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Migration: Die vergiftete Stimmung im Land hat Folgen


Flüchtlinge, Migration, Islam
Die vergiftete Stimmung im Land hat Folgen

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

05.01.2018Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Es ist eine Minderheit, die sich asozial verhält, doch sie wähnt sich als Mehrheit und tritt entsprechend lautstark und provozierend auf. (Symbolbild)Vergrößern des Bildes
Es ist eine Minderheit, die sich asozial verhält, doch sie wähnt sich als Mehrheit und tritt entsprechend lautstark und provozierend auf. (Symbolbild) (Quelle: Sebastian Kahnert/dpa)

Die erste Woche 2018 war zum Fürchten. Es ging fast nur um Flüchtlinge, Migration, Islam - und das immer exzessiver. Das hat Folgen. Ein Neujahrsbaby wird gehasst, eine Mutter darf nicht in einen Sportverein. So kann es nicht weitergehen. Wir drohen uns zu verlieren.

Der Jahresanfang hat viele unheilvolle Akzente für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gesetzt. Wenn wir nicht aufpassen, drohen uns die Auseinandersetzungen um Deutschlands Identität zu entgleiten. Wer gedacht hat, wir pendeln uns langsam ein, irrt. Der Ton wird immer rauer.

Noah Becker, Sohn von Tennis-Legende Boris Becker, berichtet davon, dass er wegen seiner „braunen Hautfarbe“ angegangen werde: „Im Vergleich zu London oder Paris ist Berlin eine weiße Stadt.“ Als Reaktion erntet er über den Twitter-Account eines Richters und Bundestagsabgeordneten die Beschimpfung „Halbneger“.

In Duisburg kann eine junge Mutter ihre Mädchen nicht beim "BSF Hamborn 07 Top Fit" zum Tanzkurs anmelden. Der Frau wurde der Zutritt verweigert, weil sie ein Kopftuch trägt. Religion und Politik hätten beim Sport nichts verloren, sagt der Vereinsvorsitzende. Nun wird er im Netz wüst angepöbelt.

PR-Strategien der Populisten

In Wien überschütten Menschen ein Neujahrsbaby und seine jungen Eltern mit grausamen Hasstexten, auch hier, weil die Mutter ein Kopftuch trägt. Allerdings gehört in diesem Fall zur Wahrheit, dass es danach Zehntausende Solidaritätsbekundungen für die Familie gab.

Keine Frage. Es ist eine Minderheit, die sich asozial verhält, doch sie wähnt sich als Mehrheit und tritt entsprechend lautstark und provozierend auf. Viele sind sich heute über die PR-Strategien der Populisten im Klaren, dennoch bekommen sie nach wie vor zu viel Aufmerksamkeit. Politik und Medien haben sich den Floh ins Ohr setzen lassen, dass es immer und immer wieder um Flüchtlinge, Migration, Islam gehen müsse. Dass das die Themen seien, die die Menschen bewegten.

Zweifelsohne sind das wichtige Themen. Aber muss es immer nur darum gehen? Oder alternativ um Donald Trump?! Viele Deutsche interessiert ganz anderes: Arbeitsverdichtung, Dauerstaus, zerbröselnde Brücken und kaputte Straßen, Zukunft der E-Mobilität, verödende Innenstädte und ländliche Gebiete, Tierschutz und Landwirtschaft, Überlastung von Kranken- und Altenpflegern, Stümpereien in der Bildungspolitik…

Muss es immer nur um Flüchtlinge, Migration und Islam gehen?

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt aber findet in einem Zeitungsbeitrag fast ausschließlich Platz für Heimattümelei und christlich-abendländische Leitkultur-Rhetorik, um auf die Klausurtagung in Kloster Seeon einzustimmen. Das wäre durchaus in Ordnung, nur warum kommt so ein Text nie ohne Breitseite gegen Einwanderer aus?

