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Biontech-Durchbruch bei Corona-Impfstoff: Das Problem mit den Helden


Uğur Şahin und Özlem Türeci
Das Problem mit den neuen Biontech-Helden

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 12.11.2020Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Uğur Şahin und Özlem Türeci: Die Biontech-Gründer bringen uns womöglich den lang ersehnten Corona-Impfstoff.Vergrößern des Bildes
Uğur Şahin und Özlem Türeci: Die Biontech-Gründer bringen uns womöglich den lang ersehnten Corona-Impfstoff. (Quelle: Collage: t-online/Sämmer/imago-images-bilder)

Die Geschichte der Biontech-Gründer Şahin und Türeci beschäftigt viele Journalisten – denn die Welt wartet sehnlichst auf einen Corona-Impfstoff. Doch der Medienzirkus birgt Gefahren.

Der Medienzirkus hat ge-, der Wettlauf ist eröffnet. Wer will noch mal, wer hat noch keine Story über Uğur Şahin und Özlem Türeci veröffentlicht? Die Jagd auf die Interviews kann beginnen. Jede Tageszeitung muss etwas über die beiden schreiben, kein Radiosender kommt ohne Bericht über sie aus, jeder TV-Sender träumt von einer Homestory mit ihnen und niemand lässt es sich nehmen, über Uğur Şahin und Özlem Türeci in den sozialen Medien zu posten – ja, ich gebe es zu, ich habe es auch gemacht.

Die Geschichte der Biontech-Gründer, die uns mit ihrem Impfstoff vielleicht das Ende der Corona-Pandemie bringen, nach dem wir alle lechzen, ist ja auch toll: vom Gastarbeiterkind zum Multimilliardär und einer der reichsten Deutschen, vom kleinen Mädchen mit Migrationshintergrund zur J. K. Rowling der Biotechnologie. Wen das nicht beeindruckt, der hält auch die Mondlandung für einen Verschwörungsmythos.

Erzählt ihre Geschichten, aber übertreibt es nicht!

Die beiden türkischstämmigen Forschenden haben das Potenzial, selbst die mediale Fixierung auf Christian Drosten in den Schatten zu stellen – erst recht, wenn sie einen Podcast machen oder sie sich bereit erklären würden, das mediale Spiel mitzuspielen. So ist unsere Welt. Wir beteiligen uns am Hype, immer auf der Suche nach neuen Helden, die wir verehren und anbeten können. Doch das ist nicht gesund, weder für die Anbeter noch für die Angebeteten.

Wir pusten mit unseren unzähligen Veröffentlichungen die Blase unserer Helden so weit auf, bis sie entweder platzt, oder bis wir aus lauter Überdruss das Interesse verlieren, so wie ein Kind an seinem prall gefüllten Geburtstagsballon: Am ersten Tag angehimmelt, soll er an darauffolgenden die schönen Erinnerungen bewahren, doch nach und nach entweicht das Helium und am Ende bleibt eine traurige, in sich zusammenfallende Hülle zurück, die fortan unbeachtet und verrottend wie ein Herbstblatt im Rinnstein irgendwann von den Wassern der Zeit hinweggespült wird.

Strafzettel für Falschparken?

Hypes sind schlecht. Hypes sind am Ende problematisch. Während die einen mit Uğur Şahin und Özlem Türeci beweisen wollen, wie falsch die Hater mit ihrer Volksverhetzung liegen, wonach Musliminnen und Muslime, Türken und Türkinnen, Araberinnen und Araber, Afrikanerinnen und Afrikaner nur wertlose Schmarotzerinnen und Schmarotzer seien, arbeiten die anderen schon am Sturz der Helden. Wie nach dem schrecklichen islamistischen Terroranschlag in Wien. Dort waren es zwei türkischstämmige Kampfsportler, die unter Einsatz ihres Lebens einem verletzten Polizisten halfen, eine ältere Dame schützten und Passanten warnten, während der Attentäter sein blutiges Schandwerk verrichtete.

