Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Altkanzlerin kritisiert Merz-Politik Bitte einfach mal schweigen, liebe Frau Merkel

Altkanzlerin Angela Merkel lässt keine Gelegenheit aus, die Migrationswende von Friedrich Merz zu kritisieren. Dabei räumen er und Innenminister Dobrindt ihr schweres Erbe auf. Sie sollte ihren einstigen Lehrmeister Genscher beherzigen.
Angela Merkel kann sehr, sehr witzig sein, auch wenn sie zeit ihres politischen Lebens mit dieser Gabe in der Öffentlichkeit gegeizt hat. Die mit Abstand witzigste Rede, die ich von ihr in Erinnerung habe, hielt sie zum 50. Geburtstag von Guido Westerwelle im Theater Tipi am Kanzleramt. "Super, der Typ kann was", habe sie gedacht, als ihr der Jubilar vor Jahren das erste Mal aufgefallen war. Da war Westerwelle gerade hochkant aus dem Koalitionsausschuss der Regierung Kohl rausgeflogen, weil er Details aus der traulichen Runde regelmäßig und umgehend mit seinem Spin an die Presse durchgestochen hatte.
Vor allem aber berichtete Merkel davon, wie auch sie von Westerwelles Lehrmeister Hans-Dietrich Genscher gelernt hatte. Zu Wendezeiten habe sie erlebt, wie Trauben von Journalisten den Altmeister umringten, förmlich an seinen Lippen hingen und hinterher wie beseelt von dannen gingen, wiewohl Genscher im Grunde gar nichts gesagt hatte.

Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war.
Man darf also fest davon ausgehen – und 16 Jahre Kanzlerschaft haben uns Journalisten das auch immer wieder schmerzhaft bewusst gemacht: Merkel hat ihren Genscher intus. Sie kann reden, ohne etwas zu sagen. Sie beherrscht die Kunst der Ausflucht und des Drumherumredens wie kaum eine Zweite. Deshalb hätte sie eine echte Antwort auch vermeiden können, als der Chefredakteur der "Südwest Presse" sie nach einer Lesung ihrer Autobiografie in Neu-Ulm fragte, was sie von Merz' Migrationspolitik halte. Hat sie aber nicht. Die Antwort in zwei Worten zusammengefasst: gar nichts. Überhaupt nichts. Sie könne Europa "kaputtmachen".
Jenseits der Frage, welche Migrationspolitik Europa mehr schadet oder geschadet hat, die ihre oder die von Merz: Das ist nun schon das zweite Mal innerhalb weniger Wochen, dass Merkel ihrem Nachnachfolger im Kanzleramt in die Kniekehlen tritt. Das erste Mal, da hatte Friedrich Merz gerade seine umstrittenen Migrationsanträge in den Bundestag eingebracht, tat sie es sogar aktiv. In Form einer Pressemitteilung.
Das sitzt ganz tief
Das ist ein ungeheuerliches Gebaren, dessen Dimension man sich noch mal in Ruhe vor Augen führen muss. Seit zehn Jahren laborieren dieses Land und Europa an dem herum, was Angela Merkel als Bundeskanzlerin in Sachen Migration angerichtet hat. Operativ, gesellschaftlich und politisch. Das Gefühl des Kontrollverlustes des Staates hat sich so tief in so vielen Köpfen festgesetzt, dass die Migration trotz Klimakatastrophe und einem barbarischen Krieg vor der Haustür immer noch mit weitem Abstand auf Platz 1 der Sorgen der Mehrheit der Menschen in diesem Land steht. Gerade eben erst hat das Meinungsforschungsinstitut Ipsos das unter der Frage "Was beunruhigt Deutschland?" wieder festgestellt.
Die linksliberale "New York Times" hat zudem jüngst in einem Leitartikel Friedrich Merz alle Daumen gedrückt, dass er mit den Folgen der fatalen Migrationspolitik Merkels aufräumt, auf deren Handeln – oder eher Nichthandeln – die Zeitung zu Recht auch das Erstarken der AfD in den vergangenen Jahren ursächlich zurückführt. Und Merkel? Statt demütig zu schweigen, während andere versuchen, den Stöpsel in die Wanne zu bekommen, den sie herausgezogen hat, meldet sich die Parteifreundin eines CDU-Kanzlers bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu Wort, um ihr Missfallen darüber auszudrücken. Da bleibt die Spucke weg.
Der Preis war hoch
Es ist hinreichend bekannt, dass ich von Beginn an zu den (damals in der demokratischen Mitte sehr wenigen) Kritikern der Merkel'schen Migrationspolitik zählte. Der Preis dafür war hoch, sehr hoch. Bis heute steht in meinem Wikipedia-Eintrag das Zitat des Verlegers und Publizisten Jakob Augstein, der mir seinerzeit vorhielt, ich vertriebe "völkische Propaganda". Gott sei Dank ist diskussionskulturell jenseits festgefrorener Zitate (das Netz vergisst nichts) trotzdem etwas passiert. Vor etwa einem Jahr hat ein anderer namhafter Kollege, der mich damals auch öffentlich hart angegangen war, in einem persönlichen Gespräch rückblickend gesagt. "Du hattest damals recht. Und ich nicht." Das hat gutgetan.
Im Lichte dieses Jahrzehnts mit Merkels Erbe auf diesem Feld haben Vernunft, Umsicht und Einsicht wieder um sich gegriffen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und inzwischen auch des Kommentariats ist der Meinung, dass die irreguläre Migration eingedämmt werden muss. Heute kann man Dinge sagen und bekommt dafür überwiegend Zuspruch, für die man seinerzeit an die Wand genagelt wurde.
Ein Vorschlag zur Güte
Und trotzdem habe ich mir fest vorgenommen, nur noch in Ausnahmefällen über die Migrationsthematik zu schreiben. Weil eine andere Kritikerin von damals nicht ganz unrecht hatte, dass man zumindest den Eindruck einer gewissen Obsession bekommen konnte. Der Autor schaffe es, "einen Großteil seiner Texte und Interviews auf die seiner Meinung nach schwer misslungene Flüchtlingspolitik der Kanzlerin zu drehen", schrieb die Kollegin seinerzeit in einem Branchenblatt. Auch das steht bis heute so bei Wikipedia.
Dieser Text hier ist so gesehen ein Ausnahmefall. Versprochen. Wird so schnell nicht wieder vorkommen. Vielleicht könnte man der Altkanzlerin von Stund' an einen Deal vorschlagen. Schweigen auf beiden Seiten. Schweigen auf der Seite ihrer damaligen Kritiker. Und Schweigen auf ihrer Seite. Ein doppeltes Schweigegelübde. Es wäre besser so. Besser fürs politische Klima im Land. Besser für die demokratische Mitte, die dann ganz sicher wieder neue Kraft tankt im Kampf mit den radikalen Kräften auf beiden Seiten, vor allem aber ganz rechts außen. Und nicht nur nebenbei zeigte es seitens der Altkanzlerin Größe und Fairness Friedrich Merz gegenüber.
Sie müssen gar nicht abschwören, liebe Frau Merkel. Auch wenn es so geboten wäre wie bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich öffentlich von seiner früheren Russlandpolitik distanziert hat. Das können Sie offenbar nicht. Okay. Aber einfach mal nichts sagen, das müsste doch möglich sein.
- Eigene Erlebnisse und Überlegungen