Mal darüber nachgedacht, dass es kaum Ausführungen von CDU-Politiker Jens Spahn gibt ohne mindestens einen Seitenhieb auf Muslime? Denkt doch positiv! Sagt, was ihr sein wollt, nicht, was ihr nicht sein wollt. Fast jeden Tag gibt es härteste Kritik, stets mit Verweis auf Meinungsfreiheit und Aufklärung. Was könnte man dagegen haben, wenn es nicht immer nur übertrieben in die eine Richtung ginge? Eine Gesellschaft ist mehr als ihre Minderheiten.

Der fürchterliche Tod eines jungen Mädchens im rheinland-pfälzischen Kandel lässt niemandem Zeit, an Opfer und Familie zu denken, weil manche sofort politischen Nutzen daraus ziehen wollen, dass der Tatverdächtige ein minderjähriger afghanischer Flüchtling ist. Ein Gutachten aus Niedersachsen zu Gewalt und Flüchtlingen belegt im Grunde nur Altbekanntes, trotzdem wird es zum Hauptthema der Nachrichten. Jede Wette: Bei den Sondierungsgesprächen von Union und SPD ab Sonntag wird wieder das Flüchtlingsthema aufgebläht, obwohl schon der Wahlkampf gezeigt hatte, dass es eben nicht das Alpha und Omega der deutschen Politik ist.

Immer krasser, immer heftiger, immer unbarmherziger

Während Konservative ihren bürgerlichen Kern abgrenzen, heißt das Motto bei anderen: immer krasser, immer heftiger, immer unbarmherziger draufhauen. Die AfD-Fraktionsspitze twittert von „importierten, marodierenden, grapschenden, prügelnden, Messer stechenden Migrantenmobs“ und „barbarischen, muslimischen, gruppenvergewaltigenden Männerhorden“, die es an Silvester 2017 gar nicht gegeben hatte.

Unsere Debattenkultur verkommt zusehends – und dabei denke ich nicht nur an soziale Medien. Es werden nicht nur Äußerungen kritisiert, der ganze Mensch dient als Angriffsfläche. Und selbst das reicht vielen nicht aus. Um unliebsame Personen mundtot zu machen, werden zunehmend die Angehörigen mit reingezogen. Die Staatsministerin Aydan Özoguz erlebt das, die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, die Bloggerin Kübra Gümüsay und andere. Sie alle werden auch über ihre Familien attackiert. Mich erinnert das ans Vorgehen in autoritären Regimes. Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn sich bald niemand mehr traut, Haltung zu zeigen.

Vergiftete Debattenkultur im Land

Bundesjustizminister Heiko Maas, dem das Verdienst zukommt, das Hassproblem erkannt und den Kampf dagegen vorangetrieben zu haben, wird von allen Seiten wegen seines nun geltenden Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) attackiert. Vorwiegend natürlich von Rechtspopulisten, da es offenbar überwiegend ihre Postings sind, die Internetplattformen nach der neuen Regelung löschen, aber auch von neutralen Beobachtern, die allerdings die Wucht der verbalen Hetze selbst kaum kennen. Das NetzDG mag noch nicht ausgereift sein, aber es ist ein wichtiges Signal.

Wir müssen der vergifteten Debattenkultur im Land auf breiter gesellschaftlicher Basis beikommen. Dazu gehört juristisches Durchgreifen bei Volksverhetzung und Beleidigungen. Hier sind die Staatsanwaltschaften gefragt. Dazu gehört, dass sich Politik und Medien nicht permanent von Populisten die Themen diktieren lassen. Und wir selbst müssen uns an die eigene Nase fassen, und verbal abrüsten.

Die Mehrheit der Bevölkerung mag das alles nur am Rande wahrnehmen. Das ist gut so. Doch die Vehemenz, mit der man die Öffentlichkeit mit Themen wie Flüchtlinge, Migration, Islam, Trump, AfD traktiert, hat konkrete Folgen für unser aller Alltag. Das zeigen die Fälle Noah Becker, Duisburg, Wien, Kandel… Wir müssen zu mehr Sachlichkeit zurück. Wir drohen, uns selbst zu verlieren. Die erste Eskalationsstufe ist längst erreicht.

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