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Flutkatastrophe im Ahrtal: "Ich frage mich, ob niemand etwas verstanden hat"


Katastrophe an der Ahr
"Ich frage mich, ob niemand etwas verstanden hat"

  • Lars Wienand
InterviewVon Lars Wienand

Aktualisiert am 13.07.2022Lesedauer: 8 Min.
Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Ein Jahr nach der Flut: Vieles geht voran, manches stockt, und an manchem müsste sich etwas ändern, sagt Andy Neumann, Flutopfer, Bestsellerautor und Sicherheitsexperte.Vergrößern des Bildes
Ein Jahr nach der Flut: Vieles geht voran, manches stockt, und an manchem müsste sich etwas ändern, sagt Andy Neumann, Flutopfer, Bestsellerautor und Sicherheitsexperte. (Quelle: Imago/Future Image)

Er hat über die Flut an der Ahr als Betroffener und Sicherheitsexperte einen Bestseller geschrieben. Nun legt Andy Neumann nach: Was lief und läuft falsch?

Fast wäre es ein perfektes Idyll, in dem Andy Neumann bei einem Kaffee Antworten zur Flutkatastrophe gibt. Um ihn und um bunte Blumen herum summt es, die Kinder spielen. Das Haus in seinem Rücken in Bad Neuenahr-Ahrweiler ist aber noch mit Baugerüst und Folie für die Verputzer versehen. Am 14. Juli vor einem Jahr gegen Mitternacht war das Wasser gekommen und hatte das Erdgeschoss komplett unter Wasser gesetzt.

Nach einem gewaltigen Kraftakt wohnt die Familie seit Februar wieder dort, und seine Zukunft bereitet Andy Neumann wenig Sorge. Die Situation hinsichtlich der Lehren aus der Flut allerdings schon. Ein Gespräch über Vertrauen in den Staat, der versagt hat und sich schwertut, es künftig besser zu machen.

t-online: Herr Neumann, welche Handwerker sind an der Ahr gerade besonders gefragt?

Andy Neumann: Handwerker generell. Glücklicherweise, denn das heißt, dass überall aufgebaut wird und nur noch in wenigen Häusern gestemmt und entkernt werden muss. Es gibt aber keine Sorte Handwerker, die schon gar nicht mehr gebraucht wird. Ich würde sagen, wir bewegen uns weitgehend zwischen den Installations- und den Putzarbeiten, in vielen Fällen ist es auch schon der Außenputz oder sind es die Gartenbauer. Aber ich kann das unmöglich für alle sagen.

Aber mit Ihrem Buch "Es war doch nur Regen – Protokoll einer Katastrophe" sind Sie für viele zu einer Stimme der Betroffenen geworden.

"Die Betroffenen“, das ist eine Bandbreite, die niemand allein abdecken kann. Wie könnte ich für Menschen sprechen, die jemanden verloren haben? Wie für jemanden, der alles verloren hat und noch in den Trümmern steht? Niemand kann das oder sollte es sich einbilden. Ich selbst wollte wenn, dann immer eher eine Stimme für das Tal sein, und ich hoffe, dass mir das gelingt.

In ihrem neuen Buch liest man, dass es Tage gab, da waren Straßen und Bürgersteige an der Ahr sogar staubfrei. Zum Jahrestag vielleicht wieder.

Zwei Bücher zur Flut
In "Es war doch nur Regen – Protokoll einer Katastrophe" schilderte Andy Neumann die Flutnacht und die ersten Wochen danach mit ihren Tiefschlägen, mit Frustration, aber vor allem auch mit Durchhaltewillen. Das Buch stand nach Erscheinen am 6. Oktober monatelang auf der "Spiegel"-Bestsellerliste, darunter 12 Wochen in den Top 10. Bis zur fünften Auflage ging der Erlös von insgesamt bis dahin 40.000 Euro komplett an Flutopfer, seither spendet Neumann einzelne Beträge. Zum Jahrestag der Flut erscheint nun seine Denkschrift "Vergiss mal nicht" mit seiner Bilanz mit kritischen Fragen.

