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Klimaaktivist Tadzio Müller: "Pipelines zu zerstören, ist unsere verdammte Pflicht"


Klimaaktivist Tadzio Müller
"Pipelines zu zerstören, ist unsere verdammte Pflicht"

  • Annika Leister
Von Annika Leister

Aktualisiert am 05.11.2022Lesedauer: 6 Min.
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Tadzio Müller: Er ist häufig Redner bei Umweltprotesten ganz unterschiedlicher Gruppen, hier 2019 bei "Fridays for Future".Vergrößern des Bildes
Tadzio Müller: Er ist häufig Redner bei Klimaprotesten ganz unterschiedlicher Gruppen, hier 2019 bei der Bewegung Fridays for Future. (Quelle: POP-EYE/Stefan Mueller/imago images)

Mit einem Tweet zum Tod der Radfahrerin in Berlin hat Tadzio Müller für Empörung gesorgt. Wie weit würde er für den Klimaschutz gehen? Ein Besuch.

Tadzio Müller hat eine anstrengende Woche hinter sich. Doch er öffnet die Tür zu seiner Neuköllner Altbauwohnung mit einem Lächeln. Der 46-Jährige hat Lust, sich zu erklären, geradezurücken, was er zu hastig formuliert hat.

"Kaffee? Tee?", fragt er und zeigt auf ein großes Sofa in seinem Wohnzimmer. "Tisch habe ich keinen", sagt er entschuldigend. "Das soll helfen, meine ADHS-Persönlichkeit ein bisschen zu stoppen."

Mit einem Tweet hat Müller in dieser Woche bundesweite Empörung ausgelöst. "Scheiße, aber: nicht einschüchtern lassen. Es ist Klimakampf, nicht Klimakuscheln & shit happens", so kommentierte er den schweren Unfall einer Radfahrerin in Berlin, zu dem ein Einsatzfahrzeug womöglich verspätet erschien, nachdem Klimaaktivisten sich auf der A100 an ein Schild geklebt hatten. Inzwischen ist die Frau gestorben.

Müller bereut vor allem sein "Shit happens": "Das war dumm und pietätlos", sagt er. "So redet man nicht über das Leben eines Menschen." Zum Rest der Botschaft in seinem Tweet aber steht er. Die umstrittenen Aktionen der "Letzten Generation" nämlich, die nun ganz Deutschland beschäftigen, sind aus Müllers Sicht genau richtig. Mehr noch: Sie dürften, wenn es nach ihm geht, noch um einiges weitergehen.

Blockaden als Hauptgeschäft

Müller hat Politikwissenschaften studiert und ist Klimaaktivist der ersten Stunde. Der Sohn einer Brasilianerin und eines deutschen Anwalts kämpft seit mehr als 20 Jahren für den Klimaschutz. Greta Thunberg war da noch nicht einmal geboren. Blockaden, wie sie die "Letzte Generation" nun anwendet, waren dabei lange Müllers Hauptgeschäft. Castor-Transporte, Bagger in Kohlegruben, Fahrzeugtrosse auf dem Weg zu Gipfeltreffen – Müller hat sie alle schon gestoppt. Mehrfach saß er wegen solcher Aktionen schon in Arrestzellen, dreimal wurde er verurteilt: wegen Behinderung, wegen Widerstands, wegen Beleidigung.

Fridays for Future mit ihren Demonstrationen sind inzwischen allgemein bekannt. "Ende Gelände", Müllers Gruppe, zählt wie die "Letzte Generation" zum radikaleren Teil der Klimabewegung. Auch bei angemeldeten Demonstrationen läuft "Ende Gelände" mit, vor allem aber setzt die Gruppe ganz auf den Kurs ihres Mitgründers Müller: Aktionen des zivilen Ungehorsams. Der Verfassungsschutz verortet den Berliner Ableger im linksextremen Spektrum.

Weiter gehen als bisher – so wie Müller dürften wohl einige in der Klimabewegung denken. Zurzeit bleiben diese Stimmen in der Öffentlichkeit stumm. Müller aber hat keine Angst, er hat noch nie eine Konfrontation gescheut, er liebt die Provokation. Vom Y-Kollektiv hat er sich einmal bei einem "Chemsex"-Wochenende begleiten lassen, hat vor laufender Kamera harte Drogen genommen und mit seinem Partner geschlafen. Rechtsbruch, gebannt auf Video. Und obwohl ihm regelmäßig harter Gegenwind entgegenschlägt, lädt er die Presse weiter in seine Wohnung ein.

