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Corona-Krise: Der Verlust der Kultur hinterlässt Narben – ein Lichtblick


Tagesanbruch
Da bricht etwas weg

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 24.02.2021Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die geschlossene Elbphilharmonie im Hamburger Hafen.Vergrößern des Bildes
Die geschlossene Elbphilharmonie im Hamburger Hafen. (Quelle: imago images)

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WAS WAR?

Erst wenn etwas nicht mehr da ist, merkt man, wie wichtig es einem ist. Bald vier Monate dauert der verschärfte Lockdown nun schon, und trotz der Debatte über Lockerungen und Öffnungen ist nicht absehbar, wann das gewohnte Leben endlich wieder beginnt. Bei vielen Menschen liegen die Nerven blank, viele plagen existenzielle Sorgen, viele verlieren das Verständnis für das Hin und Her der Politik. Die Politik redet über Schulen und Kitas, über notleidende Firmen und überlastete Krankenpfleger. Alles wichtig, aber ein anderes Opfer des Lockdowns findet zu wenig Beachtung: Der Verlust der Kultur hinterlässt tiefe Narben in unserer Gesellschaft.

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Was uns da gerade alles fehlt, begreift man erst, wenn man die Geistesgenüsse der Vergangenheit vor dem inneren Auge Revue passieren lässt. All die Abende in der wohligen Gemeinschaft eines erwartungsvollen Publikums. Etwa die Uraufführung von Jörg Widmanns Oratorium "Arche" in der ausverkauften Hamburger Elbphilharmonie: zwei komplette Orchester, dirigiert von Kent Nagano, die Sänger schritten über die Balustraden des Wundersaals, eine bombastische Musikoffenbarung, deren Rauschen noch zwei Tage später in den Ohren klang. Oder Elfriede Jelineks Theatercollage "Ulrike Maria Stuart", die dramatische Historie, entlarvende Gegenwart und absurde Fiktion zu einem Gesamtkunstwerk verband – die Wasserschlacht der Schauspieler mit dem Publikum zählte zum Abgefahrensten, was man in einem Theatersaal erleben kann. Oder Iggy Pops Deutschland-Tournee: Mit nacktem Oberkörper tobte der Altrocker durch die Menge, peitschte uns seine langen Haare ins Gesicht, während wir zu "Fall in Love With Me" die Hüften schwangen. Oder in einem proppenvollen Kabarettsaal Bier schlürften, während uns der begnadete Helge Schneider seine Geschichte von der Rose erzählte, der Rose, der Rose, der ROSE!!! Vor Vergnügen gequiekt haben wir, zwei kurze Stunden lang. Hinterher zum Absacker in eine Bar, schnelle Beats aus den Boxen, zur Theke drängeln, plötzlich Leute entdecken, die man seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, ach nee, du hier!, und noch ein Bier. Irgendwann später irgendwie nach Hause, Taxi oder Bahn oder was weiß ich, und noch später erwachten wir: erfüllt, beglückt, begeistert vom prallen Leben.

All das und noch so viel mehr fehlt uns nun seit Monaten, eigentlich seit einem Jahr, denn zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown ging ja auch nicht viel. Ausstellungen und Konzerte, Theater und Kinofilme, Lesungen und Vorträge: All das ist kein Luxus, es ist geistige Nahrung. Kultur ist Brot für den Kopf. Wer keine Kultur erlebt, der verkümmert und wird ärmer im Herzen. "Kunst ist mehr als Unterhaltung. Kultur ist weit mehr als eine Freizeitbeschäftigung", schreibt der Historiker René Schlott in einem aufrüttelnden Appell. "Denn Kunst und Kultur bringen Bewegung in die Gesellschaft, sie irritieren und provozieren, sind subversiv, aber auch konstitutiv. Kultur ist gelebte und erlebte Freiheit." So ist es. Kein Netflix, kein Youtube und keine DVD können das Erlebnis live erlebter Kultur ersetzen. Das Hochgefühl, die Ergriffenheit, die Rührung in einem Konzert-, Theater-, Opern- oder Kinosaal pumpen uns Lebenskraft in die Adern, inspirieren uns zu neuen Ideen, lassen uns ahnen, was wir noch nicht wussten – und am schönsten ist es ja mit lieben Freunden.

