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Corona-Impfung: Wie sich ein Bundesland an die Spitze spritzte


Fast Herdenimmunität?
Wie sich ein Bundesland an die Spitze spritzte

  • Annika Leister
Von Annika Leister

Aktualisiert am 11.08.2021Lesedauer: 5 Min.
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Impfung von Seefahrern in Bremerhaven: Das Deutsche Rote Kreuz impfte direkt in den Bremischen Häfen.Vergrößern des Bildes
Impfung von Seefahrern in Bremerhaven: Das Deutsche Rote Kreuz impfte direkt in den Bremischen Häfen. (Quelle: Sina Schuldt/dpa-bilder)

Bremens Erfolg beim Impfen erfüllt andere Länder mit Neid. Die Herdenimmunität ist sogar schon in Reichweite. Ein Wunder? Manches Erfolgsrezept ist gar nicht kompliziert.

Die Architekten des Bremer Impferfolgs kommen zu fünft zum Interview, ihre Stimmung ist gelöst. Kein Wunder. Ihr Bundesland schreibt gerade Zahlen, von denen andere sehnsüchtig träumen. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt ist der Rest der Republik neidisch auf Bremen.

Sonst wird der Stadtstaat oft als "failed state" belächelt. In Rankings zu Schulleistungen, Kriminalität oder Einkommen landet er zuverlässig auf den letzten Plätzen. Doch beim Impfen: Tabellenplatz 1, deutlich, derzeit nicht aufholbar. Man habe eben "der Bundesrepublik mal zeigen wollen, was Bremen leisten kann", scherzt Jutta Dernedde, ärztliche Leiterin der Impfkampagne, und lacht.

Auch alle anderen Länder wollen. Doch sie schaffen nicht, was Bremen schafft. Eine Impfquote von mehr als 70 oder 80 Prozent hat Kanzlerin Merkel am Dienstag nach der Bund-Länder-Schalte noch einmal gefordert. Vor allem in den älteren und besonders gefährdeten Gruppen solle die Quote wesentlich höher liegen, empfahl Merkel, die Physikerin und Zahlenexpertin.

Rund 20 Prozentpunkte vor Sachsen

Bremen erfüllt Merkels Ansprüche schon jetzt: 93 Prozent der Über-60-Jährigen sind dort einmal geimpft, 89 Prozent vollständig. Zieht man jene mit in Betracht, die nicht geimpft werden können sowie jene, die sich hartnäckig weigern, geht vermutlich gar nicht viel mehr. Insgesamt sind in Bremen 72 Prozent der Bevölkerung einmal geimpft, rund 65 Prozent zweimal. Es ist das einzige Land, bei dem die Sieben in vielen Spalten der Statistik des Robert Koch-Instituts vorne steht.

Zum Vergleich: Schlusslicht Sachsen hat rund 53 Prozent einmal geimpft, vollständigen Impfschutz genießen dort nicht einmal 50 Prozent. Und auch in Bayern, wo der strenge Markus Söder regiert, sind es im Schnitt nur 60 Prozent Erstgeimpfte.

Dabei hat Bremen eigentlich schlechte Voraussetzungen für großen Impferfolg: viele finanzschwache Stadtteile, viele Bewohner, die unter der Armutsgrenze leben, und eine der höchsten Quoten von Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Untersuchungen des Robert Koch-Instituts zufolge sind Menschen, die wenig Geld haben oder schlecht deutsch sprechen, mit am schwersten für die Impfung zu gewinnen. Impfschutz ist auch eine soziale Frage.

Wie also hat Bremen es geschafft, so viele so schnell zu überzeugen?

Darauf gibt es nicht nur eine Antwort. Dass die Impfexperten zu fünft zum Interview kommen, ist ein erster Hinweis. Hier ist der Impferfolg keine One-Man-Show. Zusammenarbeit und Vernetzung, auch mit Unternehmen und Hilfsorganisationen, wird großgeschrieben. Für das Interview versammeln sich neben der ärztlichen Leiterin die beiden neuen Projektleiterinnen der Impfkampagne, der Pressesprecher der Gesundheitssenatorin und die Leiterin für Kommunikation.

Ein Team kämpft gegen soziale Blindheit

Begeistert erzählen sie von Lutz Liffers, der die Kampagne bis Juni leitete. Ein Mann zwischen allen Stühlen: angestellt im Finanzressort, studierter Soziologe, Spezialist für Projekte im Kultur- und Bildungsbereich. "Liffers war ein Glücksgriff'", sagt Dernedde. Er pochte darauf, dass man die Impfkampagne keinesfalls "sozial blind" führen dürfe, erst recht nicht in einer Stadt wie Bremen. Wissen, wer die Bürger sind, die man impfen will, und wie man sie erreicht – nach diesem Leitfaden arbeiten die Bremer noch immer. Ihnen ist dabei nur zu gut bewusst: Nicht jeder hat studiert, nicht jeder liest den "Weser-Kurier", nicht jeder verfolgt die komplizierten Entwicklungen in der Pandemie.

