Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das sollte uns beunruhigen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
mehr als 130 Tote und 150 Verletzte, viele in kritischem Zustand. Das Grauen von Moskau ist schwer zu ertragen. Terroristen hatten dort am Freitagabend mit Maschinengewehren, Messern und Brandbomben gemordet. In einem Konzertsaal, kurz bevor eine Rockband spielen sollte. Die Opfer und Angehörigen werden noch lange brauchen, bis es für sie wieder so etwas wie eine Tagesordnung geben kann.
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Wladimir Putin hingegen ist schnell wieder zu seiner persönlichen Tagesordnung übergegangen. Als Russlands Präsident sich am Samstag zu Wort meldete, deutete er sofort eine Spur in die Ukraine an. Die Täter hätten versucht, mithilfe Kiews dorthin zu fliehen, behauptete er. Sein Geheimdienst FSB unterstützte ihn eifrig, sprach von "Kontakten" in die Ukraine.
Dabei ist nach allem, was man weiß, etwas anderes richtig: Es war der IS. Genauer gesagt der Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan". Es gab Bekennerschreiben in allen einschlägigen Kanälen mit den eingeübten IS-Sprachcodes. Die Tatverdächtigen stammen aus Tadschikistan. Und es gab Warnungen westlicher Geheimdienste, die Putins Regime offenbar nicht ernst genommen hat. "Alle Belege deuten auf den IS hin", sage nicht ich, sondern der Terrorismusexperte Peter Neumann im Gespräch mit meinem Kollegen David Schafbuch.
Warum streut Putin also die Ukraine-Fährte? Weil der angeblich so starke Mann im Kreml bei seinem großen Versprechen versagt hat: sein Volk zu beschützen. Und er sein Versagen wenigstens noch dafür nutzen will, seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Putin missbraucht den Terror in Moskau, um Moskaus Terror in der Ukraine zu rechtfertigen. Völlig skrupellos.
Putin hat anschließend Luftangriffe auf Kiew fliegen lassen. Seine Armee hat in mehreren Regionen Kraftwerke und Leitungen beschossen, damit die Menschen keinen Strom mehr haben. Ein russischer Marschflugkörper ist am Sonntagmorgen 39 Sekunden lang über Polen geflogen, also im Luftraum der Nato. Etwas länger, und er wäre abgeschossen worden.
Die Lage ist ernst, in der Ukraine, in Europa, und ja, auch in Deutschland. Doch als der grüne Vizekanzler Robert Habeck vergangene Woche auf einer Veranstaltung das Offensichtliche aussprach, waren manche empört. Habeck sagte, mit dem Angriff gegen die Ukraine sei "der Landkrieg" zurückgekommen nach Europa. Wir seien darauf "nicht vorbereitet" und müssten das schleunigst tun, uns vorbereiten.
Darf er denn so was sagen? Landkrieg? Und wir: nicht vorbereitet? Natürlich darf er das sagen. Er muss sogar. Weil es offensichtlich manchen wachrüttelt. Und vor allem, weil wir uns in einer Demokratie nur im Gespräch darüber verständigen können, was aus dieser schmerzvollen Erkenntnis folgen soll.
Das Problem: Es ist nicht nur der Landkrieg, auf den wir nicht vorbereitet sind. Vor einigen Tagen veröffentlichten die Bundestagsabgeordneten aus dem Parlamentarischen Kontrollgremium eine gemeinsame Erklärung. Das kommt nicht oft vor, und trotzdem hat der Text nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die er verdient hätte. Politikerinnen und Politiker von SPD, Grünen, FDP und Union kontrollieren in dem Gremium für den Bundestag die deutschen Nachrichtendienste. Sie sind deshalb sehr gut informiert. Und sie formulieren eine deutliche Warnung.
Deutschland stehe "im Mittelpunkt russischer Einflussoperationen", schreiben sie. Russland versuche aktiv auf verschiedenen Ebenen "illegitim auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einzuwirken". Mit "massiver Spionage", mit Cyberangriffen, mit Desinformationskampagnen bis hin zur Beeinflussung von Wahlen. Die "Tragweite der Bedrohung" sei bisher weder von allen politisch Verantwortlichen noch von der Gesellschaft erkannt worden.