"Furchtlos bis zur Dummheit", so habe ein Ex-Freund ihn mal bezeichnet, sagt Müller und lacht. Und irgendwie sei da was dran.

Müller bezeichnet radikale Aktionen als "Notwehr"

Müller nimmt im Schneidersitz Platz, legt ein Jointpapier vor sich zurecht, packt Tabak darauf, streut ein wenig Gras darüber. Auch das ist ein Mittel für ihn, um sein ADHS im Zaum zu halten, um seine Energie zu dämpfen und die Gedanken in seinem Kopf zu sortieren.

Er redet schnell, seine Hände sind fast immer in Bewegung, oft wechselt er ins Englische und bleibt für mehrere Sätze dabei. "Wir leben im Klimanotstand", sagt er. Die Politik aber verweigere, darauf tatsächlich zu reagieren. Ebenso wie die Gesellschaften des globalen Nordens verweigerten zu akzeptieren, dass ihr Wohlstand und ihre Lebensweise die Hauptursachen der Katastrophe seien – und schon jetzt Grund für Tausende Tote im globalen Süden.

"Radikale Aktionen, die den Alltag stören, sind deswegen nicht nur legitim", findet Müller. "Sie sind Notwehr." Es gelte nun mit aller Macht klarzumachen: "Deutschland, wir müssen reden. Deutschland, du bist eine amoralische Drecksau."

Wie weit würde Müller gehen, um diese Botschaft zu übermitteln? Straßenblockaden? Attacken auf millionenschwere Gemälde? Richtig und wichtig, findet Müller. Dasselbe gelte zum Beispiel für die Sabotage neuer Gaspipelines, die als Ersatz für die Versorgung aus Russland gerade in Europa entstehen sollen. "Diese Pipelines zu zerstören, ist eigentlich unsere verdammte Pflicht", sagt er mit fester Stimme. Eine Idee, die auch der schwedische Autor Andreas Malm in seinem in der Klimabewegung beliebten Buch "How to blow up a pipeline" (Wie man eine Pipeline in die Luft jagt) vertritt.

Müllers Worte können gelesen werden als Aufforderung zur Sabotage, zur strafbaren Sachbeschädigung im großen Stil. Zum Rechtsbruch, der gefährlich enden kann. Seine Rechtfertigung dahinter ist einfach, es ist die Logik, der auch die "Letzte Generation" folgt: Das Leben von Tausenden, ja, die Existenz der gesamten Menschheit geht über ein paar Gemälde und Rohre.

Das Leben Einzelner wolle er keinesfalls gefährden, sagt Müller. Er gesteht aber bereitwillig ein, dass bei solchen Aktionen immer etwas passieren könne. "Zivilen Ungehorsam ohne Restrisiko gibt es nicht", sagt er. Er denkt an die Proteste, die seine Gruppe "Ende Gelände" in riesigen Kohlegruben durchgeführt hat: "Es hätte immer einer fallen und sich das Genick brechen können."

Mord- und Vergewaltigungsdrohungen

Die Ermittlungen zu dem Todesfall in Berlin laufen noch, der Einfluss des Protests auf die Verspätung des Spezialfahrzeugs ist noch nicht nachgewiesen. Die Wut auf die "Letzte Generation" aber ist bereits riesig.

Müller hat das nach seinem verunglückten Tweet am eigenen Leib erfahren. Er hat ihn rasch gelöscht und sich auch auf Twitter entschuldigt. Dennoch griffen ihn Medien bundesweit auf, Anfragen prasselten auf Müller ein, die "Bild"-Zeitung fing ihn mit einem Reporterteam vor seiner Wohnung ab, in den sozialen Medien hagelte es Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Müller schüttelt den Kopf. So etwas habe er in 20 Jahren "linksradikaler Pressearbeit" noch nicht erlebt.

