Alliierten beharrten darauf, dass sich die Deutschen eine Verfassung geben sollten, denn Verfassungen gebühren einem Vollstaat. Vor allem die amerikanische Besatzungsmacht legte Wert darauf, dass ein neues Ganzes entstand und nichts Vorläufiges. Das Ganze bedeutete eine Nationalversammlung, die eine Verfassung ausarbeitet. Lucius D. Clay, der US-Militärgouverneur, war nicht amüsiert über die Widerspenstigkeit und sagte damals: "Die Russen werden jetzt darauf hinweisen, dass die Deutschen den Weststaat nicht wollten und dass nur die Amerikaner ihn wünschten."

"Vorläufige organisatorische Maßnahmen"

Die Deutschen beugten sich dann doch der normativen Kraft des Faktischen, aber mit ihrem Provisoriumswunsch setzten sie sich durch: "Eine deutsche Verfassung könne erst geschaffen werden, wenn das gesamte deutsche Volk die Möglichkeit besitzt, sich in freier Selbstbestimmung zu konstituieren; bis zum Eintritt dieses Zeitpunktes können nur vorläufige organisatorische Maßnahmen getroffen werden", schrieb Carlo Schmid, einer der großen Sozialdemokraten jener Tage.

Provisorium anstatt Verfassung. Vorläufigkeit anstatt Vollstaat. So kam es.

Und so blieb es, als die friedliche Revolution in der DDR die Westdeutschen überraschte. Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte die Vereinigung von einer Nationalversammlung gekrönt werden müssen, die aus dem Grundgesetz eine Verfassung formuliert hätte. So wollten es die Sachwalter deutscher Interessen im Jahr 1949. So aber wollte es der Weststaat nicht, als aus Zwei tatsächlich Eins wurde. Warum nicht?

Kein Interesse an einer deutschen Nationalversammlung

Weil es schnell gehen sollte. Dafür sorgten zuerst die DDR-Deutschen, die ihren Staat los werden wollten und zwar subito. Ein zweiter Grund waren die internationalen Verhandlungen über die Einbindung des wiedervereinten Deutschlands in Nato und Europäischer Union, die auch im Geschwindeschritt vorangehen mussten, da niemand wusste, wie lange sich Michail Gorbatschow halten würde.

Die ganze Wahrheit ist aber, dass weder Helmut Kohl noch Hans-Dietrich Genscher das geringste Interesse daran hatten, eine Nationalversammlung einzuberufen – ein langes Palaver über dies und das und jenes, was unbedingt in eine Verfassung einfließen sollte, vorgebracht von zahllosen Gruppen mit zahllosen Meinungen. Und schließlich hatte sich das Grundgesetz bewährt, oder nicht? Warum auch noch daran rütteln, wenn die Welt Kopf steht?

Es gibt gute Gründe, dass es beim Grundgesetz blieb. Es gibt aber auch gute Gründe, den Fortbestand im Nachhinein ein wenig zu bedauern. Vielleicht wäre eine Nationalversammlung besser gewesen, denn sie hätte mehr Mitsprache und mehr Mitbestimmung bei der Wiedervereinigung bedeutet und womöglich hätte sie für innere Entspannung gesorgt: jetzt, hier, heute.

Spannend finde ich auch, worum es 1949 rund um das Grundgesetz auch ging: um eine Neugliederung der Länder. Sie war notwendig, weil der Südwesten sowohl von den Amerikanern als auch von den Franzosen besetzt war und somit in mehrere Teile zerfiel. Erst allmählich fügte sich zusammen, was wir heute als Baden-Württemberg kennen – ein Bindestrichstaat aus zwei alten Ländern wie auch Nordrhein-Westfalen – eben Produkte von mittlerer Größe, damit kein überragend großes Territorialgebilde wie Preußen je wieder Deutschland beherrschen konnte.

Alles ist noch beim Alten

Damals gab es auch noch andere Versuche zur Arrondierung wegen der Umstände in der Nachkriegszeit. Schleswig-Holstein, durch Flüchtlinge verdoppelt, wollte sich um einen breiten Streifen niedersächsischen Gebietes südlich der Elbe und um Hamburg erweitern. Hamburg lehnte dankend ab. Auch Niedersachsen wollte von der Erweiterung um das industriearme und notleidende Land ganz oben im Norden nichts wissen, es sei denn, es hätte sich auch noch Bremen einverleiben dürfen.

Nichts änderte sich. Bremen darf immer noch Stadtstaat sein, als verstünde sich das von selbst. Hamburg existiert nach wie vor in stolzer Eigenständigkeit. Ideen von einem Nordstaat tauchten zwar immer mal wieder auf, aber folgenlos. Alles blieb beim Alten. Alles ist noch beim Alten.

Was historisch gewachsen ist, soll nicht abgeschafft werden

Deutschland liebt manchmal die Geschichte mehr als die Veränderung. Was ist, darf bleiben. Was historisch gewachsen ist, soll nicht abgeschafft werden. Was nach einem verlorenen Krieg möglich gewesen wäre, ist im Frieden und wirtschaftlichen Wohlstand nicht zu machen. So ist es gekommen, wie es kommen musste. Nach 1989 wurden alte kleine Länder wie Thüringen oder Sachsen-Anhalt neu geformt. Auf diese Weise besteht Deutschland aus noch mehr Ländern anstatt aus wenigeren.

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Ich bin mit dem Satz aufgewachsen, dass Bonn nicht Weimar sein dürfe. Weimar war das Monster, gegen das der Parlamentarische Rat das Grundgesetz aufrichtete. Er hat es gut gemacht. Er hat es gründlich gemacht. Die politische Ordnung hat 70 Jahre überdauert, das ist ziemlich viel. Wäre daraus bei der Wiedervereinigung eine Verfassung geworden, hätte wenig geändert werden müssen.

So feiern und preisen wir das Grundgesetz, das am Donnerstag 70 Jahre alt wird. Und wir feiern und preisen mit, was seither aus uns geworden ist. Denn darauf kommt es an, auf die Wirklichkeit, für die das Grundgesetz den bleibenden Rahmen bildet.

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