Geld vernebelt den Verstand
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die "SΓΌddeutsche Zeitung" hat eine lange Tradition als linksliberales Autorenblatt, in ihrem SelbstverstΓ€ndnis rΓΌhmt sich die Redaktion als "vertraute, unbestechliche, neugierige, offene, kluge und wenn mΓΆglich heitere Freundin und Begleiterin". Die Wochenzeitung "Die Zeit" hat ebenfalls eine lange Tradition, ihre Redaktion ist stolz auf ihre UnabhΓ€ngigkeit und kommentiert das politische Geschehen gern von hoher Warte. Meinungsfreudig ist auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die eine konservative Kommentierung pflegt, dabei aber Wert auf ihre Γberparteilichkeit legt.
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Am vergangenen Freitag mussten Leserinnen und Leser dieser drei groΓen Zeitungen an der UnabhΓ€ngigkeit der BlΓ€tter zweifeln. Bei der MorgenlektΓΌre wurden sie mit einer auΓergewΓΆhnlichen Anzeige der Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) konfrontiert. FΓΌr das Motiv wurde das Gesicht der GrΓΌnen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock auf einen KΓΆrper im Moses-Gewand retuschiert, der zwei Steintafeln mit zehn Geboten in klauenartigen HΓ€nden hΓ€lt. Mal prangte daneben der Slogan "Wir brauchen keine Staatsreligion", mal die Parole "Warum uns grΓΌne Verbote nicht ins Gelobte Land fΓΌhren". Auf den Tafeln standen "Verbote", die die GrΓΌnen angeblich umsetzen wollen: "Du darfst nicht fliegen", "Du darfst nicht schΓΆner wohnen", "Du darfst deine ArbeitsverhΓ€ltnisse nicht frei aushandeln" und so weiter. Polemisch, manipulativ, platt: So wirkte das Machwerk der INSM, die von den ArbeitgeberverbΓ€nden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird.
Die Anzeige sorgt seit Freitag fΓΌr EmpΓΆrung, viele Leserinnen und Leser kritisieren sie als beleidigend und frauenfeindlich. Manche Betrachter sehen sich in ihren religiΓΆsen GefΓΌhlen verletzt, andere empfinden sie gar als antisemitisch. Schon ein kurzer Faktencheck ergibt, dass die Behauptungen der INSM gegen die GrΓΌnen ΓΌberwiegend ΓΌbertrieben oder ganz falsch sind.
Nicht von ungefΓ€hr erinnert die Anzeige an Schmutzkampagnen in amerikanischen WahlkΓ€mpfen. Sie verdeutlicht, wie hart die Wahlschlacht ums Kanzleramt am Ende der Γra Merkel gefΓΌhrt wird. In manchen Unternehmerkreisen herrscht eine regelrechte Panik davor, dass die GrΓΌnen die kΓΌnftige Bundesregierung anfΓΌhren kΓΆnnten. Offenkundig ΓΌbermannt diese Panik bei manchen Herrschaften sowohl den guten Geschmack als auch den Anstand. Das kann man bedauern, man kann es kritisieren und man kann es auch verachten. Aber Lobbyisten sind nun einmal Lobbyisten.
Anders sieht es mit den Medien aus, die sich nicht zu schade waren, die herabwΓΌrdigende Anzeige abzudrucken oder auf ihre Websites zu stellen. Die "SΓΌddeutsche Zeitung" gehΓΆrt dazu, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und "Die Zeit". Alle diese Medien haben kluge Redaktionen und scharfsinnige Chefredakteure. Aber alle diese Medien sind durch den digitalen Wandel unter Druck geraten und kΓ€mpfen daher um jeden Anzeigenkunden. Wozu diese Entwicklung fΓΌhrt, dokumentiert die Anti-Baerbock-Anzeige: Selbst der schΓ€rfste Verstand scheint nicht dagegen gefeit zu sein, vom Dunst des Geldes vernebelt zu werden. Legt ein Kunde genΓΌgend Hunderttausender auf den Tisch, machen wir alles mit: Das ist die Botschaft, die diese Medien ihren Lesern auf den FrΓΌhstΓΌckstisch geknallt haben.
Man kann Anzeigen ablehnen. Der "Spiegel" hat das in diesem Fall getan. Auch t-online wurde von der INSM angefragt, hat die Anzeige aber zurΓΌckgewiesen β so wie wir jede politische Wahlkampfwerbung auf unserer Website ablehnen. Weil wir unabhΓ€ngig berichten und nicht in den Ruch einseitiger Parteinahme geraten wollen. Weil wir kein Vehikel fΓΌr Lobbyisten sind.
SelbstverstΓ€ndlich kann man die politischen Positionen der GrΓΌnen und Frau Baerbocks kritisieren. Auch im Tagesanbruch haben wir das erst am Freitag in aller Deutlichkeit getan β aber in einem redaktionellen Beitrag: mit Argumenten und offenem Visier, nicht mit einer als Anzeige getarnten Schmutzkampagne. Ein derartiges Motiv zu verΓΆffentlichen, ist auch dann keine Option, wenn man jeden Euro gut gebrauchen kann. Eigentlich sollte das im Journalismus eine SelbstverstΓ€ndlichkeit sein. Leider scheint in manchen Chefredaktionen der Kompass abhandengekommen zu sein. Das ist ein schlechtes Omen fΓΌr eine unabhΓ€ngige Berichterstattung im Bundestagswahlkampf.