Ich denke nicht, das stört mich ja daran! Es gibt gewaltige Unterschiede in den Fortschritten. An jedem Ort gibt es schon einiges an Licht, selbst dort, wo es mehr Schatten gibt. Gerade dieser Kontrast, der sich durch das ganze Tal zieht, wäre es wert, wahrgenommen zu werden, vor allem von politischer Seite. Er steht schließlich für etwas!

Wofür?

Dafür, dass trotz jahrelanger Arbeit, die noch vor uns liegt, das Tal schon wieder lebenswert ist, und dass es sich lohnt, hierher zu kommen, um uns beim Aufbau zu helfen. Ausdrücklich auch als Touristen. Die Gastronomen, die Hoteliers, die Winzer, die Geschäftsleute, die ein Jahr lang geackert haben wie die Irren und alles auf die Karte "Wir machen weiter" setzten, sollten dafür reichlich belohnt werden.

Das geht am besten, wenn man kommt und das Tal genießt, so gut es eben schon geht. Für die Menschen, die noch nicht über den Berg sind, braucht es allerdings nach wie vor insbesondere zupackende Hilfe.

Woran liegt es, dass viele Menschen noch nicht über den Berg sind?

Das kann ich nur pauschal beantworten. Aber natürlich hat die wenig optimale administrative Abwicklung der Flutfolgen durch das Land Rheinland-Pfalz damit zu tun. Die für die Bewilligung zuständige ISB als sehr kleine Landesbank wäre selbst ohne Corona-Stau nicht in der Lage gewesen, zeitnah die Unmenge an Anträgen zu bearbeiten.

Daran hängen am anderen Ende Existenzen! Wieso wurde nicht etwa die KfW um Hilfe gebeten? Dazu kommen unerträgliche Machtspielchen mancher Versicherer, die selbst versicherte Menschen bis heute teilweise in Existenznot halten. Da bekommt man Geschichten zu hören, da gehe ich sofort auf 180.

Und wenn Geld da ist?

Es fehlt an allen Ecken und Enden an Handwerkern, an Material oder ganzen Gebäudebestandteilen. Sechs Monate sind ja vielfach schon eine akzeptable Lieferfrist. Schlimmer hätte es in dieser Katastrophe wirklich nicht mehr kommen können. Ich bin sehr stolz, dass trotzdem fast niemand aufgibt und die Hiergebliebenen immer noch den festen Willen haben, sich da durchzukämpfen.

Im Kontext des Ukraine-Kriegs liest man jetzt Kritik, da helfe Deutschland, Menschen an der Ahr würden im Stich gelassen.

Das ist grenzdebiles Gerede! Diese stumpfen Memes, die einem im Netz manchmal in die Timeline gespült werden, da kriege ich Pickel. Wen stören Fakten, wenn es schön knallt und Likes hagelt? Dabei ist es so simpel: Nicht ein einziger Euro, der der Ukraine zugesagt wurde, geht vom immensen Betrag ab, welcher der Ahr zugesagt wurde und der noch weitgehend unangetastet herumliegt. Das ist nur dumpfes, braunes Gehetze, das hier im Tal keiner will oder braucht!

Aber "schnell und unbürokratisch" war die Hilfe vom Staat nicht...

(Lacht laut auf) Es gibt Hunderte Millionen gespendete und Milliarden vom Bund bewilligte Gelder, die nur darauf warten, hier endlich sinnvoll eingesetzt zu werden. Darüber soll man sich aufregen, nicht über die Ukrainehilfe. Und da ist Abarbeitung bei der ISB im Schneckentempo nur ein Problem. Abschlagszahlungen sind völlig unterdimensioniert, auch wenn es da jetzt immerhin "für Härtefälle" Bewegung gibt.

Dazu fehlt eine Ausnahmeregelung im Bereich der Firmenspenden, wie es sie in Sachsen gab. Und Leute, die das Geld dringend brauchen könnten, springen ihnen beim "Subsidiaritätsprinzip" ins Gesicht. Das besagt, dass erst Staat und Versicherungen kommen und dann Spenden fließen dürfen.