Sie haben Geduld bewiesen, die Kulturschaffenden, viel Geduld. Viele hat die Auftrittssperre in bittere Not gestürzt, nur wenige können sich auf staatliche Zuwendungen verlassen. Allein der Musikmarkt ist um mehr als 50 Prozent eingebrochen. Eine Krise kann ja etwas Schöpferisches haben, doch dauert sie zu lange, ist der Schaden irreversibel. Dann bricht etwas weg: in der Gesellschaft, aber auch in jedem Einzelnen von uns. Deshalb sollten wir das Konzept ernst nehmen, das 20 Wissenschaftler und Kulturschaffende sowie 40 Organisationen Anfang der Woche vorgestellt haben, um Kultur- und Sportveranstaltungen nach dem harten Lockdown schrittweise wieder zu ermöglichen. Sie haben sich Gedanken gemacht, wie sich Zuschauer und Zuhörer schützen lassen: Neben Masken und Abstand könnten eine gute Belüftung, Schnelltests und ein gestaffelter Einlass helfen, die Säle wenigstens zu einem Drittel zu besetzen.

Iggy Pop mit Abstand? Zweieinhalb Stunden mit Maske im Theater? Das Gelbe vom Ei ist das nicht, klar, aber besser als nichts. Noch ist es zu früh, erst muss die Inzidenzzahl weiter runter. Aber wenn wir es in einigen Wochen geschafft haben, die Infektionsfälle deutlich zu reduzieren, kann ein smartes Konzept dabei helfen, dass wir endlich die Flimmerkiste ausknipsen und uns wieder ins echte Kulturleben stürzen können, selbst wenn noch nicht jeder seine Spritze bekommen hat. Ich zähle die Minuten bis dahin.


WAS STEHT AN?

Mehr als drei Jahre dauert der Prozess gegen Ahmad A. nun schon: den Mann, der sich Abu Walaa nennt. Die Staatsanwaltschaft hat ihn und drei weitere Männer wegen der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung angeklagt. In den Jahren 2014 und 2015 sollen sie vor allem im Ruhrgebiet und in Niedersachsen Freiwillige für den "Islamischen Staat" rekrutiert haben. Abu Walaa, einst Imam einer Moschee in Hildesheim, soll Chefanwerber des IS in Deutschland gewesen sein, junge Menschen indoktriniert und ihre Ausreise nach Syrien organisiert haben. Kein kleiner Fisch also, sondern ein Stratege der Terrorbande, die jahrelang in Syrien und im Irak mordete, vergewaltigte, raubte und brandschatzte, die Attentate mit vielen Toten in europäischen Städten verübte.

Es ist der bislang größte Terrorprozess, den der deutsche Staat gegen Islamisten geführt hat – und heute fällt das Oberlandesgericht Celle sein Urteil. Elf Jahre und sechs Monate Gefängnis fordern die Bundesanwälte für Abu Walaa, Freiheitsstrafen zwischen viereinhalb und zehn Jahren für die übrigen Beschuldigten. Als Meilenstein gilt das Staatsschutzverfahren unter Sicherheitsexperten ohnehin, weil es erstmals detailliert dokumentiert hat, mit welchen Strukturen und Methoden die Terrormiliz junge Leute ins Kriegsgebiet lockte: Professionelle Propagandafilmchen im Internet sprachen vor allem orientierungslose junge Männer an, gaukelten ihnen eine neue Gemeinschaft vor, in der sie Waffen tragen, Macht und Ansehen erlangen und gleich mehrere Frauen heiraten durften. Auch Vergeltung für die Tatenlosigkeit des Westens im Syrienkrieg war ein Motiv. Religion spielte eher am Rande eine Rolle.

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Das ganze perfide System kennen die deutschen Sicherheitsbehörden dank dieses Gerichtsprozesses nun besser – und können versuchen, den Verbrechern mit der schwarzen Fahne endgültig das Handwerk zu legen. Dafür haben sich die Prozesskosten von mehreren Millionen Euro gelohnt. Oder, wie es ein Gerichtssprecher ausdrückt: "Was ist der Rechtsstaat wert? In meinen Augen: unbezahlbar."


