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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Wie Yoga – mit besonderer Note" Chefin von obskurer Orgasmus-Firma drohen 20 Jahre Haft

Bescherte eine Firma Frauen mit einer einzigartigen Methode sexuelle Lust? Oder handelte es sich in Wahrheit um einen ausbeuterischen Kult, der zahlreiche Opfer forderte?
In New York hat der Prozess gegen zwei Frauen begonnen, die männlichen wie weiblichen Anhängern und Kunden sexuelle Freiheit versprachen – und die bald für lange Zeit im Gefängnis verschwinden könnten. Nicole Daedone ist die Gründerin von OneTaste, einem zeitweise äußerst erfolgreichen Orgasmus-Unternehmen, das unter anderem von Gwyneth Paltrow und Khloe Kardashian unterstützt wurde. Rachel Cherwitz war dessen Vertriebschefin.
Daedone und Cherwitz wird Verschwörung zur Zwangsarbeit vorgeworfen: Sie sollen zahlreiche Opfer in seelische und finanzielle Abhängigkeit gezwungen und dazu getrieben haben, sexuelle Handlungen gegen ihren Willen auszuüben. Werden sie schuldig gesprochen, drohen ihnen bis zu 20 Jahre Haft.
So funktionierte die sogenannte "Orgasmus-Meditation"
Diese Woche hielt Daedones Anwältin ihr Eröffnungsplädoyer in dem auf mehrere Wochen angesetzten Prozess. Es handelt sich um Jennifer Bonjean, die auch schon Harvey Weinstein verteidigt hatte – und die dafür bekannt ist, Zeugen und Opfer vor Gericht hart anzugehen.
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Bonjean schilderte ihre Mandantin als begeisterte Buddhistin, Pädagogin und Unternehmerin, die eine "wissenschaftlich fundierte Praxis mit nachgewiesenem Nutzen" entwickelt habe: "Es war wie Yoga – mit einer besonderen Note", sagte die Anwältin.
Die "besondere Note" bestand in einem sexuellen Höhepunkt: Daedones sogenannte "Orgasmus-Meditation" versprach, die weibliche Lust in den Mittelpunkt zu stellen. Eine Frau lag von der Hüfte abwärts nackt auf Kissen, während ein bekleideter Mann 15 Minuten lang ihre Klitoris streichelte. Manchmal sollen 30 oder mehr Paare so zusammen "meditiert" haben. Die Männer konzentrierten sich auf ihre behandschuhte Fingerspitze, die Frauen stöhnten und seufzten.
Multi-Millionen-Dollar-Unternehmen mit acht Standorten
Laut der Staatsanwaltschaft sollen Daedone und Cherwitz ihre Firma allerdings wie eine Sekte geführt haben. Die Berichterstattung diverser Medien zeichnet das Bild eines skrupellosen Unternehmens, das insbesondere sexuell traumatisierte und unsichere Menschen gnadenlos ausgenutzt haben soll. Auch der Streamingdienst Netflix hat sich dem Fall gewidmet und eine Dokumentation mit dem Titel "Orgasm Inc." darüber gedreht.
Erstmals öffentlich machte die Vorwürfe ein Bericht des Magazins "Bloomberg Businessweek". Zu dem Zeitpunkt hatte Daedone bereits seit 14 Jahren unermüdlich ihre Orgasmus-Methode propagiert und die Firma zu einem Multi-Millionen-Dollar-Unternehmen mit acht Standorten in den USA und Westeuropa gemacht. 2017 erzielte OneTaste einen Jahresumsatz von zwölf Millionen Dollar. Der Begriff "OrgasmicMeditation" war zur geschützten und überaus erfolgreichen Handelsmarke geworden.
OneTaste bahnte die ersten Kontakte zu potenziellen Kundinnen und Kunden niedrigschwellig an, Veranstaltungen waren kostenlos oder günstig. Sie trugen Titel wie: "Haben Sie genug vom Wischen nach links? Reden wir über echte Intimität." Oder: "Sie machen Yoga. Sie meditieren. Probieren Sie jetzt #OrgasmicMeditation aus."