Sie arbeiten für den Staat, Sie verteidigen den Staat, und Sie verzweifeln fast an dem, wie sich der Staat rund um die Flutkatastrophe präsentiert. Wie kommt man damit klar?

Das ist unschön. Ich frage mich oft, wieso ich diese ganzen Sachen überhaupt sagen muss. Wieso die Leistungsfähigkeit, die unser Staat zweifellos hat und die ich täglich erlebe, ausgerechnet in einem solchen Fall nicht aktiviert wird? Wieso ein Land wie Rheinland-Pfalz, das doch nicht im Ansatz über Verwaltungsapparat und Kräfte zur Folgenabwicklung verfügt wie NRW, Bayern oder gar der Bund, nicht sofort die Hosen runterlässt und sagt "Föderalismus hin oder her, bitte helft uns!". Jeder einzelne Mensch an der Ahr hat das fertiggebracht, und das Land tut so, als kriegt man das locker allein gewuppt.

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Sie haben sich auch gerade bei einer Veranstaltung unter viel Applaus eine Entschuldigung von Ministerpräsidentin Malu Dreyer gewünscht.

Es wäre Zeit. Es wäre richtig. Das kann doch nur sie tun, unabhängig davon, für wie viele der schlecht gelaufenen Dinge sie persönlich etwas konnte. Mir ist klar, dass sie mit einer Entschuldigung im politischen Spiel Schuld eingestehen und es daher nie tun würde. Dann ist das politische Spiel eben Mist!

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Die Leute haben es verdient, dass ihnen jemand, der das auch mit breiter Brust tun kann, zum Jahrestag sagt: "Liebes Ahrtal, wir haben Fehler gemacht. Fehler, die Menschenleben gekostet haben, Fehler, die bis heute Schicksale bedrohen. Ich verspreche Ihnen, wir werden alles versuchen, um es besser zu machen. Und: Es tut mir sehr, sehr leid." Klar, ein frommer Wunsch.

Es gibt auch bisher niemanden, der verantwortlich gemacht werden kann für den Tod von 134 Menschen. Gegen den damaligen Landrat Jürgen Pföhler wird ermittelt. Sie sind Kriminalbeamter, sie haben als Zeuge ausgesagt, aber Sie erwarten, dass niemand bestraft wird?

Ich fürchte das. Auf den Ausgang des Ermittlungsverfahren wartet das ganze Tal. Aber ich bin skeptisch, ob er den Leuten gefallen wird. Die Rechtslage hat wenig mit dem zu tun, was die Menschen hier für gerecht halten würden. Moralische Schuld ist nicht strafrechtliche Schuld, das wird schwer zu vermitteln sein.

Aber bei allem, was der damalige Landrat an diesem Abend getan oder vielmehr nicht getan hat, war er weiß Gott nicht der Einzige, der Opfer hätte verhindern können. Die Kette des Versagens zieht sich weit in die Landesregierung hinein.

Wir haben darüber gesprochen, wie Fehlverhalten und die Übernahme von Verantwortung die Menschen beschäftigt. Was bedeuten die Helfer für das Ahrtal?

"Die Helfer"? Alles! Zehntausende aus der ganzen Welt, die von Tag 1 an im Tal waren, teils bis heute blieben und uns – mit Ehrenamtlichen, Streitkräften und professionellen Kräften aus der Blaulichtsparte – wirklich gerettet haben, werden in den Herzen der Ahrtaler immer einen besonderen Platz einnehmen. Und man ist aber auch nicht gegen die Helfer, wenn man das Verhalten Einzelner kritisiert.

Sie spielen auf "Fluthelden" an, die heute umstritten sind?

Es gab Helfer, die denken, Hilfe zu leisten sei eine Art Ablassbrief, mit dem man sich alles erlauben darf. Einige wenige davon haben es mit ihrem totalen Freidrehen im Internet geschafft, sich alles mit dem Hintern wieder einzureißen, was sie mit den Händen aufgebaut hatten. Dummerweise ist differenziertes Denken nicht jedem gegeben.