Ein weiterer denkwürdiger Prozess wird heute in Leipzig fortgesetzt: Dort ist ein Bundeswehrsoldat des Kommandos Spezialkräfte angeklagt, in dessen Garten illegale Waffen, Sprengstoff und rechtsextreme Schriften gefunden wurden. Dem 45-jährigen Oberstabsfeldwebel werden Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, das Waffengesetz und das Sprengstoffgesetz vorgeworfen. Ebenso hat das Verfahren ans Licht gebracht, dass KSK-Soldaten von ihren Anführern die Erlaubnis bekamen, gehortete Munition straffrei zurückzugeben – wobei Zehntausende Schuss Munition zusammenkamen. Noch ist unklar, wie lange das Amnestie-Angebot galt und wer davon wusste. Doch schon jetzt wackelt der Stuhl des KSK-Kommandeurs Markus Kreitmayr. Dabei sollte er die Machenschaften in dem Laden eigentlich aufklären. Welch ein Saftladen.


Auch diese brutale Tat hat Deutschland erschüttert, aber das Motiv kennt nur der Täter: Heute vor einem Jahr fuhr ein junger Deutscher mit seinem Auto bewusst und ungebremst in den Rosenmontagsumzug im nordhessischen Volkmarsen. 90 Menschen, darunter viele Kinder, erlitten teils schwere Verletzungen. Viele weitere wurden traumatisiert, insgesamt gibt es mehr als 150 Betroffene. Die Kleinstadt erinnert mit einem ökumenischen Gottesdienst an die Gewalttat, auch Ministerpräsident Volker Bouffier kommt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat den mutmaßlichen Täter wegen versuchten Mordes in 91 Fällen und gefährlicher Körperverletzung in 90 Fällen angeklagt. Doch der schweigt eisern.


Noch vor wenigen Tagen diskutierte Deutschland darüber, dass zu wenig Impfstoff verfügbar ist. Jetzt ist der Impfstoff da, Astrazeneca hat viele zusätzliche Dosen angekündigt – aber nun gibt es das nächste Problem: Die Mittel werden nicht ausreichend schnell verabreicht, zudem verstreichen Impftermine ungenutzt. Und das Virus? Verbreitet sich währenddessen rasant weiter. Wie kann Deutschland endlich mehr Tempo beim Impfen machen? Unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert sind der Frage nachgegangen.



Diktatur, Weltkrieg, Holocaust: Die Nazis waren für die schlimmsten Verbrechen verantwortlich. Aber was für Leute waren die Nationalsozialisten eigentlich, und wie gelang es ihnen, die Weimarer Republik zu zerstören und den "Führerstaat" zu errichten? Was dachten die Männer, die die Ermordung der europäischen Juden organisierten oder sogar selbst mordeten? Ulrich Herbert kann Antworten auf diese Fragen geben. Der Historiker erforscht den Nationalsozialismus seit vielen Jahrzehnten und hat in dieser Woche ein neues Buch zum Thema veröffentlicht. Also haben mein Kollege Marc von Lüpke und ich ein Gespräch mit ihm geführt. Wenn Sie heute nur Zeit für einen einzigen Text haben, lesen Sie bitte diesen.


Die Republik diskutiert über Lockerungen des Lockdowns – doch die 7-Tage-Inzidenz verdeutlicht einen beunruhigenden Trend: Vielerorts steigt die Zahl der Neuinfektionen. Meine Kollegen Adrian Röger und Sandra Sperling zeigen Ihnen, wie sich die Corona-Lage in einzelnen Regionen verändert.


Planlose Öffnungen, ruckelnde Impfstoffverteilung, fehlende Schnelltests: Der Staat gibt derzeit nicht die beste Figur ab. Trotzdem wünschen sich viele Bürger eine aktivere Rolle des Staates. Das ist nicht sinnvoll, meint unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld. Sie fordert, die Aufgaben zwischen Staat und Wirtschaft nach der Pandemie neu zu verteilen – und sich dabei an drei einfache Kriterien zu halten.


WAS AMÜSIERT MICH?

Jeder hat ja so seine Rachegedanken.

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag. Morgen schreibt mein Kollege Johannes Bebermeier den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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