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Demografischer Wandel: Warum Deutschlands Pflegekassen Milliarden fehlen


Tagesanbruch
Da kann einem heiß und kalt werden

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.07.2025 - 07:03 UhrLesedauer: 7 Min.
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Seniorin in Dresden. (Quelle: imago images)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

morgens erhebe ich mich wie ein Kran aus rostigem Eisen. Jeder Handgriff ein knarrendes Rätsel, jeder Schritt ein tastendes Zwiegespräch mit dem Boden. Das Badezimmer liegt nur sechs Schritte entfernt – ich zähle sie jedes Mal: sechsmal auftreten, drei Pausen, ein Zittern am Türrahmen. Er hält mich. Oder halte ich ihn? Manchmal bewegt sich alles, dann wird mir ganz schummrig. Dann höre ich Geräusche, von denen ich nicht weiß, ob sie draußen oder in mir klingen.

Die Hüfte schmerzt wieder – nicht reißend, sondern wie ein uralter Rhythmus, der immerzu pocht, leise, aber unnachgiebig. Die Hände sind geschwollen, die Finger steif wie morsches Holz. Sie gehorchen nur noch widerwillig, als wollten sie mir etwas heimzahlen. Ich habe viel getan in meinem Leben – geackert, gepflegt, gekocht, geschrieben. Und jetzt? Brauche ich zehn Minuten, um die Knöpfe am Kleid zu schließen.

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Der Körper ist zu einem Feind mit gebieterischer Stimme geworden. Er kündigt Schmerzen an wie ein Folterknecht: So, heute ist die Schulter dran! Oder: Heute nehmen wir uns das Becken vor! Ich nehme Tabletten, jede birgt ein anderes Versprechen. Manche halten Wort, die meisten nicht. Neulich blieb der Löffel im Kartoffelbrei stecken, weil die Hand nicht mehr will. Manchmal vergesse ich, dass ich früher stark war. Dass ich schwimmen, tanzen, rennen, ein Kind auf der Hüfte tragen konnte. Ich habe viel gearbeitet, so viel. Hab jahrzehntelang keine Mühen gescheut, wir hatten ja viel weniger früher. Es waren harte Jahre nach dem Krieg. Später wurde es besser, aber Arbeit gab es immer von früh bis spät. Die Welt stand uns offen.

Heute ist meine Welt auf wenige Quadratmeter zusammengeschrumpft. Vom Bett zum Sessel, vom Sessel zum Tisch, vom Tisch zurück ins Bett. Der Rest der Wohnung ist Kulisse, wie auf einer Theaterbühne, die für ein Stück gebaut wurde, das nicht mehr gespielt wird. Die Treppe vor dem Haus ist zur Mauer geworden. Ich habe sie einmal überwunden – mit Hilfe, mit Mühe, mit Schmerzen – und dann nie wieder.

Die Welt da draußen ist zur Bühne geworden, die ich nur noch vom Fenster aus beobachte. Der Bus fährt, ich winke. Niemand winkt zurück. Die Kinder, die Enkel – sie haben ihre eigenen Geschichten, ihre eigenen Probleme, ihre eigenen Kalender. Sie fehlen mir. Sie fehlen mir so sehr.

Ich bin nicht immer traurig, aber das ständige Schwinden setzt mir zu. Die Welt zieht sich zurück wie ein Wellensaum, Zentimeter für Zentimeter. Keine Reisen mehr, keine Märkte, kein Theater. Das Fenster ist mein Horizont, der Flur ist ein anderer Kontinent. Gespräche führe ich mit mir selbst oder mit der Stimme aus dem Radio. Das Telefon klingelt nicht mehr, Besucher auch nicht. Die Einsamkeit kriecht nicht plötzlich herein – sie war schon da, als ich noch dachte, sie gehe gleich wieder.

