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Flüchtlingsdrama im Elendslager auf Lesbos – Europa verrät seine eigenen Werte


Was heute wichtig ist
Die Welt schaut auf die USA – in Europa spielt ein anderes Drama

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 21.01.2021Lesedauer: 5 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Das provisorische Flüchtlingscamp auf Lesbos.Vergrößern des Bildes
Das provisorische Flüchtlingscamp auf Lesbos. (Quelle: Danilo Campailla/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Eine große, eine berührende, eine starke Rede war das. Würdig eines Staatsmanns, der das mächtigste Land der Welt anführt. Gleich in seiner ersten Ansprache an das amerikanische Volk hat Joe Biden bei seiner Amtseinführung vor dem Kapitol gezeigt: Jetzt zieht nicht nur ein anderer Ton, sondern auch eine andere Politik in Washington ein. Donald Trumps egoistischem Nationalchauvinismus setzt er das Ideal der amerikanischen Wertenation entgegen, das Versprechen der Einheit, die Beschwörung der gemeinsamen Geschichte, die Erlösung durch Versöhnung: "Lasst uns einen Neuanfang wagen, lasst uns einander zuhören!" Schon seine Mutter habe ihm eingetrichtert, wie wichtig es sei, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, erzählte der 78-Jährige. Wie wohltuend, nach dem Schreihals Trump einem vernünftigen, empathischen US-Präsidenten zu lauschen.

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Seine Gegner verhöhnen Joe Biden als klapprigen Opi, doch schwach wirkt er zum Auftakt seiner Präsidentschaft nicht, im Gegenteil. Dieser Mann hat schon Politik gemacht, als die Mehrheit der heutigen US-Bürger noch gar nicht geboren war, trotzdem versprüht er mehr Elan und Entschlossenheit als viele Jungspunde. Und macht eine Kampfansage – aber nicht an politische Gegner, sondern an das Coronavirus, an das Geschwür des Rassismus, an das politische Chaos. All das will er überwinden: "Unsere Geschichte, der Glaube und die Vernunft zeigen uns den Weg." Jetzt wird mit Kopf und Herz regiert statt mit Faust und Tweets: Diese Botschaft sendet Herr Biden nicht nur an seine Landsleute, sondern in die ganze Welt, die Amerika zuletzt als Bananenrepublik erlebt hat. "Wir sind geprüft worden. Nun sind wir wieder ein starker, vertrauenswürdiger Partner für den Frieden", verspricht er. "Die Demokratie hat gesiegt."

Ja, das hat sie, aber erst in allerhöchster Not. Vier Jahre lang hat sich das selbsternannte Vorreiterland der Demokratie von einem Antidemokraten regieren lassen, diese Schäden werden die USA noch lange zeichnen. Seine größte Leistung hat Joe Biden deshalb womöglich schon hinter sich: Er hat Donald Trump in einem harten, von der Seuche durchgerüttelten Wahlkampf besiegt. Leichter wird es jetzt aber nicht. Nun beginnt der mühsame Regierungsalltag in einem gespaltenen Land mit zwei verfeindeten Parteien, mit einer am Boden liegenden Wirtschaft, mit einer außer Kontrolle geratenen Seuche, mit einem riesigen Vertrauensverlust in der ganzen Welt. "Trump ist weg. Doch das Amerika, das er geschaffen hat, hat er Biden vererbt", schreibt unser Korrespondent Fabian Reinbold. Der neue Präsident wird viel Kraft und Zeit brauchen, um die Schäden durch seinen Vorgänger zu heilen.


WAS STEHT AN?

Im Winter zu zelten ist kein Spaß. Man nestelt mit steifen Fingern am Zelteingang herum, die nasse Kälte kriecht in die Klamotten, der Schneeregen verwandelt den Platz in eine Schlammwüste. Besonders übel ist es, wenn man nachts mal raus muss. Die Dunkelheit, der Matsch, das fiese Wetter setzen selbst hartgesottenen Zeitgenossen zu. Falls Sie schon beim Lesen dieser Zeilen die Zentralheizung höher drehen wollen, sollten Sie wissen, dass es noch ärger kommt. Denn das ist erst der Anfang, wenn man im Empfangsbereich der EU, des wohlhabendsten Staatenbunds der Erde, als Flüchtling sein Quartier beziehen muss. Zur Kälte, dem Schlamm und dem Wasser, das in die Zelte hineinläuft, kommen Krankheiten wie die Krätze oder Lausbefall hinzu. Was eben passiert, wenn man unter erbärmlichen Bedingungen zusammengepfercht seinem Schicksal überlassen wird.

