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Nationalsozialismus – Historiker: "Waren überzeugt von dem, was sie taten"


Werdegang der Nazis
Hochgebildet, promoviert, Mörder

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

24.02.2021Lesedauer: 11 Min.
Interview
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Reichsparteitag der NSDAP: Historiker Ulrich Herbert erklärt, wie die Nationalsozialisten ihre Diktatur in Deutschland errichtet haben.Vergrößern des Bildes
Reichsparteitag der NSDAP: Historiker Ulrich Herbert erklärt, wie die Nationalsozialisten ihre Diktatur in Deutschland errichtet haben. (Quelle: ullstein-bild)

Diktatur, Weltkrieg, Holocaust: Die Nationalsozialisten waren für die schlimmsten Verbrechen verantwortlich. Aber was für Leute waren die Nazis eigentlich? Der Historiker Ulrich Herbert kann es erklären.

Adolf Hitler beging Selbstmord, Europa lag in Trümmern, Millionen Menschen waren tot: So endete 1945 das "Tausendjährige Reich" der Nazis. Aber wer genau waren die Nationalsozialisten überhaupt, und wie war es ihnen gelungen, die Weimarer Republik zu zerstören und den "Führerstaat" zu errichten? Wer waren die Männer, die die Ermordung der europäischen Juden exekutierten?

Ulrich Herbert kann Antworten auf diese Fragen geben. Der Historiker erforscht den Nationalsozialismus seit vielen Jahrzehnten und hat in dieser Woche ein neues Buch zum Thema veröffentlicht. t-online hat mit ihm über Extremismus und Terror, Anpassung und Resignation gesprochen – und über die Frage, was das wahre Wunder der Bundesrepublik ist:

t-online: Herr Herbert, 76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fällt es vielen Menschen schwer, die damalige Begeisterung der Deutschen für den Nationalsozialismus nachzuvollziehen. Wie können wir uns den typischen Nazi vorstellen?

Ulrich Herbert: Wir stellen uns darunter meistens einen marschierenden SA-Mann vor oder einen KZ-Wächter. Das suggeriert ein relativ geschlossenes Bild des Nationalsozialismus und seiner Anhänger. Die Wirklichkeit war aber komplizierter.

Inwiefern?

1933 kamen nicht allein die Nationalsozialisten an die Macht, sondern die gesamte nationale Rechte. Die war lange Zeit in viele kleine Gruppen zersplittert gewesen und wurde erst seit 1930 sukzessive von der NSDAP aufgesogen. Dazu gehörten verschiedene deutschnationale und völkische Parteien und Gruppen, etwa der Soldatenverband Stahlhelm oder nationale Jugendverbände. Sie alle einte aber eines: Sie waren radikale Nationalisten und bekämpften die Weimarer Demokratie von rechts. Der SA-Mann ist also nur eine typische Figur unter vielen.

Wie gelang es ausgerechnet den Nationalsozialisten, nicht nur das rechte Lager zu dominieren, sondern auch Deutschland in eine Diktatur zu verwandeln? Bei den Reichstagswahlen 1928 hatte die NSDAP gerade mal 2,6 Prozent der Stimmen erhalten.

Programmatisch unterschieden sich die Nazis von den anderen rechten Gruppierungen kaum: gegen die Weimarer Demokratie, gegen Versailles, gegen die Juden, für Aufrüstung und Führerstaat. Die Nazis waren in ihren Methoden aber moderner, auf Massenbewegung, Propaganda und Öffentlichkeit orientiert, und sie hatten mit Hitler eine junge, charismatische Figur an der Spitze, die sich von den traditionellen Honoratiorenpolitikern der anderen rechten Verbände unterschied. Ab 1930 flossen fast alle Stimmen, die vorher verschiedenen Rechtsparteien gegolten hatten, den Nazis zu, die nun auch in der Mitte und bei Nichtwählern Erfolge erzielten.

Ulrich Herbert, geboren 1951, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Der Historiker ist Experte für deutsche Zeitgeschichte, insbesondere für den Nationalsozialismus. Seine Studien, etwa zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert oder zum NS-Juristen Werner Best, sind Standardwerke. Soeben ist sein neuestes Buch "Wer waren die Nationalsozialisten?" erschienen.

War der Terror der Nazis nach ihrer Machtübernahme das entscheidende Mittel zur Machtsicherung?