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Die Aufregung analysiert er nicht nach politischen Kategorien, sondern mit psychotherapeutischem Vokabular. "Verdrängung" ist dabei das Schlüsselwort. Deutschland wolle das wahre Problem, die existenzielle Krise, um jeden Preis verdrängen – und ziehe deswegen eine rote Linie. Politik und Gesellschaft wollten gerne einen Klimaaktivismus, "der funktioniert wie ein deutsches Amt: von 9 bis 16 Uhr geöffnet, leise, ungefährlich, unwirksam". Dafür aber sei es längst zu spät.

"Dann wird es eine grüne RAF geben"

Politiker von Union und AfD pochen zurzeit bereits auf härtere Strafen für Demonstranten, die Müllers favorisierte Methoden anwenden. Auch FDP-Justizminister Marco Buschmann hat sich in dieser Richtung geäußert. Das Landgericht München hat am Freitag nach wiederholten Blockaden für zwölf Klimaaktivisten eine Ingewahrsamnahme bis Anfang Dezember angeordnet – ohne Prozess.

Müller fürchtet die Konsequenzen dieser Dynamik, er sagt: "Wenn der Staat jetzt härter durchgreift, wird es eine grüne RAF geben."

Die Warnung vor der grünen RAF hat er bereits vor einem Jahr in einem "Spiegel"-Interview ausgesprochen. Damals hat er mit dem Gedanken auch ein wenig kokettiert, wie er zugibt. Der "Tagesspiegel" nannte es "geistige Brandstiftung", auch aus der Klimabewegung gab es Kritik: Es gebe keine Anzeichen dafür, dass Gruppen über zivilen Ungehorsam hinausgehen wollten.

Jetzt aber, behauptet Müller, sei die Lage wirklich ernst. Obwohl er beteuert, dass er eine solche Entwicklung fürchtet, bleibt dabei doch ein wenig die Frage: Warnt oder wirbt er für eine "grüne RAF"?

Gegenüber von Müllers Sofa hängt ein Bild von dem erschossenen Benno Ohnesorg. Der Student, der 1967 bei einer Demonstration von der Polizei getötet wurde, liegt leblos auf dem Boden, eine Helferin stützt seinen Kopf. Für einige Mitglieder der RAF war der Mord an Ohnesorg ein Schlüsselmoment, ein Grund, zu den Waffen zu greifen.

Für Müller ist Widerstand, der sich gegen Menschen richtet, bei aller Liebe zur Radikalität nicht wünschenswert, sagt er. Es ist seine rote Linie. "Ethisch falsch, politisch kontraproduktiv", so bewertet er die Methoden der RAF. Und er hat Polizisten schon durchgreifen sehen, war europaweit bei Protesten dabei, in denen geknüppelt und Tränengas verschossen wurde. In Prag sei er selbst im Gewahrsam von Polizisten zusammengeschlagen und -getreten worden, erzählt er. Seitdem leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung. In den 90er-Jahren sei dieser Umgang der Polizei mit linken Demonstranten oft Standard gewesen.

Panikattacken und "Klimadepression"

Müller wünscht sich diese dunklen Zeiten nicht zurück, die Akzeptanz für die Klimaproteste in den vergangenen Jahren ist für ihn ein Fortschritt, sagt er. Dass radikalere Formen des Protests diese Akzeptanz gefährden, ist ein Widerspruch, den auch er nicht auflösen kann. Der Staat müsse sich eben endlich bewegen und wahrmachen, was er versprochen habe: die Einhaltung der Pariser Klimaziele.

Selbst wird Müller sich nicht auf die Straße kleben, auch nicht mehr an anderen radikaleren Aktionen teilnehmen. Seit Prag hat er Panikattacken, jede Demonstration ist eine Herausforderung für ihn. Und seit zwei Jahren leide er unter einer "Klimadepression", weil sich die Politik so gar nicht bewege. "Ich bin wahnsinnig müde", sagt er und reibt sich die Augen.

Müller, das Urgestein der Bewegung, denkt deswegen darüber nach, sich aus den Klimaprotesten noch stärker zurückzuziehen. Schluss mit Aktivismus macht er aber noch lange nicht – er will sich stattdessen auf den Einsatz für die Rechte von Lesben, Schwulen und Transsexuellen konzentrieren.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Tadzio Müller
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