Und Bremen wagte, was andere Kommunen scheuen. Früh in der Krise erhob die Hansestadt die Infektionszahlen auf Stadtteil-Ebene. Bis heute sind nur wenige Städte diesem Vorbild gefolgt. Vielerorts schreckt man davor zurück, auch aus Sorge, strukturell benachteiligte Viertel weiter zu stigmatisieren. Doch in Bremen wurde das so gewonnene Wissen zur Basis der Impfkampagne.

Von Terminvereinbarung bis zur Spritze in maximal zehn Tagen

In der ersten Welle hätten die Infektionen vor allem in den reicheren Stadtvierteln gelegen, sagt Pressesprecher Lukas Fuhrmann. "Das waren Skifahrer und Reiserückkehrer." Reisende Privilegierte, die das Virus in die Stadt trugen. In der zweiten und dritten Welle schon änderte sich das: Deutlich liegen die Infektionsherde seit Monaten in den Stadtteilen mit struktureller Benachteiligung. Es sind die Viertel mit höheren Armutsquoten, einem hohen Anteil prekärer Beschäftigung und geringem Wohnraum. "Es war uns total klar: die Impfangebote müssen genau dahin", sagt Fuhrmann.

Wurden in anderen Bundesländern Impftermine Wochen und Monate im Voraus vergeben, legte Bremen Wert auf Kurzfristigkeit. Priorisierungsgruppen wurden per Brief und Impf-Code im heimischen Briefkasten direkt informiert. Wer einen Termin vereinbarte, bekam nach spätestens sieben bis zehn Tagen seine Spritze. Der Vorteil: Es kann kein spontaner Urlaub mehr dazwischenfunken – und in Vergessenheit gerät der Termin so auch sehr viel seltener.

In die strukturell benachteiligten Stadtteile schwärmten nicht nur mobile Impfteams aus, wie in so vielen Städten. Bremen baute bereits ab Mai in jedem Stadtteil für eine Woche ein mobiles Impfzentrum auf, zur Erstimpfung, nach einigen Wochen noch einmal zur Zweitimpfung. Die Corona-Hotspots zuerst.

"Das öffnet Tore"

Die Impfteams arbeiteten mit Quartiersmanagern, Vertretern von Religionsgemeinschaften und Gesundheitsfachkräften vor Ort zusammen. "Den langen Atem haben", so nennt es Jutta Dernedde, die ärztliche Leiterin. Man müsse sich bemühen, präsent sein, den Impfstoff nahebringen, kulturelle und sprachliche Barrieren überwinden und informieren, informieren, informieren. "Die ersten 50 Prozent sind leicht zu holen", sagt Dernedde. Doch auf die Prozente, die danach folgten, komme es umso mehr an.

Die Geduld zahlt sich aus. Bei der Vergabe der Termine zur Zweitimpfung in den mobilen Impfzentren habe man auch noch einmal Erstimpfungen angeboten. Hunderte Ersttermine seien gerade in den strukturell benachteiligten Stadtteilen wahrgenommen worden. "Das zeigt: Es spricht sich rum, es stiftet Vertrauen, es lohnt sich, dranzubleiben", sagt Fuhrmann.

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Die Bremer Impfexperten können viele kleine Erfolgsgeschichten erzählen: von der afrikanischen Community in Gröpelingen, in der sich hartnäckig das Gerücht hielt, dass Impfen impotent mache. Durch das mobile Impfen und Vertrauenspersonen in den Quartieren gelangen erste Schritte hinein in die Community. Und auf die ersten Impfungen folgten viele weitere. Fuhrmann nennt es den "Gatekeeper-Gewinn": Ängste durch konkrete, lebensnahe Beispiele nehmen. "Die ersten fünf Prozent dieser Menschen impfen, das spricht sich rum, das öffnet Tore."

Impftruck vorm Stadion, im Hafen, im Logistikzentrum

Oder die Geschichte vom verzweifelten Chef eines Logistikunternehmens, der die Senatsverwaltung ansprach. Seine Angestellten seien jung, mit Migrationshintergrund, die Impfquote liege bei gerade mal 20 Prozent. Was tun? Die Projektleitung schickte den Impfstoff direkt zu den Unternehmen und den Impftruck ebenso in die Bremer Häfen wie vors Fußballstadion bei Werder-Spielen.

Dass die Politik gerade massiven Druck auf Impfzögerer aufbaut und die Gratis-Tests abschaffen will, davon hält man im Bremer Impfteam wenig. Zu hart klammere man sich an die Vorstellung der Herdenimmunität und fixe Impfquoten, kritisiert Dernedde – und an den Gedanken, dass mit genügend Impfungen alles wieder so wird wie vor Corona. Unnötig und überholt, findet sie, ein "eher theoretisches Modell für einen geschlossenen Kosmos". So wie früher wird es nie wieder – an diesen unangenehmen Gedanken, den Experten schon seit Monaten postulieren, hat Dernedde sich bereits gewöhnt.

In Bremen wollen sie ihren Kurs beibehalten: um jeden Impfling kämpfen, mit Information, ortsnahen Angeboten und Zuwendung. Vielleicht bald auch mit Impfungen im Einkaufszentrum oder auf Impfpartys mit Musik für die junge Zielgruppe. Es gelte jetzt eben, den Rest einzusammeln, sagt Fuhrmann. "Das sind kleine, aber unglaublich wichtige Schritte."

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit dem Bremer Impfteam
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