Selbst bei den Reichstagswahlen vom März 1933 erreichten die Nationalsozialisten mitsamt den Deutschnationalen keine Mehrheit – die deutsche Gesellschaft war extrem gespalten. Mithilfe des Terrors gelang es den Nazis dann aber relativ schnell, ihre Gegner auszuschalten und zum Schweigen zu bringen. Aber die Hälfte der Deutschen war 1933 gegen die Nazis, das darf man nicht vergessen. Mit dem Ende der Weltwirtschaftskrise und fallenden Arbeitslosenzahlen nahm dann die Zahl derer zu, die das NS-Regime unterstützten oder jedenfalls akzeptierten.

Also gab es eine Art schleichende Akzeptanz der neuen Führung?

Ja, wobei die wirtschaftliche Entwicklung der eine Faktor war. Der andere war die Außenpolitik. Denn die tiefe Enttäuschung über den verlorenen Ersten Weltkrieg und den Versailler Vertrag hatte nahezu alle Deutschen geprägt, auch bei den Demokraten und der Linken. Dass Hitler diese Demütigung nun außenpolitisch zu kompensieren schien, brachte ihm viele Sympathien ein. Aber dennoch: Ein erheblicher Teil der Deutschen stand weiterhin gegen die Nazis, aber sie konnten das nicht mehr zum Ausdruck bringen.

Aber noch mal: Gab es den typischen Nazi und wie können wir ihn uns vorstellen?

Es gab vielleicht den typischen Nazi der Vorkriegszeit. Das war jemand, der nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg mit der Rechten sympathisierte, womöglich Verschwörungstheorien anhing und einer rechten oder rechtsradikalen Gruppierung angehörte. Er war für den Führerstaat, für eine Revanche für die Niederlage im Ersten Weltkrieg, gegen die Juden und gegen die Kommunisten. Ab 1933 war er dann eifriger, vielleicht sogar fanatischer Unterstützer des neuen Regimes. Für die Entwicklung des Regimes nach 1938 war dieser Typus aber eher nachrangig.

Wieso das?

Das Vorkriegsdeutschland unter nationalsozialistischer Führung war in vieler Hinsicht noch eine Art europäischer Normaldiktatur, das hier anzutreffende Maß an Gewalttätigkeit lag noch etwa in den Größenordnungen anderer brutaler Gewaltregime dieser Jahre, etwa Italiens unter Mussolini, Griechenlands unter Metaxas oder Spaniens unter Franco. Für die Zeit nach 1938/39 trifft das nicht mehr zu. Das Ausmaß der nationalsozialistischen Gewalt, der Holocaust und nicht zuletzt der von Deutschland entfesselte Krieg übertrafen alles, was es bis dahin – und seither – an staatlicher Massengewalt gegeben hat. Für diese Zeit ist der viel beschworene SA-Mann keine typische Figur, sondern andere Leute.

Wen meinen Sie?

Vor allem diejenigen, die in die Führungen des Polizeiapparats und der Besatzungsadministrationen einrückten, meist jüngere Männer mit akademischer Ausbildung und einer ausgeprägten radikalen Weltanschauung. Etwa die Führer der Einsatzgruppen, die in der besetzten Sowjetunion mit ihren Einheiten Hunderttausende Juden umbrachten: Das waren vor allem junge, promovierte Juristen, um die 35 Jahre alt. Das waren keine altgedienten Parteimitglieder oder SA-Schläger, sondern Angehörige der Eliten.

So wie Ludwig Losacker? In Ihrem Buch beschreiben Sie ihn als fähigen Juristen, der sich im deutsch besetzten Lemberg für die bessere Behandlung der Polen einsetzte – zugleich aber die Deportation der Juden organisierte.

Leute wie Losacker verkörpern einen bemerkenswerten Widerspruch, der es uns schwer macht, den Nationalsozialismus zu verstehen. Losacker war schon vor 1933 in der nationalen Bewegung aktiv, machte dann Karriere im Polizeiapparat und der SS und ab 1939 in der deutschen Besatzungsadministration in Polen. Er war aber auch ein gläubiger Katholik und Kritiker der nationalsozialistischen Kirchenpolitik. Einmal fuhr er sogar persönlich zu Hitler nach Berlin und versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass die repressive Kirchenpolitik falsch sei, und es gibt Hinweise, dass er sich in Polen auch für die von der SS drangsalierte polnische Bevölkerung eingesetzt hat. Zugleich war er einer der Verantwortlichen für die Deportation und Ermordung der Juden seines Distrikts, der sich auch durch Vorschläge hervortat, wie man die Tötung der Juden effektivier machen konnte.

