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Härtere Strafen für Kindesmissbrauch? "Mehr hat der Rechtsstaat nicht zu bieten"


Experte zu Missbrauchszahlen
Härtere Strafen? "Mehr hat der Rechtsstaat nicht zu bieten"

  • Steven Sowa
InterviewVon Steven Sowa

26.05.2021Lesedauer: 6 Min.
Interview
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Ein Mädchen versteckt ihr Gesicht in einem Teddybär (Symbolbild): Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen 85 Beschuldigte.Vergrößern des Bildes
Kindesmissbrauch: Ein Mädchen versteckt ihr Gesicht in einem Teddybär und sucht Trost. (Quelle: Kirchner-Media/imago-images-bilder)

Im Jahr 2020 hat die Gewalt gegen Kinder zugenommen – in vielerlei Hinsicht. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs spricht bei t-online über Konsequenzen.

Seit 2018 hat sich die Zahl an kinderpornografischen Abbildungen im Netz mehr als verfünffacht. So geht es aus der neuesten polizeilichen Kriminalstatistik hervor, die gestern in Berlin vorgestellt wurde. "Hier ist ein Kipppunkt erreicht – wir müssen verhindern, dass das System kollabiert", kommentierte Missbrauchsbeauftragter Rörig den dramatischen Befund auf der Pressekonferenz.

Im Interview mit t-online spricht der Experte auch über die politischen Versäumnisse der Vergangenheit – und die besorgniserregenden Entwicklungen in der Kinderporno-Szene.

t-online: Lieber Herr Rörig, Sie sagten bei der Vorstellung der neuesten Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik im Hinblick auf Kindesmissbrauch und Kinderpornografie: "Wir dürfen den Missbrauchstätern im Netz keine rechtsfreien Räume bieten". Was genau muss der Gesetzgeber anpacken, damit ihr Appell nicht verhallt?

Johannes-Wilhelm Rörig: Insgesamt muss das Entdeckungsrisiko für Missbrauchstäter im Netz erhöht werden. Und da schaue ich nicht nur auf die Bundesebene, sondern auch sehr konkret auf die 16 Bundesländer, denn sie haben die originäre Zuständigkeit für die Polizei und für die polizeilichen Ermittlungen. Es ist wichtig ist, dass die Länder erkennen, in welchem enormen Ausmaß im Netz Sexualstraftaten gegen Kinder und Jugendliche begangen werden. Die Strafverfolgung muss deshalb verschärft werden.

Es müssen alle rechtsstaatlichen Instrumentarien greifen, zum Beispiel muss, wenn es einen Hinweis gibt oder einen Durchsuchungsbeschluss, dem dann auch nachgegangen und dieser dann auch vollstreckt werden. Die Landespolizeien müssen viel aktiver werden im Kampf gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder im Netz, damit sich die Gefahr für die Täter, entdeckt zu werden, enorm erhöht.

Kurz: Die Signalwirkung muss deutlicher werden. Eine Art Abschreckungsszenario für Täter?

Richtig! Und das wäre unter Berücksichtigung aller auch jetzt schon zur Verfügung stehenden Mittel auch möglich. Leider haben wir ein riesiges Personalproblem, zu wenig proaktive Ermittlung und zu geringe Polizeipräsenz im Netz. Bei der aktuellen Aufstellung der Polizei wird die erfolgreiche Bekämpfung von sexueller Cyberkriminalität nicht gelingen.

Sind denn die ausgesprochenen Strafen überhaupt abschreckend genug, um Täter am Missbrauch zu hindern?

Diese Diskussion haben wir nun gerade bei der parlamentarischen Behandlung des Lambrecht-Gesetzes zur Verschärfung der Strafandrohung geführt. Ich bin froh, dass gegen Missbrauchstäter im Netz, also alle, die sogenannte Kinderpornografie erstellen, weiterleiten oder auch besitzen, höhere Strafen als bisher üblich ausgesprochen werden müssen. Ich bin aber auch fest davon überzeugt, dass höhere Strafandrohungen allein Missbrauchstäter nicht von ihren perfiden Taten abhalten werden.

Wieso das?

