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Abgesagter Vortrag an Humboldt-Uni: "Gewinnen Kohäsion durch Realitätsverweigerung"


Abgesagter Vortrag über Geschlecht und Gender
"Die Eiferer erreichen, was sie sich vorgenommen haben"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 06.07.2022Lesedauer: 4 Min.
Interview
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Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin: Dort wurde ein Vortrag der Biologin Marie Luise Vollbrecht nach Protesten abgesagt.Vergrößern des Bildes
Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin: Dort wurde ein Vortrag der Biologin Marie Luise Vollbrecht nach Protesten abgesagt. (Quelle: Bildagentur-online/Schoening/imago-images-bilder)

Über "Geschlecht" sollte an der Berliner Humboldt-Uni gesprochen werden, das erregte heftigen Unmut. Der Historiker Jörg Baberowski erklärt, was wirklich hinter dem Protest steckt.

"Geschlecht ist nicht gleich (Ge)schlecht", so lautete der Titel des Vortrags, den die Biologin Marie-Luise Vollbrecht am vergangenen Sonntag an der Humboldt-Universität zu Berlin halten wollte. Genauer gesagt sollte es um "Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt" gehen. Die Veranstaltung im Rahmen der "Langen Nacht der Wissenschaft" fand allerdings nicht statt – weil der "Arbeitskreis kritischer Jurist*innen" Protest wegen "Queerfeindlichkeit" erhob.

Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsfelder sind unter anderem der Stalinismus und die Geschichte der Gewalt. 2012 erhielt Baberowski den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Standardwerk "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". 2021 erschien sein Buch "Der bedrohte Leviathan. Staat und Revolution in Russland".

Die Universität sagte die Veranstaltung mit dem Verweis auf Sicherheitsbedenken ab. Mittlerweile kündigte die Humboldt-Universität an, den entfallenen Vortrag am 14. Juli in Form einer Podiumsdiskussion über das binäre Geschlechtskonzept in der Biologie aus verschiedenen Perspektiven nachzuholen. Der Protest gegen die Naturwissenschaftlerin Vollbrecht ist aber nicht der erste Vorfall dieser Art. Der Historiker Jörg Baberowski wird von Linksextremisten diffamiert. Im Gespräch mit t-online erklärt der Forscher, wie die Situation an der Humboldt-Universität so eskalieren konnte.

t-online: Professor Baberowski, wie ist es möglich, dass an der Humboldt-Universität kein Vortrag mehr über biologische Geschlechter gehalten werden kann? Die im Grundgesetz verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre müsste doch auch dort Geltung haben.

Jörg Baberowski: Die Freiheit von Forschung und Lehre ist ein hohes Gut. In der Wissenschaft geht es um den Austausch und die Plausibilisierung von Argumenten. Erst an einer Gegenposition kann die eigene Sicht auf einen Gegenstand geschärft werden. Manche aber sind offenbar überzeugt, dass Wissenschaft Meinung und Glaube sei und sich deshalb außerwissenschaftlichen Erwägungen beugen müsse. Solche Überzeugungsgemeinschaften lassen nur gelten, was sich in ihr Weltbild einfügen lässt.

Auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger kritisiert die Absage des Vortrags der Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht. Wie kann wieder eine freie Diskussion über wissenschaftliche Themen gewährleistet werden?

Diese Erweckungsbewegungen bekommen zu viel Aufmerksamkeit. Es wäre klüger, wenn die Medien derartige Aktionen einfach ignorieren würden, denn es kommt diesen Aktivisten nicht darauf an, das Gespräch zu suchen, sondern im Gespräch zu sein. Stets bekommen sie die Aufmerksamkeit, die sie brauchen, um einen Macht- und Anerkennungsgewinn zu erzielen. Diesen Gefallen sollte man ihnen nicht erweisen.

Wer sind diese Aktivisten denn eigentlich?

Es sind eigentlich immer die gleichen sechs, sieben Personen, die diese völlig sinnlosen Debatten inszenieren, weil die Suche nach Aufmerksamkeit ihr einziger Lebensinhalt ist, die in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken versuchen, Repräsentanten einer mächtigen Bewegung zu sein. In Wahrheit sind sie völlig unbedeutend.

Warum haben sie dann solchen Einfluss?

Realitätsverlust in Gruppen, so hat der Soziologe Heinrich Popitz dieses Phänomen genannt. Weltanschaulich geschlossene Gruppen gewinnen ihre Kohäsion durch Realitätsverweigerung, durch die Unterscheidung von Freund und Feind. Wer nicht mehr korrigierbar ist, mag verblendet sein, gewinnt aber an Kraft gegenüber den vielen Menschen, die nicht organisiert sind. Und weil solche Aktionen, wenigstens in Berlin, auf geringen Widerstand stoßen, glauben die Eiferer, es sei nicht nur erlaubt, sondern auch geboten, was sie tun.

Sitzen sie nicht auch in einigen Gremien?

In manchen Gremien der Humboldt-Universität haben diese Gruppen Sitz und Stimme, die sie nutzen, um sich überall Gehör zu verschaffen. Im vergangenen Jahr beteiligten sich 1,23 Prozent der Studenten an den Wahlen zum Akademischen Senat. Kaum mehr waren es, die sich für die Wahlen zum Studentenparlament interessierten. Wähler und Gewählte sind faktisch dieselben Personen. Es ist das Dilemma, in dem sich jede Hochschulleitung befindet, dass sie mit dieser Wirklichkeit zurechtkommen muss.

Warum sorgt das Präsidium der Humboldt-Universität nicht dafür, dass von Teilen der Studierendenschaft kritisch gesehene Themen öffentlich debattiert werden können?

Das Präsidium der Humboldt-Universität ist in einer schwierigen Situation, die ich gut verstehen kann. Es geht ihm natürlich darum, Wissenschaftler vor Übergriffen zu schützen. Aber in diesem Fall wäre es vielleicht besser gewesen, den Vortrag nicht abzusagen. Was hätte schon geschehen können? Es läuft immer nach dem gleichen Muster ab, und jedes Mal erreichen die Eiferer, was sie sich vorgenommen haben. Vorträge werden abgesagt, Wissenschaftler diffamiert, und am Ende hängt man ihnen noch ein Etikett an, mit dem sie dann in der Öffentlichkeit herumgereicht werden.

Wie kann eine vernünftige Debattenkultur wiederhergestellt werden?

Wir dürfen nicht zulassen, dass sich solche Muster der Konfliktinszenierung und Konfliktbewältigung durchsetzen. Das ist auch im Interesse all der jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen. Die Universität muss ein Ort des freien Austauschs von Argumenten und Hypothesen sein. Und sie sollte auch ein Ort sein, an dem jede Fachkultur sein darf, was sie ist. Biologen sehen mit anderen Augen auf die Welt als Historiker oder Kulturwissenschaftler.

Das ist kein Mangel, dem abgeholfen werden müsste, sondern ein Gewinn, der unser Leben bereichert. Ein Gespräch ist nur dann fruchtbar, wenn es sich von dem Gedanken leiten lässt, dass der andere auch recht haben könnte. Wenn sich dieser hermeneutische Grundsatz an den Universitäten wieder bemerkbar machen würde, wäre schon fast alles gewonnen.

Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jörg Baberowski via Videokonferenz
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