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Warum tat er das?

Entscheidend war: Er hielt es für richtig, alle Juden Europas umzubringen. Er sah die Juden als die gefährlichsten Feinde Deutschlands, die im Weg standen, wenn man Europa unter deutscher Herrschaft neu gestalten wollte. Er war ein weltanschaulich motivierter Überzeugungstäter, und diesen Typus finden wir in den Führungsgruppen von SS und Besatzungsverwaltung sehr häufig, auch in vielen Ministerien.

Otto Ohlendorf ist ein weiteres Beispiel für einen gebildeten Massenmörder.

Ja, auch sein Werdegang ist exemplarisch. Als SS-Mitglied machte er im NS-Wirtschaftsministerium Karriere, als Chef der Einsatzgruppe D war er für die Ermordung der Juden in der Südukraine und im Kaukasus verantwortlich, nach eigenen Angaben etwa 90.000 Menschen. In seinem Prozess in der Nachkriegszeit konnten die alliierten Richter es gar nicht fassen, dass ein junger, gebildeter Mann wie er solche Verbrechen begangen hatte, und vermuteten eine Art von Persönlichkeitsspaltung. Was sie nicht verstanden: Ohlendorf hielt es für absolut richtig, was er getan hatte! Nach dem Krieg verbreitete sich rasch der Mythos, die Nazi-Killer seien allesamt enthemmte Asoziale gewesen. Dass der seriöse Rechtsanwalt, der Justiziar eines großen Unternehmens, der Chef der örtlichen Kripo in der NS-Zeit skrupellose Massenmörder gewesen waren, konnten viele nicht glauben – und die es wussten, blieben still, aus gutem Grund.

Welche Rolle spielte Karrierestreben in der Motivation der NS-Massenmörder?

Das war nicht das ausschlaggebende Element. Ohlendorf hätte auch ohne den Massenmord im Osten eine glänzende Karriere im Wirtschaftsministerium gemacht. Nein, diese Leute waren überzeugt von dem, was sie taten.

Warum waren die Juden das wichtigste Feindbild der Nazis?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ein besonders wichtiger ist, dass die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1914, also in der Hochindustrialisierung, ein enormes, bis dahin nie gekanntes Maß an wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Veränderungen mit sich gebracht hatte – ein Prozess der rapiden Modernisierung, der fast alle Gewissheiten und Traditionen zerstörte und viele Menschen verunsicherte, ja bedrohte. Dass nun eine kleine, vielfach verachtete Bevölkerungsgruppe mit diesen Veränderungen besonders gut zurechtzukommen schien, war für die meisten nicht zu verstehen.

Die Juden.

Richtig. Die Juden, die von der Mehrheitsgesellschaft oft als rückständig und fremd betrachtet worden waren, waren plötzlich sehr erfolgreich, besonders in den als "modern" geltenden Berufen: als Ärzte, Journalisten, Wissenschaftler, Juristen. Sie waren zudem sehr bildungsbeflissen, ihre Kinder gingen zu einem viel höheren Anteil auf die Höhere Schule als die nichtjüdischen Deutschen.

Das heißt, der Erfolg der jüdischen Mitbürger war vielen verunsicherten Deutschen ein Dorn im Auge?

Erfolg macht angreifbar und befördert Neid, der sich in Verschwörungsmythen entladen kann. Als Deutschland den Ersten Weltkrieg verlor, erhielten diese Mythen zusätzliche Nahrung. Es gab nun ein großes Bedürfnis, einen Schuldigen für Deutschlands Niederlage und Demütigung auszumachen. Hier boten sich die Juden an. Waren nicht auch Juden unter den amerikanischen Bankiers? Und unter den Kommunisten in der Sowjetunion? Einmal in die Welt gesetzt, gewinnen solche Verschwörungsmythen schnell an Dynamik, erst recht, wenn sie durch staatliche Propaganda forciert werden.

Gilt das heute noch genauso?

Betrachtet man die neuen Verschwörungslegenden, wie sie sich heute im Westen, besonders in den USA, aber auch in Ungarn, selbst in Deutschland und Frankreich, ausbreiten, laufen sie nach kurzer Zeit immer wieder in dieses alte Muster. Was man nicht versteht, muss das Werk anonymer Kräfte sein, die im Geheimen wirken. Und schon sind sie wieder beim Antisemitismus.

