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Färöer Inseln: Ein Corona-Musterland wird zum alarmierenden Beispiel


Inzidenz über 1.000 auf den Färöern
Ein Corona-Musterland wird zum alarmierenden Beispiel

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Von Alexander Kohne, Tórshavn (Färöer Inseln)

02.11.2021Lesedauer: 5 Min.
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Die Corona-Infektionszahlen auf den Färöer-Inseln sind explodiert: Auch das Krankenhaus von Tórshavn ist besorgt.Vergrößern des Bildes
Die Corona-Infektionszahlen auf den Färöer-Inseln sind explodiert: Auch das Krankenhaus von Tórshavn ist besorgt. (Quelle: Alexander Kohne/t-online)

2020 vermeldeten die Färöer als erstes Land in Europa "Zero Covid". Doch nun explodieren die Zahlen auf der abgelegenen Inselgruppe im Nordatlantik förmlich – und die Gründe sind auch für Deutschland interessant.

Die Masken bleiben hier nicht lange auf. Sobald die Reisenden die türkisblauen Schwenktüren zur Seite geschoben haben, steuern die meisten zielstrebig auf ihre Verwandten zu, reißen sich die Schutzmasken vom Gesicht und umarmen die Wartenden.

Ähnliche Szenen gibt es an Tausenden anderen Flughäfen weltweit. Doch an diesem Freitag am Flughafen in Vágar auf den Färöer-Inseln ist das Fernsehen da. KVF. Der einzige Sender des Landes. Bei jedem der beschriebenen Ankünfte wird mit der Kamera draufgehalten.

Der Grund: Dieser 22. Oktober ist der erste Tag, an dem die Maskenpflicht auf den Färöern auch im Flughafengebäude nicht mehr gilt. Damit ist die Zeit der Masken im öffentlichen Raum auf der Inselgruppe im Nordatlantik vorbei.

Seit nunmehr zwei Wochen schnellen die Corona-Zahlen auf dem Archipel zwischen Island, Norwegen und Schottland allerdings massiv nach oben. Am Wochenende überschritt die Inzidenz erstmals die Marke von 1.000. Am Montag lag der Wert gar bei 1.166. Einen Tag später wurde er mit 1.016 ausgewiesen und lag damit beinahe siebenmal so hoch wie in Deutschland.

Höchster Inzidenzwert in Europa

Damit liegen die Färöer europaweit auf Platz eins – deutlich vor Estland (908) und Lettland (862). Deutschland kommt auf einen im Vergleich dazu moderaten Wert von knapp 153.

Dabei galt die Corona-Pandemie auf der Inselgruppe, die autonomer Bestandteil des Königreichs Dänemark ist, als weitgehend eingedämmt. Als erstes Land Europas verkündeten die Färöer nicht ohne Stolz, offiziell frei vom Coronavirus zu sein. "Unser harter Kampf hat sich ausgezahlt", sagte Ministerpräsident Bárður á Steig Nielsen damals. Es galten ein weitgehender Lockdown und eine zweiwöchige Quarantäne für alle Einreisenden. Das war Anfang Mai 2020. Die Vision von "Zero Covid" war Realität.

Gut eineinhalb Jahre später ist es damit vorbei. Aktuell gibt es über 700 aktive Corona-Fälle – also deutlich mehr als ein Prozent der knapp 54.000 Einwohner.

"Das sind mit Abstand der höchsten Werte, die wir hier je hatten. Weil wir so ein kleines Land sind, wirkt sich ein einziger Ausbruch stark aus", sagt Marnar Fríðheim Kristiansen. Der 31-jährige Epidemiologie – leger gekleidet mit dunkelblauem Poloshirt, schwarzer Stoffhose und schwarzen Sneakern – forscht aktuell am Krankenhaus der Hauptstadt Tórshavn für seine Doktorarbeit. Eigentlich ist sein Spezialgebiet die Krebsforschung, seit März 2020 hat er sich jedoch auch der Analyse der Corona-Pandemie verschrieben.

Kristiansen lacht viel. Doch die aktuelle Lage bereitet ihm Sorgen. "Ich bin mir nicht sicher, ob man die derzeitige Situation wirklich schon 'Krise' nennen kann. Aber die Situation ist kritisch", verdeutlicht der Arzt, der – wie viele Färinger – in Kopenhagen studiert hat. "Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird sie sicherlich zu einer Krise werden, weil unser eigentlich sehr gutes Gesundheitssystem irgendwann an seine Grenzen stößt."

Was er damit meint: Aktuell gibt es elf Corona-Fälle, die im Krankenhaus behandelt werden. Bisher hauptsächlich Senioren jenseits der 70, zuletzt war aber auch ein Neugeborenes dabei.

Von den fünf Betten auf der Intensivstation wurden seit dem Ausbruch der Pandemie maximal zwei parallel von Corona-Patienten belegt. Schwere Fälle müssen allerdings durchaus auch mal 1.500 Kilometer nach Dänemark geflogen werden, weil Ausstattung und Kapazitäten der dortigen Kliniken besser sind.

Schwere Covid-Verläufe sind auf den Färöern bislang sehr selten. Todesfälle gab es bisher drei. Dies liegt auch daran, dass knapp 71 Prozent der Gesamtbevölkerung geimpft sind. Bei den über Zwölfjährigen haben fast 90 Prozent zumindest die erste Impfung bekommen.

