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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Indiens schwerer Kampf gegen Corona "Sie sollten wegen Mordes angeklagt werden"
Die täglichen Neuinfektionen in Indien steigen rasant an. Sauerstoff ist in Krankenhäusern Mangelware. Menschen sterben auf der Straße. Schuld daran ist vor allem die Politik.
Vor einem Krankenhaus im Nordosten Delhis reißt der Strom der Covid-19-Patienten, die per Krankenwagen oder Rikscha ankommen, nicht ab. Doch die Betten stehen schon in den Gängen und sind bereits doppelt und dreifach belegt, sodass das Sicherheitspersonal Patienten und verzweifelte Angehörige abweist. Manche harren in der Schlange aus, andere halten Autorikschas an, um woanders weiterzusuchen. So beschreibt die Nachrichtenagentur AFP die dramatische Lage.
Im Video oben oder hier können Sie sich selbst ein Bild von den Zuständen im Land machen.
Ravi Kumar gelang es nach einer Nacht in der Schlange, seinen 80-jährigen Großvater unterzubringen. "Ich habe in sechs Minuten drei Leichen gesehen", sagt er der AFP. "Da drinnen sind keine Betten, nur eine Liege nach der anderen mit jeweils zwei Patienten." In der Nacht zuvor war Kumars Großvater einer Privatklinik verwiesen worden, als dort der Sauerstoff ausging.
320.000 Neuinfektionen an einem Tag
"Das ist staatliches Versagen", sagt Kumar. Die Regierung habe sich vergangenes Jahr nicht um die Verbesserung der Infrastruktur gekümmert.
Über 320.000 Neuinfektionen und 2.700 Todesfälle meldete die indische Regierung allein an diesem Dienstag. Die zweite Welle trifft Indien härter als die erste. Schuld an der schnellen Verbreitung des Virus sind auch die Massenveranstaltungen der letzten Wochen: religiöse Feste und Wahlkundgebungen.
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"Die Wahlkommission ECI sollte wahrscheinlich wegen Mordes angeklagt werden", verkündete das indische Obergericht "Madras High Court" in Chennai am Montag. "Sie sind die einzige Institution, die für die Situation verantwortlich ist, in der wir uns heute befinden."
Seit Wochen finden in Indien regionale Wahlen statt. Zu Tausenden versammeln sich Menschen auf Wahlkampfveranstaltungen der Parteien. Auch Indiens Präsident Narendra Modi sprach selbst bei solchen Veranstaltungen.
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"Die Politiker kümmern sich zwar schon um die Menschen, aber in erster Linie ist ihnen wichtig, dass sie gewählt werden", sagt der indische Ingenieur Sudhakar aus der Nähe von Hyderabad zu t-online.
Auf Twitter machten Menschen in den letzten Tagen unter dem Hashtag #SuperSpreaderModi ihrem Ärger Luft. So postete ein User eine Kurve der täglichen Neuinfektionen mit Zitaten der Regierung.
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Vor allem ein Zitat erhitzt die Gemüter der User: "Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen", sagte Präsident Modi bei einer Wahlkampfveranstaltung, bei der er selbst und zahlreiche seiner Anhänger keine Masken trugen.
Auf die Kritik in den sozialen Medien reagierte der Präsident mit Zensur. Etwa 100 Beiträge auf Twitter und Facebook ließ die Regierung sperren. Offizielle Begründung: die Angst vor Verbreitung von Falschinformationen und Panik. Indien beantragt immer wieder die Löschung von Nachrichten auf Twitter. Hinter Japan, Russland, Südkorea und der Türkei stellt Indien am fünfthäufigsten solche Anfragen, mit steigender Tendenz.
Regierung ging von Herdenimmunität aus
Die Politiker sind allerdings nicht allein mit ihrem laschen Umgang mit den Corona-Regeln. "Viele Menschen nehmen das Virus nicht ernst. Sie tragen keine Masken, waschen sich nicht die Hände und bleiben nicht zu Hause", erklärt Sudhakar t-online. Das läge auch daran, dass die meisten in der ersten Phase der Pandemie nicht schwer erkrankten. "Viele haben sich infiziert, aber nur etwas Husten bekommen", so Sudhakar.