Aus heutiger Sicht empfinden wir Nachgeborenen Hitlers Propagandareden als verstörend, damals jubelten ihm aber Millionen Deutsche zu. Mal abgesehen von den historischen Begleitumständen: Besaß dieser Mensch ein besonderes Charisma?

Mit dem Charisma ist es eine verzwickte Angelegenheit. Charisma bezeichnet eine Beziehung zwischen dem Einzelnen und den Massen. Im persönlichen Umgang muss der Betreffende nicht besonders einnehmend sein oder mitreißend. Erst im Kontakt mit den Massen entfaltet sich das Charisma. Hitler gab den Ängsten und Verbitterungen, aber auch den Wünschen und Hoffnungen eines großen Teils der Deutschen Ausdruck. Das versteht man noch besser, wenn man nicht auf die Zwanziger Jahre blickt, in denen Hitler für viele ja wie ein Clown wirkte, sondern auf die Kriegsjahre. Die geradezu messianische Wirkung, die Hitler mit seinen Radioansprachen entfalten konnte, als die Menschen selbst angesichts der aussichtslosen Kriegslage durch die Reden des "Führers" Zuversicht und Vertrauen fassten – das wird in den Tagebüchern auch solcher Menschen beschrieben, die Hitler ablehnten und ihn hassten.

Tatsächlich konnte Hitler zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mit Erfolgen aufwarten.

Die militärischen Erfolge – von Österreich und der Tschechoslowakei über Polen und Skandinavien bis zu Holland und Belgien – sicherten diesen Nimbus Hitlers als Siegertyp. Der Höhepunkt war dann ohne Zweifel der Sieg über Frankreich im Sommer 1940, wahrscheinlich war die Zustimmung zum Naziregime in Deutschland nie größer als in dieser Zeit. "Man kann ja gegen den Hitler sagen, was man will, aber das ist schon ein Kerl": Aussagen wie diese finden sich in dieser Phase des Krieges sogar in den Berichten über die Stimmung in der oppositionellen Arbeiterschaft.

Allerdings endete die Siegesserie der Wehrmacht dann bald, im Winter 1942/43 kapitulierte die 6. Armee der Wehrmacht in Stalingrad.

Die Stimmung in der deutschen Bevölkerung sank entsprechend. Überhaupt war die Zustimmung zum NS-Regime volatil. Im April 1942 wurde in Deutschland eine leichte Kürzung der Lebensmittelrationen bekannt gegeben. Nicht dramatisch, nur ein paar Prozent. Kurz darauf meldete allerdings der Inlandsgeheimdienst, dass er niemals zuvor einen derartigen Abfall der Zustimmungswerte zum Regime verzeichnet hatte. Schon eine geringfügige Kürzung der Lebensmittelrationen konnte also zu einem drastischen Rückgang der Zustimmung führen.

Das NS-Regime blieb gleichwohl bis zum Kriegsende am 8. Mai 1945 erstaunlich stabil. Trotz des alliierten Luftkriegs, der zahlreiche deutsche Städte zerstörte, und der heranrückenden gegnerischen Armeen.

Hans Mommsen hat einmal geschrieben, dass in der letzten Kriegsphase Fabrik und Wohnung der letzte Abglanz von Normalität für die Menschen waren. Und die Verwaltung funktionierte ja weiter, organisierte die Trümmerbeseitigung, stellte Notunterkünfte zur Verfügung, sorgte für die Versorgung. Was wäre die Alternative zum Weitermachen gewesen – eine Erhebung? Daran dachte nahezu niemand. Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 war in der Bevölkerung ausgesprochen unpopulär. Die Menschen waren vor allem aufs eigene Fortkommen und Überleben orientiert, ob in den zerstörten Städten oder auf der Flucht wie die mehr als zehn Millionen, die aus den Ostgebieten nach Westen flohen. "Bleib übrig!", hieß der Satz, mit dem man sich in dieser Zeit scherzhaft begrüßte.

Nicht nur das Regime an sich blieb erstaunlich lange funktionsfähig, auch sein Mordapparat. Noch in den letzten Kriegstagen wurden Juden und Deserteure umgebracht. Wie erklärt sich diese Brutalität, obwohl der Krieg definitiv verloren war?