Teure Kurse, hohe Schulden
Bei den ersten Kursen wurde die Orgasmus-Meditation nur kurz vorgestellt. Wer mehr wissen wollte, musste weitere, teurere Kurse buchen. Ein Wochenendkurs kostete 499 Dollar, ein Retreat 4.000 Dollar, das Intensivprogramm 16.000 Dollar, die Jahresmitgliedschaft 60.000 Dollar.
Erstaunlich viele Menschen waren bereit, diese Preise zu zahlen. Einige Kundinnen und Kunden entwickelten sich zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die allerdings nicht viel von Daedones finanziellem Erfolg abbekommen haben sollen – sondern sich im Gegenteil teils hoch verschuldeten, um die teuren Kurse selbst besuchen zu können.
Psychotricks sollen Opfer abhängig gemacht haben
Die mutmaßlichen Opfer sollen durch eine Vielzahl gezielter psychologischer Manipulationstechniken beeinflusst worden sein. Zentrale Methode war den Vorwürfen zufolge dabei die systematische Auflösung persönlicher Grenzen: Neue Mitglieder wurden demnach dazu ermutigt, intime Details aus ihrem Leben preiszugeben, was zu einer Atmosphäre der Offenheit, aber auch zu Verwundbarkeit führte.
In Gruppensitzungen sei sozialer Druck aufgebaut worden, berichteten ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dabei seien Zweifel oder Widerstand als Zeichen persönlicher Blockaden oder mangelnder Entwicklung interpretiert worden.
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Ein wichtiger Faktor war zudem das gemeinschaftliche Wohnen. Viele Angestellte lebten den Berichten zufolge zusammen in sogenannten "OM-Häusern", in denen die Trennung zwischen Privat- und Berufsleben praktisch aufgehoben war. Die enge Gemeinschaft, die ständige Präsenz anderer Mitglieder und der Mangel an Rückzugsmöglichkeiten verstärkten den sozialen Druck zusätzlich.
Laut den Vorwürfen sollen zudem speziell Menschen rekrutiert worden sein, die sich in einer Lebenskrise oder auf der Suche nach Sinn und Zugehörigkeit befanden. Neuen Mitgliedern sei eingeredet worden, dass weitere Investitionen – in Form von Geld oder sexuellen Handlungen – notwendig seien, um persönliche Durchbrüche zu erzielen.
"Sie hatten Spaß und Sex. Die Ausgangstür war offen"
Die Kombination aus sozialem Druck, emotionaler Manipulation und gezielter Ausnutzung individueller Schwächen soll viele Mitglieder zu sexuellen Handlungen genötigt haben, die sie normalerweise abgelehnt hätten. Einige berichteten, sie hätten sich dazu drängen lassen, mit Menschen intim zu werden, die sie eigentlich abstoßend fanden – nur um Anerkennung zu erhalten oder nicht als "blockiert" zu gelten. Andere gaben sechsstellige Beträge für Kurse aus und verschuldeten sich hoch, um Teil der Gemeinschaft bleiben zu können.
Anwältin Bonjean sagt hingegen, alle Angestellten hätten jederzeit gehen können. "Erwachsene Menschen haben erwachsene Entscheidungen getroffen, zu denen sie nun nicht mehr stehen", erklärte sie vor Gericht. "Jetzt sind sie verheiratet und haben Kinder und wollen nicht, dass ihre Nachbarn wissen, was sie in ihren Zwanzigern gemacht haben." Niemandem sei "eine Pistole an den Kopf gehalten worden, um ihn zur Arbeit zu zwingen". Alle seien geblieben, weil sie an das Unternehmen geglaubt hätten: "Sie hatten Spaß und Sex. Die Ausgangstür war immer offen."
Welche der Perspektiven zutrifft, muss jetzt das New Yorker Bundesgericht entscheiden. Ein Urteil wird in etwa sechs Wochen erwartet.
- nytimes.com: "Start-Up That Promoted Female Pleasure Exploited Women, Prosecutors Say" (Englisch)
- nypost.com: "Lawyers for glamorous leaders of OneTaste — ‘orgasm cult’ accused of grooming members — insist victims ‘were having a blast’ as trial begins" (Englisch)
- bloomberg.com: "The Dark Side of the Orgasmic Meditation Company" (Englisch)