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Sexualisierte Gewalt im Bistum Münster: "Die Taten wurden mit Gott legalisiert"


Sexualisierte Gewalt im Bistum Münster
"Die Taten wurden mit Gott legalisiert"


13.06.2022Lesedauer: 3 Min.
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Felix Genn, der Bischof von Münster (Archivbild): Er will sich erst am Freitag zu den Studienergebnissen äußern, bat in einem Statement jedoch um Entschuldigung. (Quelle: Rüdiger Wölk/imago-images-bilder)

Die Ergebnisse der Studie zu sexualisierter Gewalt im Bistum Münster sind erschreckend – aber nicht überraschend, meint Sara Wiese. Die Missbrauchs-Betroffene sieht ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Am Vormittag stellten Historiker der Universität Münster ihre Studie zu Missbrauchsfällen im katholischen Bistum Münster zwischen 1945 und 2020 vor. Die Ergebnisse sind erschreckend: Rund 610 Opfer sind aktenkundig, die Dunkelziffer dürfte bei bis zu 6.000 Betroffenen liegen. Es habe "regelrechte Serientäter" unter den Klerikern gegeben. Zudem habe das Bistum jahrelang von Fällen gewusst – und die Taten vertuscht.

Sara Wiese ist selbst Betroffene. Im Interview mit t-online erklärt sie, warum die Studie so wichtig ist – die Ergebnisse sie aber dennoch nicht überrascht haben.

t-online: Frau Wiese, was bedeutet Ihnen diese Studie?

Sara Wiese: Für mich als Betroffene sind diese Tage unglaublich aufregend. Die Studie zeigt, was an systemischem und persönlichem Versagen im Bistum zustande gekommen ist. Dass durch das Versagen der Bistumsleitung über Jahrzehnte hinweg sexualisierte Gewalttaten ermöglicht wurden. Und trotzdem zeigt sie nur die Spitze des Eisbergs. Grundsätzlich ist die Dunkelziffer bei sexualisierter Gewalt extrem hoch, das ist auch in der katholischen Kirche so.

Etliche Fälle waren dem Bistum bekannt, die Betroffen sprachen in der Studie jedoch statt von Aufklärung sogar von einer Retraumatisierung durch Kirchenvertreter.

Das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung nicht berichten. Aber was die Studie klar benennt und was sich mit meinem Austausch mit anderen Betroffenen deckt: Die Bistumsleitung hat weggeguckt. Es wurden eher die Täter und die Institution Kirche geschützt als die Betroffenen.

(Quelle: Sara Wiese)


Sara Wiese kommt aus Recklinghausen. Sie ist Sozialpädagogin und Betroffene von sexualisierter Gewalt im Bistum Münster, in ihrer Ursprungsfamilie und in anderen Zusammenhängen. Die 39-Jährige nahm selbst an der Studie teil und engagiert sich in einer Betroffenen-Initiative.

Bischof Felix Glenn sagte in einem Statement, er könne nicht erwarten, dass Betroffene eine Bitte um Entschuldigung annehmen würden. Trotzdem formulierte er eine solche. Wie bewerten Sie die Haltung des Bischofs?

Wir hatten uns eine Bitte um Entschuldigung ein Stück weit verbeten. Wir haben genug Floskeln gehört. Trotzdem fand ich das, was er gesagt hat, angemessen. Man muss jetzt abwarten, welche Konsequenzen er zieht, sobald er die gesamte Studie kennt. Natürlich muss er auch eine persönliche Verantwortung tragen – ich kenne Betroffene, die sich einen anderen Umgang seinerseits gewünscht hätten.

Sie fordern weitere Aufklärung. Sehen Sie dabei die Verantwortung allein beim Bistum oder auch bei der Politik?

Sowohl als auch. Das Bistum hat eine große Verantwortung, aber auch die Politik darf nicht länger wegschauen. Es kann nicht sein, dass weiterhin gesagt wird, das sei Sache der Kirche, da mischt sich die Politik nicht ein. Deswegen ist ein unabhängiger Blick von außen so wichtig.

Die Studie zeigt ein deutlich größeres Ausmaß der sexualisierten Gewalt im Bistum als bisher bekannt war. Hat sie das überrascht?

Nein. Ich habe mit der Vertuschung durch die Bistumsleitung gerechnet, und dementsprechend auch mit ähnlichen Zahlen wie sie nun die Studie zeigt.

In meiner jüngsten Kindheit und über die Jugend hinaus habe ich sexualisierte Gewalt auch außerhalb der Kirche erfahren. Ich engagiere mich schon seit einigen Jahren in der Betroffenenarbeit, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche. Vertuschung und höhere Zahlen als gedacht sind bei sexualisierter Gewalt Gang und Gäbe – das ist aber in der nicht-kirchlichen Gesellschaft nicht anders als in der Kirche.

Also handelt es sich nicht um ein kirchenspezifisches Problem?

Grundsätzlich ist es kein kirchenspezifisches Problem, nein. Aber es kam bei vielen Betroffenen dazu, dass die Taten mit Gott legalisiert wurden, also mit der Begründung: Gott will das so. Priester oder Bischöfe wurden von vielen als heilige Männer gesehen, und ein heiliger Mann tut so etwas nicht. Dadurch wurden solche Gewalttaten einfacher möglich als in anderen Institutionen.

Nichtsdestotrotz gibt es ähnliche Machtverhältnisse auch anderswo. Die Kirche hat natürlich eine höhere moralische Verantwortung, weil sie sich mit einer besonderen moralischen Wertung darstellt. Aber sexualisierte Gewalt darf nirgendwo geduldet werden.

Frau Wiese, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Sara Wiese am 13.06.2022
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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