Die Strafandrohungen für die Haupttäter in den Missbrauchsfällen Bergisch Gladbach oder Münster, die in Nordrhein-Westfalen zu großen Skandalen geworden sind, betrugen sowieso bereits 15 Jahre Freiheitsstrafe mit der Möglichkeit späterer Sicherungsverwahrung. Mehr hat der Rechtsstaat nicht zu bieten. Das ist das Maximum, was überhaupt – mit Ausnahme von Mord – an Strafandrohung ausgesprochen werden kann. Und auch das hat die Täter nicht abgehalten.

Warum hinkt Deutschland in der Strafverfolgung überhaupt so dramatisch hinterher? Schließlich ist das Problem doch seit Jahren bekannt. Setzen Polizei und Justiz falsche Prioritäten?

Nach meiner Überzeugung haben sich die Länder noch nicht hinreichend auf die Bekämpfung von sexueller Cyberkriminalität eingestellt. Es gibt eine Verstärkung in Bezug auf Hasskriminalität und Rechtsextremismus. Aber der Bereich der sogenannten Kinderpornografie, der Missbrauchsabbildungen im Netz, ist bisher noch nicht flächendeckend im Fokus der Landeskriminalämter. Und die enormen Personaldefizite führen dazu, dass zum Beispiel beschlagnahmte Rechner eher einstauben als schnell ausgewertet und entschlüsselt zu werden.

Warum werden Rechner auf Polizeidienststellen nicht schneller durchforstet und entschlüsselt?

Die Entschlüsselung selbst dauert noch sehr lange, Nordrhein-Westfalen testet derzeit einiges mit künstlicher Intelligenz, um die Auswertung des Bildmaterials schneller zu bewerkstelligen – die Datenmengen auf den Rechnern liegen ja teilweise im Terrabytebereich. Aber wenn beschlagnahmte Rechner, in denen sich möglicherweise Verbindungsdaten befinden, aufgrund von Personalmangel einstauben, sind die Spuren zu aktiven Missbrauchstätern später womöglich nutzlos, laufendes Missbrauchsgeschehen wird nicht beendet. Viel zu viele Täter können sich derzeit noch darauf verlassen, dass der Staat, dass die Polizei dem Tatgeschehen im Netz, gar nicht hinterherkommt, dass dadurch rechtsfreie Räume entstehen und ihre perfiden Taten strafrechtlich nicht verfolgt werden.

Werden diese Defizite gerade jetzt in der Corona-Pandemie besonders sichtbar?

Defizite in der Digitalisierung lassen sich während Corona überall in Deutschland feststellen. Also ja: leider auch bei der Verfolgung von sexueller Gewalt gegen Kinder im Netz. Dieses Defizit setzt sich dann auch fort, was die Polizeiarbeit bei der Bekämpfung von Cyberkriminalität angeht. Andererseits haben wir die Situation im Netz, dass die Straftaten dadurch transparenter werden, als wenn Missbrauch hinter verschlossener Wohnungstür stattfindet. Jetzt sieht man, wieviel sexuelle Cyberkriminalität tatsächlich passiert – aber tatsächlich wird zu selten eingegriffen. Deutschland muss die Strafverfolgung im Netz endlich mit der gleichen Intensität betreiben, wie im analogen Bereich.

Jedem Missbrauch, der auf einer Festplatte gesichtet wird, geht ein realer Missbrauchsfall voran.

Das ist auch das, was die Polizei immer umtreibt. Die Auswertungen dauern noch zu lange, um mehr Tätern habhaft zu werden. Das liegt auch an den Verschlüsselungstechniken, die Täter inzwischen einsetzen. In Nordrhein-Westfalen sind inzwischen 300 Beamtinnen und Beamte mehr zur Bekämpfung von sogenannter Kinderpornografie eingesetzt und das hat schon zu großen Ermittlungserfolgen geführt.

"Durch Lockdown, Homeschooling und weniger Freizeitaktivitäten seien die Kinder den Gefahren im Internet vermehrt ausgesetzt. Gleichzeitig seien auch mehr Täter durch den Lockdown im Netz aktiv", lese ich aus dem Bericht und auf der anderen Seite sagt Ihr Kollege Holger Münch vom Bundeskriminalamt, dass man keinen direkten Zusammenhang zwischen den gestiegenen Fallzahlen und der Pandemie herstellen könne. Wie passt das zusammen?