Nato auf Sinnsuche
Nach dem G7-Gipfel ist vor dem Nato-Gipfel: Weilte er gestern Nachmittag noch zum Teetrinken mit Queen Elizabeth II. auf Schloss Windsor, beehrt US-PrΓ€sident Joe Biden heute schon das Nato-Spitzentreffen in BrΓΌssel. Und wΓ€hrend G7-Gastgeber Boris Johnson in seiner Abschlussbilanz vor allem das "fantastische Niveau an Harmonie" zwischen den Staatenlenkern lobte β man vereinbarte Impfstoffhilfen fΓΌr arme LΓ€nder und bekannte sich zum Kampf gegen die Klimakrise β, stehen heute kontroversere Themen auf dem Programm: Es soll um Antworten auf Russlands aggressive Politik und den Aufstieg Chinas gehen. Was genau die Amerikaner dabei fΓΌrchten, beschreibt mein Kollege Bastian Brauns in diesem Hintergrundartikel.
Eines allerdings dΓΌrfte die Regierungschefs der 30 Nato-Staaten genauso verbinden wie die G7: die Erleichterung darΓΌber, dass der Egomane Donald Trump nicht mehr dabei ist. Der Ex-PrΓ€sident, der heute im fernen Florida seinen 75. Geburtstag feiert, hatte die Nato als "obsolet" bezeichnet. Mit solchen Attacken muss GeneralsekretΓ€r Jens Stoltenberg beim aktuellen Amtsinhaber nicht rechnen: Herrn Biden wird an einem Schulterschluss mit seinen VerbΓΌndeten gelegen sein, bevor er ΓΌbermorgen in Genf auf Wladimir Putin trifft.
FΓ€llt die Maskenpflicht?
Die Infektionszahlen sinken weiter, ab heute sollen die Apotheken beginnen, die digitalen ImpfpΓ€sse auszugeben: Die Pandemie klingt unΓΌbersehbar ab. Prompt ertΓΆnen Forderungen nach dem Ende der Maskenpflicht. FDP-Vize Wolfgang Kubicki ist ganz vorn dabei, aber auch SPD-Justizministerin Christine Lambrecht meint: Die BundeslΓ€nder mΓΌssten nun klΓ€ren, "ob und wo eine Maskenpflicht noch verhΓ€ltnismΓ€Γig ist", erst recht in den Schulen. Taugt womΓΆglich DΓ€nemark als Vorbild, wo die Maskenpflicht heute in fast allen Bereichen des ΓΆffentlichen Lebens aufgehoben wird? Ich sage es mal so: Vorsicht hat in dieser Weltkrise noch nie geschadet. Noch warten Millionen Menschen auf ihre Impfung, und ein paar weitere Wochen mit Maske sind kein Drama.

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Was lesen?
Es hat tatsΓ€chlich geklappt: Israel hat eine neue Regierung, nach zwΓΆlf Jahren ist die Γra Netanjahu vorbei. Wie geht es nun weiter in dem gespaltenen Land? Die "Zeit" wagt einen Ausblick.
Es gibt ja diese Texte, die einen noch lange nach der LektΓΌre nachdenken lassen. Bei diesem Artikel unseres Gastautors Michael Kraske ging es mir so: Er berichtet, wie eine Historikerin die Geschichte Sachsens erforscht. Es ist ein Lehrstoff zu nationalen Opfermythen, der ganz Deutschland betrifft.
Das VermΓΆgen vieler Superreicher ist in der Corona-Zeit gewachsen. Das scheint der Geldelite aber nicht zu reichen: Jetzt greift sie mit viel Geld in den Bundestagswahlkampf ein, berichtet der "Spiegel"-Kolumnist Christian StΓΆcker.
Der CDU-GeneralsekretΓ€r und die "Bild"-Zeitung attackieren die Autorin Carolin Emcke: In ihrer Rede auf dem GrΓΌnen-Parteitag habe sie Klimaforscher mit Holocaustopfern verglichen. Das ist perfide, denn nichts dergleichen hat Emcke gesagt, wie Ronen Steinke in der "SΓΌddeutschen Zeitung" zeigt.
Trotz des Zusammenbruchs von Mittelfeldspieler Christian Eriksen wurde das EM-Spiel DΓ€nemark gegen Finnland fortgesetzt. Nun gibt es immer lautere Kritik an der Entscheidung, wie die "Tagesschau" berichtet.
Was amΓΌsiert mich?
Jeder hat ja seine eigene Perspektive.
Ich wΓΌnsche Ihnen einen perspektivreichen Tag. Morgen schreibt Sven BΓΆll den Tagesanbruch, von mir lesen Sie ab Mittwoch wieder.
Herzliche GrΓΌΓe
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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