Medial wurden sie in Österreich, in der Türkei, in Deutschland und anderen Ländern für ihren Mut gefeiert. Zu Recht. Zeitgleich jedoch suchten einige bereits das Internet und die sozialen Medien ab, um Dinge zu finden, die die beiden schlecht aussehen ließen. Wie viele rassistische Aktivistinnen und Aktivisten sind wohl gerade dabei zu prüfen, ob Uğur Şahin und Özlem Türeci in der Vergangenheit vielleicht mal mit den falschen Leuten in einem Raum gewesen sind, ob sie etwas Verdächtiges gesagt oder Strafzettel für Falschparken kassiert haben?

Es gibt keine makellosen Idole

Es gibt keine Superhelden. Es gibt keine makellosen Idole. Es gibt nur Menschen. Und Menschen haben oder machen Fehler. Niemand sollte daher überrascht sein, wenn sich Fehler bei jemandem zeigen. Bei jedem ließe sich etwas finden, selbst bei Angela Merkel. Und wenn nicht, werden Fehler und Vorwürfe konstruiert. Niemand würde es sich – schon gar nicht durch Beweise oder Logik – nehmen lassen, missliebige Figuren zu diskreditieren.

In Wien wurden die Aktivistinnen und Aktivisten fündig. Die beiden Helden hatten ihre Schattenseiten. Nur was tut das zur Sache, wenn sie im entscheidenden Moment anderen selbstlos helfen? Ist ihre Heldentat in dem Moment weniger wert? Ist Oskar Schindler zu verdammen, weil er 1939 in die NSDAP eingetreten war? Solange die Fehler die Leistungen der betreffenden Person nicht beeinträchtigen, sollten sie uns egal sein. Das Privatleben der meisten Menschen geht die Öffentlichkeit nichts an.

Bei Uğur Şahin und Özlem Türeci geht uns bloß ihre Arbeit etwas an. Alles, was jenseits davon thematisch aufgeblasen wird, wird die beiden über kurz oder lang genauso wie Christian Drosten und andere von ihrem Job abhalten. Statt sich voll aufs Labor zu konzentrieren, muss sich der Chefvirologe der Berliner Charité wegen des Hypes um seine Person heute damit befassen, dass sein Gesicht auf Fotos in Fadenkreuze gesetzt wird. Sind wir eigentlich noch zu retten?! Wir schneiden uns ins eigene Fleisch. Wenn wir wollen, dass die Pandemie besiegt wird, sollten wir diejenigen, die daran arbeiten, arbeiten lassen.

Jeder überflüssige Artikel heizt den Hype an

Jeder überflüssige Artikel, der geschrieben wird, heizt den Hype weiter an. Weil Magazin A einen Beitrag über eine wichtige Person macht, muss Magazin B nicht auch noch einen machen. Es gibt nicht nur keine Superhelden, denen sich alle widmen müssten, wir bräuchten sie auch gar nicht. Wenn überhaupt, hülfen sie uns nur anfangs weiter. Klar ist es fantastisch und unterhaltsam zu sehen, wie das ehemalige "Ausländerkind" Kamala Harris bald das zweitmächtigste Amt der Welt übernimmt und vielleicht irgendwann selbst Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika wird.


Aber sie wird die Welt dadurch ebenso wenig retten, wie Joe Biden es tun wird und wie es Barack Obama getan hat. Kamala Harris wird als leuchtendes Vorbild gefeiert. Bis zu einem gewissen Grad ist sie es und sie wird die USA vielleicht tatsächlich ein Stück gerechter machen. "Als Mädchen kannst du alles erreichen" – ihre Botschaft ist wichtig, und es ist gut und notwendig, wenn sie und wir ihren Erfolg herausstellen. Aber die Botschaft droht das Gegenteil zu bewirken, wenn man sie zu sehr ausschlachtet und auswalzt. Entweder nervt sie irgendwann nur noch, oder sie schüchtert andere Mädchen und Jungs ein.

Wie soll sich der kleine Imad in der heruntergekommenen Zweieinhalb-Zimmerwohnung seines arbeitsunwilligen Vaters und seiner illiteraten Mutter an Uğur Şahin und Özlem Türeci orientieren? Er würde von der Last solcher Beispiele erdrückt. Uğur Şahin und Özlem Türeci sind Ausnahmen. Sie waren kreativ, zielstrebig und fleißig wie Bill Gates, Mark Zuckerberg, Steve Jobs, Sergey Brin oder Jeff Bezos.