"Auch die Bundesregierung muss diese Problematik deutlich ernster nehmen", sagte der Vorsitzende des Gremiums, Konstantin von Notz. Ein Grünen-Politiker, der damit also seine eigene Regierung kritisiert. Das sollte uns beunruhigen. Und zum Handeln treiben.
Wir müssen wachsamer sein. Wir müssen wehrhafter sein. Und wir müssen reden. Nämlich als Gesellschaft darüber, was das für uns hier und jetzt bedeutet.
Termine des Tages
Krisendiplomatie: Außenministerin Annalena Baerbock reist zu Gesprächen nach Ägypten, Israel und in die palästinensischen Gebiete. Sie trifft am Montag den ägyptischen Außenminister Samih Schukri, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und Außenminister Riad Malki. Ein Gespräch mit ihrem israelischen Kollegen Israel Katz ist für Dienstag geplant.
Baerbock forderte von Israel und der islamistischen Hamas ein Einlenken bei den Gesprächen in Katar und "eine sofortige humanitäre Feuerpause". In Doha sollte am Wochenende über eine befristete Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln verhandelt werden.
Schlichtung: Die Verhandlungen im Tarifkonflikt für die rund 25.000 Beschäftigten des Lufthansa-Bodenpersonals beginnen. Schlichten sollen Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow und der frühere Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise.
Kanzlergespräch: Olaf Scholz stellt sich in Brandenburg an der Havel im Rahmen seiner Gesprächsreihe den Fragen der Bürgerinnen und Bürger.
Historisches Bild
1911 schufteten viele Menschen in New Yorker Ausbeuterbetrieben. Dann geschah ein Unglück. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Joe Biden steckt in einem Dilemma. Der Krieg im Gazastreifen gefährdet seine Wiederwahl. Denn einigen wichtigen Wählergruppen gefällt seine Haltung nicht, berichtet unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.
Wladimir Putin fordert Rache für den Terroranschlag von Moskau. Wie wird der Kreml nun reagieren? Historiker Jan C. Behrends warnt im Gespräch mit Kollege Marc von Lüpke vor einer Eskalation.
Die deutsche Nationalelf begeistert drei Monate vor dem Start der EM. In Frankreich befeuerte sie die Euphorie. Manch einer beginnt mit Träumereien, berichtet Kollege Benjamin Zurmühl aus Lyon.
Augenschmaus
Kafka? Ein genialischer Misanthrop mit wunderlichen Texten, was will er von mir? So ungefähr dachte ich, als mein Lehrer uns in der Schule kurze Geschichten des Schriftstellers zu interpretieren aufgab. Gut gemeint von ihm, denke ich heute, aber Kafka-Lektüre und didaktische Lernziele vertragen sich nicht sonderlich. Für mich jedenfalls nicht. Vielleicht ging es Ihnen ähnlich.
Erst etwas später im Studium entdeckte ich Franz Kafka neu, einen anderen Kafka. Ich las Reiner Stachs große, dreibändige Biografie und parallel die Romanfragmente und vielen Geschichten (ich hatte Zeit). Stach beschreibt den oft witzigen, lebensfrohen Kafka, der viel schwimmt, reist, trinkt und, nun ja, andere Dinge tut, die Menschen so tun.
Genau diesen Kafka bringt nun eine ARD-Miniserie ins Fernsehen. Basierend auf Reiner Stachs Biografien und geschrieben vom großartigen Autoren Daniel Kehlmann. "Oh doch, es gibt Hoffnung. Unendlich viel Hoffnung!", sagt Kafka darin zu seinem Freund Max Brod. "Aber nicht für uns." Eine echte Kafka-Pointe, wenn Sie mich fragen. Schauen Sie doch mal rein.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen eine hoffnungsvolle Woche. Am Dienstag schreibt mein Kollege Daniel Mützel für Sie.
Ihr Johannes Bebermeier
Politischer Reporter
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Mit Material von dpa.
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