Warum ist das ehemalige "Zero Covid"-Land innerhalb weniger Tage trotzdem zu Europas Hotspot Nummer eins geworden? "Wir hatten zuletzt einige Superspreader-Events", erklärt Shahin Gaini. Er ist Universitätsprofessor in Tórshavn und Experte für Infektionskrankheiten.

Der Name Shahin – die Färinger nennen sich meist nur beim Vornamen – ist auf den Inseln fast jedem geläufig. In Sachen Bekanntheit ist er so etwas wie der färöische Christian Drosten. Fragen beantwortet der renommierte Mediziner momentan aber nur telefonisch, denn er ist krank. Grippe. "Zum Glück kein Corona", sagt er.


Die von Gaini beschriebenen "Superspreader-Events" – in Schulen, beispielsweise aber auch auf einem kirchlichen Feriencamp – haben vor allem junge, meist ungeimpfte Menschen betroffen. Diese haben das Virus oft unbemerkt mit nach Hause zu ihren Familien gebracht und es dort weiterverbreitet.

Epidemiologe Marnar Fríðheim Kristiansen hat Ähnliches erlebt, nur brachten nicht seine Kinder, sondern er selbst das Virus mit nach Hause – trotz aller Vorsicht, zweifacher Impfung und der ständigen Tests im Krankenhaus. Danach steckte er seine Kinder an, die allerdings milde Verläufe hatten. Ihn selbst traf es ein wenig härter.

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Das besondere Problem der Färöer

Der Fall ist sinnbildlich für ein Problem, das auf den Färöern trotz der geringen Bevölkerungsdichte eher auftritt als in vielen anderen europäischen Ländern. "Wir haben sehr enge familiäre Bande und leben eng zusammen. Man sieht seine Familie einfach relativ oft und wir haben viele soziale Kontakte", erklärt Kristiansen.

Zudem verbrächten die Färinger gerade im Herbst, wenn es noch mehr regnet als sich die meisten Kontinentaleuropäer vorstellen können, und im Winter viel Zeit in geschlossenen Räumen. "Wenn eine Person infiziert ist, ist das Potenzial sehr hoch, viele andere zu infizieren", so der Arzt weiter.

Und das ist zuletzt immer häufiger geschehen. Zudem seien vermehrt bereits geimpfte Personen infiziert worden – oft ohne Symptome zu haben. Feste Corona-Bestimmungen wie in Deutschland gibt es derweil nicht. Die obligatorischen Tests am Flug- oder Fährhafen wurden ab September abgeschafft. Nun wird lediglich empfohlen, sich innerhalb von 48 Stunden nach Ankunft kostenfrei testen zu lassen.

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Gaini kritisiert: "Die Politiker waren naiv"

Gaini ist damit gar nicht zufrieden. "Die Politiker waren naiv. Als die Fallzahlen im Sommer runtergegangen sind, haben sie gedacht, dass sich das Problem erledigt hat", sagt der Professor. Deshalb seien die Corona-Regeln Stück für Stück zurückgenommen worden. Außerdem hätten die Behörden Fehler in der Kommunikation gemacht und viele Menschen durch sich teils widersprechende Angaben verunsichert. Das Ergebnis sehe man aktuell.

Deshalb plädiert er für einen Weg, mit dem er sich auf den Färöern nicht nur Freunde macht. "Wenn Sie mich fragen, sollten wir einen einwöchigen Lockdown einführen", so Gaini. "Einen totalen Lockdown für das ganze Land inklusive Schulen, Nachtleben und andere Aktivitäten." Aktuell sind nur ausgewählte Schulen, meist in besonders stark betroffenen Gemeinden, geschlossen. Am Montag stellte auch die Universität größtenteils auf Fernunterricht um. Freiwillig.

Schnelltests als Option

Ähnlich wie Gaini sieht auch Kristiansen die aktuellen Maßnahmen. "Was wir im Moment machen, funktioniert einfach nicht", sagt der 31-Jährige. Man habe sich zu lange nur auf Impfungen und vor allem auf Tests verlassen. Aber das sei nicht genug. "Wir brauchen einen Strategiewechsel."

In diesem Zusammenhang führt er unter anderem die PCR-Tests bei der Einreise an. Zusammen mit der Kontaktverfolgung hatte sich das als "sehr effektiv herausgestellt". Auch die Ausgabe von kostenlosen Schnelltests am Flughafen hält Kristiansen für ein gutes Instrument.

Für Gaini ist indes eines klar: "Wenn die Zahlen nicht runtergehen, haben wir ein großes Problem." Er kann sich zudem vorstellen, dass Situationen wie aktuell auf den Färöern auch woanders auftreten könnten: "Natürlich. Das kann auch in anderen Ländern passieren", so der Mediziner, der glaubt, dass "wir in diesem Jahr sehr viele Ausbrüche in Europa sehen werden." Gaini sagt aber auch: "Es wird ein harter Winter, aber nicht so hart wie im letzten Jahr."

Dieser Artikel entstand in Kooperation mit der färöischen Wochenzeitung "Dimmalætting". Mehr lesen Sie hier.

Verwendete Quellen
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