Vorbilder müssen erreichbar sein

Aber das allein ist nicht der Grund für den Megaerfolg all dieser Menschen. Entscheidend dafür war: Sie alle hatten die richtigen Ideen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und trafen dabei auf die richtigen Leute. Erst das katapultierte sie an die Spitze, und das ist nichts, was ein kleiner Junge einfach nachahmen könnte, wenn er nachmittags am Rande der Gesellschaft durch das Fenster seiner Wohnung ins triste Herbstgrau starrt, über sein Leben sinniert und in sich Aufbruchstimmung spürt. Ein Lottogewinner eignet sich auch nicht als Vorbild.

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Vorbilder sind wichtig, aber sie müssen erreichbar sein. Übernatürliche Vorbilder können junge Menschen schlicht entmutigen und frustrieren. Wenn Eltern erfolgreich sind, hilft das ihren Kindern. Wenn Eltern megaerfolgreich sind, wird es für ihre Kinder schwierig. Wenn wir positive Geschichten erzählen wollen, um sie den Narrativen der AfD entgegenzustellen und Kinder zu ermuntern, sollten das vor allem Geschichten von "Normalos" sein.

Positive Lebensleistungen von Menschen, die für andere erreichbar sind wie der einst gemobbte Junge, der Krankenpfleger wird, oder das einst übergewichtige Mädchen, das später als Polizistin Menschenleben rettet. Vorbilder müssen sich in Sichtweite bewegen.

Als "Normalos" lassen sich keine Preise gewinnen

Damit sind sie zwar für die meisten Medien uninteressant; mit der Beschreibung von "Normalos" lassen sich keine Preise gewinnen. Aber zum einen müssen Privatleute Hypes in den sozialen Medien nicht mitmachen; zum anderen können Medien, die die gesellschaftliche Realität wahrhaftig abbilden wollen, einen Beitrag über die erfolgreiche Stressbewältigung an einer Mathelehrerin namens Özge Türkmen aufziehen, oder den Bericht über die schweren wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie für deutsche Mittelständler am Beispiel Oğuz Şahan – ohne dabei zu erwähnen, welche Religion die beiden haben oder wo sie oder deren Eltern geboren wurden.

Wer Vorbilder präsentieren will, ist mit solchen Personen besser beraten als mit den Uğur Şahins, Özlem Türecis oder Kamala Harrises dieser Welt. Wer Boulevard-Stories erzählen will, muss sich freilich an sie halten. Dabei steht es kritischen Medienkonsumentinnen und -konsumenten allerdings frei, sich zu fragen, ob sie das trotz der negativen Konsequenzen verstärken wollen, indem sie alles klicken, kommentieren und teilen.

Sie werden immer Menschen mit positiven und negativen Seiten sein

Erzählt von Uğur Şahin und Özlem Türeci, aber überhöht sie nicht! So wenig wie als Vorbild eignen sie sich, um das eigene Ego als Muslimin oder Muslim, Türkin oder Türke oder sonstige aufzupolieren. Niemand weiß, ob sich die beiden als religiöse Menschen oder Türken vereinnahmen lassen, denn niemand weiß, ob sie sich selbst als Muslime, Christen, Türken, Deutsche, Europäer, Kosmopoliten etc. verstehen.

Die beiden sind offenkundig engagiert und leisten, wie Experten bestätigen, hervorragende Arbeit. Der Erfolg erscheint verdient, gehört gelobt und gibt ihnen recht. Trotzdem werden sie immer Menschen mit positiven und negativen Seiten sein – egal wie viel Geld und wie viele Preise sie bekommen werden, sollten sie uns tatsächlich vor Corona retten.

Lamya Kaddor ist Deutsche mit syrischen Wurzeln. In ihrer Kolumne "Zwischentöne" analysiert die Islamwissenschaftlerin, Islamische Religionspädagogin und Publizistin, die Mitglied der Grünen ist, für t-online die Themen Islam und Migration. Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorin wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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