Die Nationalsozialisten wussten, oder gingen davon aus, dass eine Niederlage auch ihr eigenes persönliches Ende bedeuten würde. So versuchten sie bis zuletzt alles, um das abzuwenden und noch möglichst viele mit in den Abgrund zu ziehen. Das richtete sich schließlich auch wieder gegen die eigene Bevölkerung. In den letzten Kriegswochen zogen Kommandos von SS, Wehrmacht, manchmal auch der Partei durch die Straßen, um alle, die sie für Deserteure oder Defätisten hielten, umzubringen. Jeder, der ein weißes Tuch zum Zeichen der Kapitulation aushängte, wurde erschossen: ein Fanatismus des Untergangs. Und Ausdruck einer ungeheuren Verrohung.

Aber nicht nur Deutsche wurden Opfer dieser letzten Mordtaten, sondern auch KZ-Gefangene und Zwangsarbeiter.

Von den im Januar 1945 etwa 750.000 KZ-Häftlingen starben bis Kriegsende etwa 300.000 bei der Räumung der Lager und den sogenannten Todesmärschen nach Westen. Zehntausende von ausländischen Zwangsarbeitern wurden in den letzten Kriegstagen umgebracht. Ich habe einmal die Blutspur verfolgt, die sich in den letzten Kriegstagen quer durch das Ruhrgebiet von Westen nach Osten zog: Überall lebten hier in den Ruinen der Städte Zwangsarbeiter, meist aus der Sowjetunion, die auf die Ankunft der Alliierten warteten. Diese Menschen wurden von den örtlichen Gestapo-Beamten in letzter Stunde oder Minute erschossen. Meist war es das letzte, das die örtlichen Gestapo-Beamten taten. Danach warfen sie ihre Uniformen weg und verwandelten sich in Zivilisten. Die meisten von ihnen glaubten nicht, dass sie das Kriegsende überleben würden. Aber als sie dann feststellten, dass ihnen gar nichts geschah, trumpften sie wieder auf und traten nach kurzer Unterbrechung wieder in den Polizeidienst ein.

Immerhin haben die Alliierten nicht jeden davonkommen lassen.

Im ersten Jahr war die Abrechnung mit den Nationalsozialisten und den Schuldigen im Westen wie im Osten recht klar, präzise und hart. Mehr als eine Million Deutsche kamen in Internierungslager. Einige Tausend wurden verurteilt.

Bereits im Laufe der Nürnberger Nachfolgeprozesse bis 1949, in denen etwa Ärzte, Juristen oder Mitglieder von Einsatzgruppen angeklagt wurden, änderte sich die Haltung der Deutschen allerdings – wie auch die der westlichen Alliierten.

Nach dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher bis 1946 meinten viele Deutsche: Jetzt sind die Nazi-Verbrechen genug gesühnt. Bei den West-Alliierten vollzog sich ebenfalls ein Perspektivwechsel, der mit dem heraufziehenden Kalten Krieg zu tun hatte: Der neue Hauptfeind war die Sowjetunion, da wurde die eigentlich geplante Abrechnung mit dem Nationalsozialismus und den Deutschen sekundär, und es wurde wichtiger, die Deutschen politisch auf die Seite des Westens zu ziehen. Daraufhin wurde die Entnazifizierung den deutschen Behörden übergeben und damit praktisch eingestellt. Insofern haben die Westdeutschen einfach Glück gehabt.

Hätte Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler mit seiner Regierung stärker darauf achten sollen, welche früheren Nationalsozialisten in der Bundesrepublik wieder zu Amt und Würden kamen?

Vermutlich ja, jedenfalls wenn man bedenkt, dass sogar zahlreiche Spitzenleute der SS und Massenmörder der Einsatzgruppen in der Bundesrepublik Karriere machen konnten – etwa beim Bundesnachrichtendienst, wie wir jetzt wissen. Adenauer war ja in der Tat ein überzeugter Gegner der Nationalsozialisten. Aber 1949 stand er vor einem gewaltigen Problem: Wie sollte aus einer Gesellschaft, deren Eliten fast vollständig und deren Bevölkerung zu einem erheblichen Teil die Nazis unterstützt hatten, ein liberales, demokratisches Gemeinwesen werden? Viele der Spitzennazis waren bei Kriegende ja noch jung, Anfang vierzig etwa. Sie gingen erst Anfang der 1970er-Jahre in Rente. Dass die Bundesrepublik, bei allen Mängeln und Widersprüchen, über die Jahrzehnte dennoch zu einem liberalen Rechtsstaat geworden ist, war ja alles andere als selbstverständlich und im Grunde nicht zu erwarten. Hier liegt das eigentliche Wunder der westdeutschen Nachkriegszeit.

Herr Herbert, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Ulrich Herbert per Telefonkonferenz
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