BKA-Präsident Münch hat recht. Die Polizeiliche Kriminalstatistik beinhaltet viele Taten aus dem Jahr 2019, also auch noch vor der Pandemie. Aber zum Beispiel hat Europol Zahlen veröffentlicht, nach denen sich im ersten Corona-Lockdown in Europa insgesamt der Konsum von Missbrauchsabbildungen um rund 30 Prozent gestiegen ist.

Eine erschreckende Entwicklung.

Es ist auch das, was mir Expertinnen und Experten berichten, die sich mit Tätern während der Pandemie beschäftigten: Menschen konsumieren mehr Kinderpornografie, weil sie zum Beispiel keine andere Freizeitablenkung haben. Die, die manisch immer weiter im Netz in diesen perfiden Plattformen unterwegs sind, steigern ihren Konsum während Corona also noch.

Andererseits berichten Jugendämter, dass die Corona-Restriktionen dazu führen, dass Gewalt gegen Kinder in Familien noch schwerer zu sehen ist. Wenn Kinder nicht in die Schule gehen, fehlen ihnen Bezugspersonen, mit denen sie vertrauensvoll sprechen können. Kinder und Jugendliche, die von sexueller Gewalt betroffen sind, vertrauen sich häufig ihren Lehrerinnen und Lehrern an oder geben Signale. Und genau diese Kontrollinstanz fehlt momentan.

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Wir haben aktuell eine Justizministerin, die gleichzeitig auch Familienministerin ist. Finden Sie es erstaunlich, dass für die nächsten mindestens fünf Monate eine Frau gleich zwei Ministerien leiten soll?

Diese Entscheidung der Bundesregierung habe ich nicht zu kommentieren. Ich traue Frau Lambrecht diese temporäre Herausforderung zu. Es ist eine Frage der Organisation. In der Vergangenheit gab es immer wieder Fälle, in denen für eine Übergangszeit zwei Häuser von einem Regierungsmitglied geleitet wurden.

Sehr diplomatisch ausgedrückt. Welche Empfehlungen haben Sie im Rahmen Ihrer Veröffentlichung ans Familienministerium geschickt – und wie sah die Reaktion der neuen Interimsministerin aus?

Ich stehe mit dem Familienministerium immer in engem Kontakt. Meine Zielrichtung war heute aber eher der Bundestag der nächsten Legislaturperiode. Mir wäre wichtig, wenn der Bundestag eine starke Enquête-Kommission einsetzt. Dort sollten Datenschützer*innen, Kinderschützer*innen, Cyberkriminolog*innen und Ermittler*innen, Vertreter*innen der großen Online-Unternehmen und Gamingplattformen, aber auch Bildungsexpert*innen und Medienpädagog*innen zusammen eine Grundsatzstrategie zur Bekämpfung sexueller Gewalt im Netz erarbeiten und gemeinsame Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft aussprechen. Alle politischen Parteien und alle gesellschaftlichen Akteure müssen dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der analogen und digitalen Welt der Kinder eine noch viel höhere Priorität beimessen.

Welcher Punkt wird dabei besonders wichtig sein?

Wir müssen gemeinsam klären, an welchen Stellen der Datenschutz möglicherweise Kinderschutz verhindert, aber auch, an welchen Stellen Datenschutz Kinderschutz stärker unterstützen kann. Niemand will im Moment an die End-to-End-Verschlüsselung bei den Messengerdiensten ran. Wir müssen auch hier Lösungen finden, weil Missbrauchstäter diese Verschlüsselung mit Kusshand nutzen und über Whatsapp und Co. Missbrauchsabbildungen austauschen. Natürlich wollen wir weiterhin unser aller Privatsphäre sichern, aber wir müssen Antworten für einen konsequenten Kinderschutz im Netz finden – und das können wir nur alle gemeinsam.

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 (kostenfrei & anonym)
(für Betroffene und alle, die sich Sorgen um ein Kind machen oder Fragen zum Thema haben)
Hilfeportal Sexueller Missbrauch: www.hilfeportal-missbrauch.de
(mit Datenbank mit Hilfeangeboten vor Ort)

Verwendete Quellen
  • PKS 2020:
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