17,6 Millionen Infizierte meldete Indien seit Beginn der Pandemie, bei 150.000 Toten bis zum Januar. Die relativ milden Verläufe lassen sich unter anderem mit dem Durchschnittsalter des 1,3-Milliarden-Einwohner-Staates erklären, dieses liegt bei etwa 28 Jahren. Auch in Deutschland haben ältere Menschen ein höheres Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf als Jüngere.
Indiens Regierung ging zudem offenbar davon aus, dass die Herdenimmunität erreicht wurde, nachdem die Zahlen im November wieder zurückgingen. Doch von Januar bis Ende April starben nun noch mal rund 50.000 Menschen, ein deutlicher Anstieg gegenüber der ersten Welle.
Menschen geraten in Panik
Allerdings sind nicht alle Inder gleich stark von der Krise betroffen. "Viele Menschen in Indien haben keine Krankenversicherung und müssen Behandlungen in bar bezahlen", erzählt Sudhakar. Deshalb ist vor allem die ärmere Bevölkerung auf die öffentlichen Kliniken angewiesen. Doch das öffentliche Gesundheitssystem kollabiert gerade. Die Bundesregierung will deshalb jetzt mit Medikamenten, Beatmungsgeräten und Sauerstoffflaschen aushelfen.
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Hinzu kommt, dass Menschen durch die Berichte über Sauerstoffknappheit "in Panik geraten", erzählt die Zahnärztin Deebika aus Hyderabad, einer Stadt mit über sechs Millionen Einwohnern in Südindien, t-online. Menschen, die es sich leisten können, gehen deshalb frühzeitig in die Kliniken und belegen dadurch Betten, die schwerstkranke Covid-19-Patienten bräuchten, so Deebika. Ihre Klinik weise zudem Covid-Patienten ab, da das private Krankenhaus nicht verpflichtet sei, diese aufzunehmen. Sie selbst wurde wie alle Mitarbeiter im Gesundheitssystem bereits mit dem indischen Vakzin Covishild geimpft.
"Was kann ich tun?"
In Delhi sucht Irfan Salmani derweil verzweifelt ein Bett für seine 40-jährige Schwester. "Ich habe es drei Tage nonstop versucht, bin von einem Krankenhaus zum anderen gefahren", berichtet er der Nachrichtenagentur AFP. "So etwas Schreckliches habe ich in meinem Leben noch nie gesehen. Was kann ich tun? Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen oder getrunken. Ich bekomme eine Absage nach der anderen."
Einige regionale Regierungen haben inzwischen reagiert und wieder Lockdowns verhängt. Auch Präsident Narendra Modi scheint mittlerweile den Ernst der Lage erkannt zu haben. In einem Radiointerview sagte der Politiker: "Wir werden den Ansichten von Experten und Wissenschaftlern den Vorrang geben müssen, um den Krieg gegen Covid-19 zu gewinnen."
Tankladungen voll mit Sauerstoff werden jetzt unter anderem aus Europa importiert und 44 Anlagen zur Herstellung von Sauerstoff sollen im nächsten Monat allein in Delhi entstehen.
Für die Schwester von Irfan Salmani kommt diese Hilfe vermutlich zu spät. Sie sitzt in ihrem gelben Sari auf dem Boden und ringt nach Luft, so beschreibt es eine Reporterin der AFP. Sie trägt eine Sauerstoffmaske, doch an deren Schlauchende fehlt die lebensrettende Sauerstoffflasche.
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und Reuters
- Times of India: Election Commission responsible for Covid-19 surge
- Hindustan Times: EC officials should probably be booked for murder: Madras high court on poll rallies amid Covid-19
- Gesundheitsministerium: Corona
- Our World in Data: Indien
- Twitter: Shefali Vaidya
- Times of India: PM Modi under fire for campaigning as India reels from Covid
- Times of India: Coronavirus Update
- Statista: Indien: Durchschnittsalter der Bevölkerung
- Twitter: Transparency Report