Im Tal aber offensichtlich allen, denn hier hat mich noch nie jemand falsch verstanden. Es gibt drei, vier Namen, da rollen fast alle hier mit den Augen – im Internet aber tun diese Leute immer noch so, als seien sie die "Ahrvengers".

Hat man denn wenigstens aus der Katastrophe die richtigen Schlüsse gezogen?

Wenn wir beim Thema Spontanhelfer bleiben, gibt es zaghafte Anfänge, das Erfolgsmodell des Helfershuttles ...

...mit dem innerhalb kürzester Zeit freiwillige Helfer an einem Treffpunkt gesammelt und koordiniert zur Hilfe gebracht werden konnten...

... wird von Ideengeber Thomas Pütz regelmäßig an der Katastrophenschutzakademie des Bundes vorgestellt. Aber konzeptionell hat noch niemand eine Hand gerührt, damit die Einbindung beim nächsten Mal im Rahmen des staatlichen Einsatzes funktionieren kann. Insgesamt herrscht beim Katastrophenschutz weitgehend Fehlanzeige, der Staat hat aus der Flut noch nichts gelernt.

Wenn es schwerste Kriminalität oder Terror gibt, übernehmen Spezialisten vom BKA. Und bei einer Naturkatastrophe, die das Ausmaß eines Terroranschlags sprengt?

Bei der Polizei gibt es klare Aufgaben- und Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen kommunaler, Landes- und Bundesebene. Das kann als Beispiel dienen – wenn man es will. Den Punkt habe ich bei der Anhörung im Bundestag vorgebracht. Katastrophen sind ungleich komplexer in ihrer Abarbeitung als jede rein polizeiliche Lage.

Trotzdem geht die gesamte Republik davon aus, solche Katastrophen könnten durch einen Kreis bewältigt werden, mit in der Regel ehrenamtlich, also nebenberuflich, tätigen Kräften und mangelnder Verbindlichkeit bei konzeptioneller Planung, Vorbereitung und Beschulung. Ich habe aber Hoffnung, dass zumindest der Missstand erkannt ist.

Hat die Katastrophe denn an der Ahr Einstellungen geändert?

Bei den Menschen ganz sicher. In der lokalen Administration: fraglich. Unsere neue Landrätin Cornelia Weigand hat zwar gerade bei den Kernthemen Umwelt und Katastrophenvorsorge einen wachen Blick. Doch es wird dauern, bis der durchschlägt. Das Thema Hochwasservorsorge treibt einem aktuell Schauer über den Rücken!

Wie das?

Es gibt jeden Tag Schildbürgerstreiche zu beobachten. Wenn man vom Biologen Wolfgang Büchs liest, wie "mit Baggern und Planierraupen genau das Falsche gemacht" wurde und Ahr und Zuflüsse sehr stark eingeengt wurden, könnte man fast bereuen, wieder aufgebaut zu haben. Oder nehmen wir die "Poseidonsche Hochwasserzone", wie ich sie nenne: Aus Sicht der dafür Verantwortlichen scheint das Wasser beim nächsten Mal durch göttliche Einwirkung einen Bogen um Prestige-Neubauprojekte direkt an der Ahr zu machen. Die werden weiter gebaut. Man fragt sich fassungslos, ob wirklich niemand was verstanden hat.

Das klingt wenig hoffnungsvoll. Kein Lerneffekt?

Doch. Beim Einzelnen. Bei all denen, die vom ersten Tag an gedacht haben "So was darf nie wieder passieren". Das ist ganz sicher die Mehrheit hier, und ich bin gespannt, wann sie sich in den kommunalen Gremien spiegeln wird. Den spürbaren Veränderungswillen sollten wir auch dort einbringen, wo offensichtlich immer noch an vielem festgehalten werden soll, was uns diese Katastrophe mit eingebrockt hat. Meine Hoffnung bleibt stark. Denn wenn ich etwas gespürt habe, dann den breiten Willen dazu, das Tal nicht nur wieder aufzubauen, sondern es besser aufzubauen! Und der wird sich irgendwann durchsetzen, da bin ich sicher.

Vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
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