Ich bin nicht undankbar. Ich habe gelebt, geliebt, gelacht – so sehr, dass mir die Tränen kamen. Habe Kinder geboren und Freunde beerdigt. Habe das Glück manchmal sogar erkannt, als es da war. In meinem Kopf ist seit einiger Zeit mehr Platz als früher, das muss das Alter sein, 85 Jahre sind kein Pappenstiel. Aber manchmal fliegen mir plötzlich Erinnerungen zu: der Sommer am Meer, das salzige Haar des Kindes auf meinem Schoß, der lange Kuss im Abendlicht, der gar nicht enden wollte. Das Leben war so prall – voller Glück, voller Unglück und mit Fehlern wie Kiesel in der Tasche: Man spürt sie, aber sie gehören dazu. Irgendwann werde ich sie nicht mehr spüren. Der Tod sitzt schon neben mir auf der Couch.

Aber noch bin ich hier. Ich atme. Ich erinnere mich. Ich hoffe, dass jemand kommt und noch einmal meine Hand hält, ohne Grund, einfach so. Eine kleine Berührung, nur noch einmal! Und wenn mein letzter Blick hinausgeht auf den Baum vor dem Fenster, dann soll der Abschied leicht sein. Bitte, bitte, lass ihn leicht sein!

Ich darf Sie beruhigen, liebe Leserin und lieber Leser, ich bin nicht über Nacht um Jahrzehnte gealtert und ich habe auch nicht kurzerhand das Geschlecht gewechselt. Aber weil der Tagesanbruch ein in jeder Hinsicht besonderer Morgen-Newsletter ist, habe ich versucht, mich in einen alten Menschen hineinzuversetzen. Das mögen Sie für geglückt oder für daneben erachten, vielleicht haben Sie ja auch schon viele Jahrzehnte hinter sich und können viel besser beschreiben, wie es sich anfühlt, mit schwindenden Kräften zu leben.

Aber wir Jüngeren können es nicht so einfach. Wir sausen atemlos durch den Alltag und sehen nur das Jetzt. Da geht es Journalisten nicht anders als Fließbandarbeitern oder Politikern. Das ist verständlich, weil das Hier und Heute genügend Anforderungen stellt, wenn man mit beiden Beinen im Leben steht und von A nach B eilt. Aber es verstellt auch den Blick für Probleme, die in der Zukunft liegen.

Oder wie sonst ist es zu erklären, dass Politik, Medien und überhaupt der größte Teil der arbeitenden Bevölkerung die offensichtlichen Herausforderungen des demografischen Wandels ignorieren? Weil die deutsche Bevölkerung rapide altert, werden hierzulande schon bald nicht nur Abertausende Ärztinnen und Ingenieure, Programmierer und Kindergärtnerinnen, Bau- und Sozialarbeiter fehlen, wir bekommen auch ein eklatantes Finanzproblem: Bei der Pflegeversicherung klafft eine Milliardenlücke, warnt der Bundesrechnungshof anlässlich der gegenwärtigen Beratungen über eine weitere Pflegereform. In ihrem Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestags rechnen die staatlichen Rechnungsprüfer schon für das Jahr 2026 mit einem Defizit von 3,5 Milliarden Euro, bis 2029 wird das Minus auf 12,3 Milliarden Euro wachsen. Hauptgrund: die "unerwartet stark" steigende Zahl der Pflegebedürftigen. Ende 2024 waren hierzulande schon 5,6 Millionen Menschen pflegebedürftig – 400.000 mehr als im Vorjahr. Dieses Jahr steigt die Zahl weiter.

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Wirft man einen realistischen Blick auf die staatliche Finanzplanung, kann einem als Steuerzahler heiß und kalt werden: Ohne tiefgreifende Reformen – und davon ist bislang nichts zu sehen – wird der Bundeshaushalt schon in wenigen Jahren überwiegend für Rente, Militär und Pflege aufgebraucht. Der Betrag für nachhaltige Investitionen – Bildung und Forschung, Klima- und Artenschutz, Digitalisierung und Infrastruktur – wird dagegen immer kleiner. Zumal der Schuldenspielraum ausgereizt ist und der Bund zweistellige Milliardenbeträge an Zinsen für alle die Sondervermögen berappen muss.