Die Zustände, unter denen die EU-Staaten die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln internieren, sind inzwischen keine Neuigkeit mehr, deshalb hören Sie nicht so oft davon. Der Nachrichtenwert ist gesunken, doch geändert hat sich nichts. Wir müssen uns bis auf die Knochen schämen für die Bilder, die uns aus dem Lager Kara Tepe auf Lesbos erreichen. Wie Europa sieht es dort nicht aus, eher wie ein Albtraum in einem vergessenen Krisengebiet, siehe hier und hier und hier. Unter den Bewohnern sind mehr als 2.500 Kinder. Mitarbeiter von Hilfsorganisation haben schon 50 Suizidversuche vermeldet – ja, unter den Kindern. Sie berichten von psychischen Störungen, die Menschen werden langsam verrückt. Frauen haben Angst, sich nachts durch die Dunkelheit auf den langen Weg zu den Toiletten zu machen. Sexuelle Übergriffe auf Kinder versetzen Eltern in Daueralarm. Corona hat alles nur noch schlimmer gemacht.

Auch bei der EU und den griechischen Behörden weiß man, dass es so nicht weitergehen kann. Die Europäische Kommission "werde Verantwortung übernehmen", hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union verkündet. Im September war das. Drei weitere Monate später preschte die Kavallerie zur Rettung der Bedrängten heran, in Form einer... Moment, ich sehe gerade nach... einer gemeinsamen Absichtserklärung im Dezember, Sekunde, hier steht noch was... Fertighäuser, Sportangebote, medizinische Versorgung... geplante Fertigstellung: Herbst 2021. Aha.

Wenn bei Ihnen das Licht im Treppenhaus kaputt ist und der Handwerker sagt, er komme in neun bis zehn Monaten mal rum, würden Sie auf die Barrikaden gehen. Auf Lesbos läuft der Schlamm in die unbeheizten Zelte und die Menschen vegetieren in der Hölle. Normalerweise haben wir Grund, auf unser europäisches Projekt stolz zu sein. Aber das hier? Mir fehlen die Worte.


Nun haben wir also vier weitere Wochen Lockdown vor uns, mindestens. Tausende Unternehmen ächzen, viele Arbeitnehmer bangen um ihre Jobs. Doch die Lage ist nicht überall rabenschwarz. "Die Verlängerung des Lockdowns selbst hat nur geringe Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt“, sagt Arbeitsagentur-Chef Detlef Scheele heute Morgen auf t-online. "Wir werden keinen zweiten April 2020 erleben." Warum trotz drohender Insolvenzen die Massenentlassungen vermutlich ausbleiben, hat er meinen Kollegen Florian Schmidt und Mauritius Kloft erklärt.


Angela Merkel stellt sich heute den Fragen der Hauptstadtpresse. Dabei wird sie erklären müssen, warum Deutschland fast ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie immer noch keine klare Strategie gegen das Virus gefunden hat. Am Abend schaltet sich die Bundeskanzlerin dann mit den Staats- und Regierungschefs der EU zur Videokonferenz zusammen, sie wollen die ruckelnde Impfkampagne besser organisieren.

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Ab heute werden sieben Abende lang die Namen von Verfolgten des Nazi-Regimes an die Fassade der Französischen Botschaft in Berlin projiziert. Die Initiatoren wollen den Opfern ein digitales Denkmal errichten, damit sich auch junge Menschen an die Schicksale der Menschen erinnern – und sehen, wohin Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus führen.


WAS LESEN?

Kaum ist Alexej Nawalny zurück in Russland, legt er sich wieder mit dem Präsidenten an: In einem vorab gedrehten und nun veröffentlichten Video erklärt er, wie Wladimir Putin mithilfe seiner Geheimdienstmafia Milliarden unterschlagen habe. Der Höhepunkt sind Bilder von "Putins Palast" aus Tausendundeiner Diktatorenfantasie. Der Film ist brisant, die Einordnung der "Süddeutschen Zeitung" ist kundig.


Nach der Wahl von Armin Laschet zum CDU-Vorsitzenden geben einige Mitglieder aus der rechten Werteunion alle Rücksicht auf: Sie träumen davon, den Vereinsvorsitzenden zu stürzen und eine neue Partei zu gründen. Unser Rechercheur Lars Wienand hat die Details.


Haben die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten überhaupt genügend Daten und Fakten für ihre Lockdown-Entscheidungen? Mein Kollege Martin Trotz kommentiert die jüngsten Beschlüsse kritisch.


WAS AMÜSIERT MICH?

Gar nicht so einfach, so ein Präsidentenamt.

Ich wünsche Ihnen einen sicheren Tag. Morgen schreibt meine Kollegin Camilla Kohrs den Tagesanbruch, am Samstag hören Sie dann wieder von Marc Krüger und mir den Wochenend-Podcast.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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