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Deutschland verzehrt seinen eigenen Wohlstand: So kann man das sehen. Das ist allerdings nicht die Schuld alter oder pflegebedürftige Menschen. Eher muss man die Frage stellen, ob Politiker in den vergangenen Jahren zu leichtfertig Wahlgeschenke verteilt und zu oft leichte statt steiniger Wege eingeschlagen haben.

Wie es auch anders geht, davon können uns Senioren berichten: Wer noch die Nachkriegszeit, den harten Wiederaufbau und die Wirtschaftswunderjahre erlebt hat, kann erzählen, wie es ist, mit wenig auszukommen und trotz widrigster Umstände ein florierendes Land aufzubauen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir Jüngeren den Älteren besser zuhören. Dann sind sie auch weniger allein.

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Demaskiert

Apropos Politiker: Seit der Untersuchungsbericht zu den Masken-Deals des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) in der Corona-Pandemie vollständig offenliegt, hat die Diskussion darüber an Schärfe gewonnen. Insbesondere die Fragen, ob der heutige Unions-Fraktionsvorsitzende über seine persönliche Einbindung in die Kaufverhandlungen gelogen hat und ob die aktuelle Amtsinhaberin Nina Warken ihren Parteifreund mit den ursprünglichen Schwärzungen schützen wollte, beschäftigen die Politik. Während Grüne und Linke zur Aufarbeitung der Vorgänge einen Untersuchungsausschuss fordern, bevorzugen Union und SPD eine Enquete-Kommission, die weniger Befragungsrechte hätte.

Heute kommt zunächst einmal die Verfasserin des Berichts, Sonderermittlerin Margaretha Sudhof, zu einem Fachgespräch in den Haushaltsausschuss des Bundestags. Und die noch vom zwischenzeitlichen SPD-Ressortchef Karl Lauterbach eingesetzte Juristin, deren Arbeit von der Union reflexhaft als "parteipolitisch motiviert" geschmäht wurde, erhält Rückendeckung: In einem Bericht für den Haushaltsausschuss rügt auch der Bundesrechnungshof die "massive Überbeschaffung" von Schutzausrüstung. Zudem ist Sudhofs Sondergutachten nach Einschätzung von Juristen dazu geeignet, den Bund in laufenden Verfahren vor Milliardenzahlungen zu bewahren. Es wird ungemütlich für Jens Spahn.


Länger streiten

Ein bisschen Entspannung: US-Zirkusdirektor Donald Trump rudert im Streit mit der EU zurück und verschiebt die Einführung noch höherer Zölle auf den 1. August. So bekommen die Unterhändler mehr Zeit. Derzeit wird auf EU-Importe in die USA ein Zoll von 10 Prozent fällig, Medikamente und andere Pharmaprodukte sind ausgenommen. Für Autos und Autoteile gilt ein erhöhter Satz von 25 Prozent, auf Stahl- und Aluminiumprodukte werden sogar 50 Prozent erhoben. Wie sich diese Margen im Mai auf den deutschen Außenhandel ausgewirkt haben, gibt das Statistische Bundesamt heute bekannt.


Spiel zwei

Jetzt zählt's: Nach dem Ausfall von Kapitänin Giulia Gwinn, die sich in der Auftaktpartie gegen Polen am Knie verletzte, hoffen die DFB-Frauen heute Abend gleichwohl auf den zweiten EM-Sieg. Wenn es um 18 Uhr in Basel gegen Dänemark geht (live bei ARD, DAZN und im Liveticker auf t-online), steht besonders Carlotta Wamser im Blickpunkt: Die 21-jährige künftige Leverkusenerin soll Gwinn auf der Position der Rechtsverteidigerin vertreten. Das Kapitänsamt übernimmt Janina Minge vom VfL Wolfsburg. Unsere Reporterin Kim Steinke wird aus Basel berichten.


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An der deutsch-polnischen Grenze macht eine Bürgerwehr Probleme. Was ist ihr Ziel und wer steckt dahinter? Mein Kollege Julian Alexander Fischer erklärt es Ihnen.



Zum Schluss

Ich wünsche Ihnen einen genussvollen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Johannes Bebermeier.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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